Zahlen können nicht lügen? Wieso der Ratsvorschlag zum Mehrjährigen Finanzrahmen das Gegenteil beweist
Hintergrundbeitrag zur Abstimmung über den Finanzrahmen 2014-2020 (Update 12.3.)
Seit gut einem Monat liegt den EU-Abgeordneten der Kompromiss der Staats- und Regierungschefs der EU zur Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) 2014-2020 vor. Es ist bekannt, dass das EU-Parlament den Haushalt der Europäischen Union bestätigen muss. Was für die jährlichen Haushalte gilt, betrifft ebenso den neuen, auf sieben Jahre ausgerichteten Finanzrahmen. Ob sie der Übereinkunft des Gipfels vom 8. Februar 2013 über die zukünftige Finanzausstattung der EU ihren Segen geben oder nicht, entscheiden die Abgeordneten diese Woche (Debatte und Abstimmung am Mittwoch, 13. März zwischen 9 und 13 Uhr).
Was auf den ersten Blick als dröges Expertenthema erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als zentrale Weichenstellung über die Zukunft der Union. Doch die Bewertungen über den unter Mühen erreichten Kompromiss gehen weit auseinander. Während DIE ZEIT in ihrer Berichterstattung zum Ratsgipfel vom 8. Februar von einem soliden Brückenschlag spricht („So schlecht ist der Deal nicht.“), zeigt sich der französische Konservative Alain Lamassoure wenig begeistert: Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses des Europäischen Parlaments brandmarkte die Beschlüsse des Rates während einer Sitzung des Ausschusses als „friedlichen Staatsstreich“. In dieselbe Kerbe schlägt Parlamentspräsident Martin Schulz, der die Drohung aufrechterhält, den neuen MFR nötigenfalls durch die Verweigerung seiner Unterschrift persönlich und gegen eine Mehrheit seines Hauses zu blockieren. Schulz spricht von einem „rechtswidrigen“ Kompromiss, den er nicht mittragen könne.
Wie kommen die beiden Europapolitiker zu diesen vernichtenden Urteilen? EU-Parlament und Kommission traten für eine Aufstockung des neuen Finanzrahmens ein. Wichtige „Geberländer“ der EU wollten Etat-Kürzungen durchsetzen; für die britische Regierung liegt der erreichte Deal am Rande des Akzeptablen. Doch gehört das Mittragen von Kompromissen – seien sie auch bisweilen schwierig und unbequem – nicht eigentlich zu den Grunderfordernissen demokratischer Entscheidungsfindung? Tatsächlich: Der EU-Rat hat seine ursprünglichen Kürzungsvorschläge nicht in Gänze durchsetzen können. Das Europäische Parlament hat im Gegenzug seine Forderungen nach einem völligen Verzicht auf Kürzungen am Finanzrahmen aufgeben müssen.
Doch trotzdem ist das, was hier als Kompromiss daherkommt – ganz wie DIE ZEIT es auf den Punkt bringt – bei Licht betrachtet nicht mehr als ein Deal, und aus Sicht des Parlaments ein denkbar schlechter noch dazu! Nicht nur hat der Rat alle weiteren Vorschläge und Forderungen des Parlaments – nachzulesen im Bericht des Sonderausschusses „SURE“ vom Sommer 2011 – sämtlichst ignoriert. Die Finanzpläne der Regierungen hinterlassen wesentlich mehr neue als gelöste Probleme. Worüber die Abgeordneten am 13. März entscheiden, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung tatsächlich als durch und durch unsolider Deal.
