Soziale Mindeststandards
Die sozialen Grundrechte der Menschen in der EU sollen gleich auf mehreren Ebenen geschützt werden: Verfassungen der Mitgliedsstaaten, die Charta der Grundrechte der EU und die Sozialcharta des Europarates enthalten Artikel wie das Recht auf Arbeit, das Recht auf eine Wohnung oder das Recht auf Sozialschutz.
Doch trotz dieser verbrieften Grundrechte sind weiterhin Millionen Menschen in der EU von umfassender gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen. Dies hat leider System: Die EU ist derzeit so ausgestaltet, dass die Mitgliedsstaaten gegeneinander konkurrieren – um die niedrigsten sozialen Standards und die niedrigsten Steuersätze für Unternehmen und Kapital.
Alle wollen im Standortwettkampf ihre Exportquoten erhöhen und immer mehr Güter auf globale Märkte exportieren. Die Verlierer sind die Beschäftigten, Arbeitslosen, die jungen Menschen sowie die heutigen und zukünftigen Rentnerinnen und Rentner. Mit der Bankenkrise, deren finanzielle Bewältigung von den Regierenden auf die unteren und mittleren Schichten in der EU abgewälzt wurde, hat sich diese Situation weiter verschlimmert.
Die Spar- und Deregulierungspolitik der Troika verletzt systematisch die sozialen Grundrechte der Menschen in den Krisenstaaten, wo mit öffentlichen Geldern große Banken vor Spekulationsverlusten gerettet wurden. Die Folge: Fast 27 Millionen Menschen in der EU sind heute arbeitslos. 25 Prozent der Menschen in der EU – das sind über 124 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürger! – gelten offiziell als arm. Besonders betroffen sind Kinder und Frauen oder gesellschaftliche Gruppen wie Einwanderer und Roma (90 % der ca. 10 bis 12 Millionen Roma in der EU leben laut EU-Grundrechteagentur unterhalb der Armutsschwelle).
Die Freizügigkeit, ein grundlegendes Freiheitsrecht jedes einzelnen Menschen in der EU, wird wegen der fehlenden universalen sozialen Mindeststandards von Unternehmen dazu missbraucht, arme Menschen etwa aus Osteuropa mit Dumpinglöhnen auszubeuten. Die Skandale, etwa aus der Fleisch-Industrie, sind bekannt. Die gleichen konservativen Parteien, die seit Jahren die Einführung von Mindeststandards bekämpfen, hetzen gegen solche Einwanderer als angebliche „Sozialtouristen“, weil sie deutsche Hungerlöhne mit Hartz 4 aufstocken müssen.
Die Konservativen fordern eine neue Mauer in der EU – diesmal gegen arme Menschen. Ein weiteres Beispiel: Das EU-Wettbewerbsrecht wird schon seit Jahren dazu genutzt, Löhne oberhalb von Mindestlöhnen oder Streiks gegen die Ausflaggung von Fährschiffen zum Zwecke der Lohndrückerei als Verstöße gegen die Unternehmensfreiheit in der EU zu werten! – siehe die EuGH-Urteile in den bekannten Fällen Viking, Laval, Rüffert, Luxemburg. Jetzt droht dieser Zustand sich noch weiter zu verschlimmern: Die Geheimverhandlungen zwischen der EU-Kommission, Wirtschaftslobbyisten und den USA über ein Freihandelsabkommen (TTIP) soll Schutzklauseln für Investoren beinhalten. Großkonzerne könnten im Extremfall die EU verklagen – weil zu hoher sozialer Schutz die Gewinne schmälern könnte!
Individuelle Freiheit für alle Menschen kann es ohne soziale Sicherheit und Teilhabe nicht geben. Soziale Grundrechte werden erst dann Wirklichkeit, wenn sie durch verbindliche soziale Mindeststandards jedem Menschen individuell einklagbar garantiert werden. Armut, Ausbeutung und der rechtspopulistischen Hetze gegen angebliche „Sozialtouristen“ wird damit ein Ende bereitet.
Die EU muss den Mitgliedsstaaten gar keine einheitlichen Vorschriften machen. Nationale Gepflogenheiten und Traditionen sollen und können gewahrt bleiben. Das Europäisches Parlament und der Rat müssen lediglich den Rahmen und die Ziele festlegen. Beispiele: EU-weite Mindestlöhne in Höhe von 60 % des jeweiligen nationalen Durchschnittslohns schieben Lohndumping einen Riegel vor und beugen Altersarmut vor. Weder Einheimische noch Einwanderer können dann ausgebeutet werden.
EU-Vorgaben für sanktionsfreie Mindesteinkommen oberhalb der Armutsschwelle beenden die Einkommensarmut und ermöglichen den betroffen Menschen die Rückkehr in das gesellschaftliche Leben. Mindestrenten garantieren den Menschen auch im Alter ein Leben ohne Not. Der Zugang zu sozialen Dienstleitungen von hoher Qualität – sei es die Kita oder die Pflegeeinrichtung – muss garantiert werden.
Mindeststeuersätze für Unternehmen, Vermögen, Kapitaleinkommen und Ressourcenverbrauch sorgen dafür, dass sich der Konkurrenzdruck insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen (KMU) verringert und gleichzeitig die öffentliche Hand ausreichende Einnahmen hat. So könnten soziale Mindeststandards in der EU gegen die weitere Spaltung in den und zwischen den Mitgliedsstaaten wirken, für mehr Freiheit und mehr wirtschaftliche Stabilität. Dies wäre ein erster wichtiger Schritt hin zur Sozialunion und zur Verwirklichung der längst versprochenen sozialen Grundrechte in der EU.