Neue Aufgaben, offene Rechnungen – Unterfinanzierung im aktuellen Finanzrahmen
Stichwort Unterfinanzierung: In einer ersten Aussprache der Abgeordneten am 18. Februar haben sich Kommissionspräsident Barroso und Ratspräsident Van Rompuy bemüht, die Abgeordneten von den Vorzügen des Gipfel-Deals zu überzeugen. Zustimmung konnten die beiden jedoch einzig bei den Fraktionsvorsitzenden der europafeindlichen Konservativen Fraktion ECR sowie bei der rechtsextremen EFD-Fraktion ernten. Während daneben einzig die Vizepräsidentin der Linksfraktion GUE/NGL sich mit der Globalhöhe des Ratsvorschlags zufrieden zeigte, übten alle weiteren Fraktionen scharfe Kritik an der Ausstattung des neuen Finanzrahmens.
Nach langem Ringen haben die Regierungen sich darauf geeinigt, im neuen Haushaltszyklus 88 Milliarden Euro einzusparen. Der neue Finanzrahmen wäre damit von Beginn an eindeutig unterfinanziert – der finanzielle Notstand der EU-Haushalte der vergangenen Jahre würde zum Dauerzustand. Was das Problem der Unterfinanzierung konkret bedeutet, muss den Teilnehmern des Februar-Gipfels jedoch sehr bewusst gewesen sein, spätestens nach den Erläuterungen von Parlamentspräsident Schulz[2] zur Eröffnung des Gipfels: „Wir, die EU-Mitgliedstaaten und das Europäische Parlament, beschließen gemeinsam Projekte und Programme. Diese Entscheidungen sind rechtsverbindlich. In der Folge werden dann wie vereinbart diese Projekte umgesetzt, Verbindlichkeiten eingegangen und Verträge abgeschlossen, z.B. um Infrastrukturprojekte in Ihren Ländern finanziell zu unterstützen. Aber dann weigern Sie sich plötzlich, die auflaufenden Rechnungen zu bezahlen.“
Das Problem ist nicht neu: Seit einigen Jahren müssen fällige Zahlungen regelmäßig auf das Folgejahr verschoben werden. Der EU-Haushalt unterliegt besonderen Regelungen – eine zentrale Besonderheit des Budgets der Union rührt aus dem vertraglichen Verbot zur Schuldenaufnahme. Die Regelung wird äußerst strikt ausgelegt: Am Ende jedes Geschäftstages muss jedes Konto der EU-Institutionen mit mindestens einem Euro gedeckt sein. Die ersten Leidtragenden eines unterfinanzierten Haushalts sind deshalb unmittelbar EU-geförderte Projekte in strukturschwachen Regionen, Landwirte, Erasmus-Studierende, die Beschäftigten der Institutionen, ebenso wie Geschäftspartner oder Zulieferer.
Die prekäre Finanzlage der EU-Institutionen hat sich über immer größer werdende Zahlungsrückstände von Jahr zu Jahr verschärft und ist im vergangenen Herbst offen zu Tage getreten. Martin Schulz an die Adresse der Regierungschefs: „Als Präsident des Europäischen Parlaments habe ich zur Kenntnis nehmen müssen, dass die EU im Oktober 2012 bereits praktisch zahlungsunfähig war. Obwohl die Rechnungen für November und Dezember noch ausstanden, fehlten bereits im Oktober neun Milliarden Euro. (…) Bereits Ende Oktober waren die im Jahr 2012 zur Verfügung stehenden Zahlungen also erschöpft, die EU faktisch pleite, ein Nachtragshaushalt musste dringend verabschiedet werden! Doch von einem Finanzminister wurde mir kühl beschieden: Wir wissen, dass wir diese Verpflichtungen eingegangen sind, aber wir werden die Zahlungen trotzdem nicht leisten.“
Wie kommt es, dass die Union die Zuweisungen der Mitgliedsländer schneller verbraucht als vorgesehen? Zur Beantwortung dieser Frage muss man sich das Prozesshafte der Europäischen Integration verdeutlichen. 2004 ist die Europäische Gemeinschaft um zehn Staaten[3] gewachsen, 2007 mit Rumänien und Bulgarien um zwei weitere, ökonomisch äußerst schwache Länder. 2009 ist der Lissabon-Vertrag in Kraft getreten, der den Startschuss zum kompletten Neuaufbau des Europäischen Auswärtigen Diensts (EAD) gegeben hat. Auch die Rechte und Pflichten des Europäischen Parlaments wurden deutlich ausgeweitet. Faktisch erfüllen können die Abgeordneten ihre Aufgaben dabei natürlich nur, wenn ihnen gleichzeitig angemessene Beratungsdienste, Personal, Räumlichkeiten und IT zur Verfügung gestellt werden. In der Realität hat das Parlament bereits Mühe, seinen Brüsseler Plenarsaal vorm Einsturz zu bewahren.
Auch die im Zuge der Finanzkrise getroffenen Beschlüsse kosten Geld: Die Maßnahmen zur verbesserten Aufsicht über den Finanzsektor hat 2011 die Neueinrichtung dreier Aufsichtsbehörden[4] mit sich gebracht. Die Europäische Kommission soll seit 2011 die Haushalts- und Wirtschaftspolitiken im Euroraum überwachen und koordinieren und gegebenenfalls über Sanktionen bei Verstößen gegen den verschärften Stabilitätspakt entscheiden. Und schließlich wurden die von der Krise am drastischsten betroffenen Länder bei der Beantragung von Europäischen Fördermitteln unterstützt. Zusammengenommen kann es kaum verwundern, dass der 2006 beschlossene Finanzrahmen schnell zu eng wurde, um den Zuwachs an Aufgaben und den erhöhten Bedarf an Personal und Büroraum zu bewältigen!
Der Weg in die Defizitunion – Ab 2014 droht eine neue Dimension der Unterfinanzierung
Bis Ende 2013 wird nach Berechnungen des Europäischen Parlaments eine Deckungslücke von bis zu 19 Milliarden Euro aufgelaufen sein. Diese offenen Zahlungsverpflichtungen werden damit von Beginn an den neuen Finanzrahmen belasten. Um das zu vermeiden hat das Europäische Parlament 2012 dem Haushaltsplan für 2013 nur unter der Bedingung zugestimmt, dass der Rat im Frühjahr 2013 einem Nachtragshaushalt zustimmt, der diese Deckungslücke weitgehend schließt, die EU-Mitgliedsstaaten also zusätzliche Finanzmittel zur Verfügung stellen. Ob der Rat der entsprechenden von Parlamentspräsident Martin Schulz und dem seinerzeitig zuständigen zyprischen Europaminister Andreas Mavroyiannis unterschriebene Erklärung nachkommt, wird sich zeigen müssen. Wenn nicht, dann führt das zu einer zusätzlichen indirekten Kürzung des MFR um weitere 19 Milliarden Euro.
Ein besonderes Problem stellen die Auszahlungsüberhänge – im EU-Sprech „RALs“ (Reste à liquider) genannt. Jedem EU-Mitgliedsstaat steht eine maximale Summe aus den EU-Programmen pro Haushaltsjahr zum Abruf zur Verfügung. Einige Staaten rufen ihren Maximalbetrag allerdings nicht ab. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. In manchen Staaten finden sich nicht ausreichende staatliche oder zivilgesellschaftliche Organisationen, die an diesen Mitteln Interesse haben. Andere Staaten verfügen nicht über die notwendigen Eigenmittel zur Ko-Finanzierung von Projekten, die in der Regel Voraussetzung für die Bewilligung der EU-Fördermittel sind. Ein Problem, das sich angesichts der selbstauferlegten Austeritätspolitik der EU-Mitgliedsstaaten in den nächsten Jahren drastisch verschärfen wird. Hintergrund kann aber auch sein, dass Projektmittel meist nicht deckungsgleich mit einem Haushaltsjahr genehmigt werden oder sich über mehrere Jahre erstrecken.
Der EU-Haushalt unterscheidet deshalb zwischen Zahlungsverpflichtungen und Verpflichtungsermächtigungen. Die EU darf demnach deutlich höhere Finanzierungszusagen machen, als sie tatsächlich an Finanzmitteln von den Mitgliedsländern zur Deckung dieser Zusagen zur Verfügung gestellt bekommt. Im Unterschied zu Zahlungsverpflichtungen, die sich eben immer nur auf ein Haushaltsjahr beziehen (also exakt vom 1. Januar bis zum 31. Dezember jeden Jahres), umfassen Verpflichtungsermächtigungen einen Zeitraum von mehr als einem Haushaltsjahr, um mehrjährige oder später im Jahr beginnende Programme bedienen zu können. Zu Beginn eines mehrjährigen Haushaltszyklus‘ sind die Verpflichtungsermächtigungen normalerweise höher als die Zahlungsermächtigungen: Projekte werden ausgeschrieben, Aufträge erteilt. Zum Ende eines MFR kehrt sich das Verhältnis normalerweise um: Nun werden hauptsächlich Gelder für abgeschlossene Projekte ausgezahlt.
Ruft ein Staat nun – aus welchem Grund auch immer – die ihm zustehende Maximalsumme eines Haushaltsjahres nicht ab, dann verlischt der Anspruch auf den nicht abgerufenen Teil nicht, sondern er wird auf das folgende Haushaltsjahr übertragen und erhöht entsprechend die maximale Zuweisung für das Folgejahr. Die nicht bis zum Ende eines Haushaltsjahres abgerufenen Mittel fließen jedoch an die Mitgliedsstaaten zurück. Sie werden also nicht in das nächste EU-Haushaltsjahr übertragen. Auf diese Weise entstehen immer höhere Zahlungsansprüche, ohne dass dem entsprechende Haushaltsmittel von den Mitgliedsstaaten zur Verfügung gestellt werden, die eine Auszahlung der RALs ermöglichen könnten. EU-Haushaltskommissar Janusz Lewandowski rechnet damit, dass bis Ende 2020 aufgrund dieser Problematik bis zu 250 Milliarden Euro auflaufen. Diesem Problem könnte dadurch begegnet werden, dass der EU-Haushalt endlich mit den notwendigen vom Lissabon Vertrag vorgesehenen Eigenmitteln ausgestattet wird.
Die Deckungslücke des EU-Haushalts steht ohne jeden Zweifel im Widerspruch zu den vertraglichen Grundlagen der Union. Artikel 323 des Vertrags über die Arbeitsweise der Union (AEUV) spricht hier eine klare Sprache: „Das Europäische Parlament, der Rat und die Kommission stellen sicher, dass der Union die Finanzmittel zur Verfügung stehen, die es ihr ermöglichen, ihren rechtlichen Verpflichtungen gegenüber Dritten nachzukommen.“ Mit anderen Worten kann man Martin Schulz keine Übertreibung vorwerfen, wenn er von einem „illegalen“ Gipfelbeschluss spricht.
Abhilfe für Europa durch flexibleres Haushalten?
Trotz dessen liegt der Ratsvorschlag weiter auf dem Tisch und damit die Frage, wie die EU-Institutionen mit der Unterdeckung umgehen werden. Die seriöseste Möglichkeit wäre freilich, die Unterdeckung durch eine ausreichende Aufstockung des Mehrjährigen Finanzrahmens zu beseitigen. Das aber wollen die Mitgliedsstaaten erklärtermaßen nicht, sonst hätten sie den MFR-Vorschlag in seiner vorliegenden Form nicht beschlossen.
Eine andere Möglichkeit, das Problem der Unterdeckung zu lösen, wären entsprechende, deutliche Kürzungen in den verschiedenen Abschnitten des EU-Hauhalts. Dies wäre die zweite legale Lösung, die eine Verschuldung der Union abwenden würde. Dann allerdings kämen zu den Kürzungen, die der MFR-Vorschlag bereits jetzt nominell ausweist, noch einmal zusätzliche, drastische Einschnitte hinzu. Einem ehrlichen Kompromiss, der Bestand haben soll, müsste eine Verständigung über notwendige Einsparungen jedoch vorausgegangen sein. Alles andere wären faule Taschenspielertricks, die eine vertrauensvolle Zusammenarbeit in der Union auf eine harte Probe stellen würden. Weitere Kürzungen würden allerdings die Aufgabe wesentlicher Politikfelder der Europäischen Union zur Folge habe und dürften daher auf massive Widerstände führen. Teils stehen einem solchen Vorgehen allerdings auch bereits eingegangene längerfristige Zahlungsverpflichtungen entgegen. Sie nicht zu bedienen, wäre ebenfalls rechtswidrig!
Als dritte Möglichkeit bliebe der Ausweg in die vertragswidrige Verschuldung der EU, vor der Parlamentspräsident Schulz eindringlich warnt: „Beschreiten wir den aktuellen Weg weiter, geraten wir zwangsläufig auf die abschüssige Bahn einer Defizitunion. Das ist eine absurde Situation: Wir kämpfen hart, um auf nationaler Ebene aus der Schuldenfalle rauszukommen – und auf Europäischer Ebene laufen wir sehenden Auges hinein.“
Die bislang geltenden Finanzregeln verbieten nicht nur die Verschuldung der EU-Institutionen. Sie sehen auch vor, dass nicht verausgabte Restmittel aus einem ablaufenden Haushaltsjahr nicht in das Folgejahr übertragen werden dürfen. Jegliche Restmittel müssen am Ende jedes Haushaltsjahres zurück an die Mitgliedsstaaten gezahlt werden. Der Union war es demnach bisher rechtlich nicht möglich, Rücklagen aufzubauen, um möglicherweise abzusehende Mehrbedarfe in späteren Haushaltsjahren einer Planungsperiode auffangen zu können oder um Mittel von einer Haushaltslinie in eine andere zu übertragen. Es fehlt also schlicht an Flexibilität im EU-Haushalt.
Deshalb hatte das Europäische Parlament bereits 2011 in seiner Resolution zum Mehrjährigen Finanzrahmen (SURE-Bericht) mehr Flexibilität innerhalb und zwischen den einzelnen Haushaltsrubriken gefordert. Der Rat hat dafür aber nur wenig Sympathie übrig. In Artikel 102 des Ratsbeschlusses zum MFR heißt es lediglich: „Die Union muss imstande sein, auf – interne oder externe – außergewöhnliche Umstände zu reagieren. Gleichzeitig muss das Erfordernis der Flexibilität gegen den Grundsatz der Haushaltsdisziplin und der Transparenz der EU-Ausgaben einschließlich der vereinbarten Ausgabenhöhe abgewogen werden. Daher wird in den MFR das folgende Flexibilitätsinstrument eingebaut: Innerhalb der Rubrik 2 wird eine neue Reserve für Krisen im Agrarsektor geschaffen, die der Unterstützung des Sektors bei größeren Krisen dient, die sich auf Erzeugung und Vermarktung landwirtschaftlicher Erzeugnisse auswirken. Es liegt in der Natur von Flexibilitätsinstrumenten, dass sie nur bei Bedarf in Anspruch genommen werden.“ Weiter heißt es in den Ratsbeschlüssen vom Februar: „Es wird eine spezifische und größtmögliche Flexibilität angewandt, um Artikel 323 AEUV nachzukommen, damit die Union ihre Verpflichtungen erfüllen kann. Dies wird Bestandteil des Mandats sein, auf dessen Grundlage der Vorsitz die Beratungen mit dem Europäischen Parlament gemäß Nummer 11 voranbringen wird.“ (Artikel 109) Mit den Anforderungen des Parlaments nach mehr Flexibilität haben diese „Zugeständnisse“ allenfalls semantisch zu tun.
Doch denkbar wäre auch eine ganz andere Perspektive, die die Union aus dem Dauerkampf zwischen Nettozahlern und Nettoempfängern führen und gleichzeitig eine angemessene Finanzierung der Institutionen mit der notwendigen haushaltstechnischen Flexibilität gewährleisten könnte. Letztlich steht der Gipfelkompromiss vom 8. Februar auch sinnbildlich für eine kontraproduktive und mehr als gestrige Fixierung auf nationale Egoismen und Sonderinteressen. Aus Sicht des EU-Parlaments kann die Union nur aus dieser Logik ausbrechen, wenn sie ihre Finanzierung auf neue Grundlagen stellen kann.
In den Anfangsjahren haben sich die Gemeinschaftsinstitutionen aus eigenen Einnahmen – Zöllen, Zuckerabgaben, Einkommenssteuern der Beamten, Strafzahlungen bei Kartellverstößen sowie aus einem Anteil der Mehrwertsteuern – finanziert. Diese traditionellen Eigenmittel decken angesichts der gewachsenen Aufgaben der Union derzeit nur noch 25% Prozent des EU-Haushalts ab. Eine Ergänzung der Eigenmittel, etwa durch die Zuführung der Einnahmen aus der Finanztransaktionssteuer in den Gemeinschaftshaushalt oder auch durch eine Revision des Mehrwertsteueranteils, würde die Mitgliedsstaaten von einem Großteil ihrer aktuellen jährlichen Beitragszahlungen befreien, die – wie gesagt – so von den EU-Verträgen nicht vorgesehen sind sind. Damit einhergehen würde aber auch das Ende der Machtspielchen der Nettoeinzahler, wie sie derzeit auf die Spitze getrieben werden.
Endlich genügend Mittel für Wachstum und Beschäftigung ?
Zurück zum vorliegenden MFR-Kompromiss: Eines ist bereits klar – Die darin nominell ausgewiesenen Kürzungen spiegeln keineswegs die realen, mit einer Annahme verbundenen Kürzungen wider! Wo wären im Falle einer Zustimmung des Parlaments die drastischsten Kürzungen zu erwarten? Wie würde sich die Unterfinanzierung konkret in den einzelnen Haushaltsabschnitten auswirken?
Werfen wir zunächst einen Blick in die Bereiche, deren zentrale Bedeutung derzeit niemand abstreiten dürfte: Bereits aus der Nummerierung sollte der politische Stellenwert des Haushaltsabschnittes „1a“ hervorgehen. So erscheint es auch zunächst als positiv, dass der Rat all jene Programme, die unter das „Sub-Heading Competitiveness for Growth and Jobs“ fallen, mit (im Vergleich zum aktuellen MFR) zusätzlichen 34 Milliarden Euro ausstatten will, also mit nun insgesamt 125,614 Milliarden Euro. Eine Aufstockung, die allerdings deutlich hinter den Forderungen der Kommission zurückbleibt, die weitere 38 Milliarden EUR für angebracht hielt.
Weiterhin sind drei Großprojekte neu in diesen Haushaltsabschnitt eingefügt worden, die bislang außerhalb des EU-Haushalts direkt über zwischenstaatliche Absprachen von den Mitgliedsstaaten finanziert wurden. Die Eingliederung von GALILEO, ITER und GMES[5] in den EU-Haushalt ist zwar aus Gründen der Transparenz und demokratischen Rechenschaftspflicht zu begrüßen – für den EU-Haushalt bzw. die für Wachstum und Beschäftigung zur Verfügung stehenden Töpfe bedeutet dieser Schritt jedoch eine zusätzliche Belastung von 12,8 Mrd. Euro.[6] Während die Aufstockung des Haushaltsabschnitts für Wachstum und Beschäftigung damit beinahe um die Hälfte geringer ausfällt als es auf den ersten Blick erscheint, gilt für den Gesamthaushalt: „Weniger Mittel, mehr Aufgaben.“ Der Umgang mit GALILEO & Co erhöht die faktischen Kürzungen des Haushalts auf über 100 Mrd. Euro und verdeutlicht bereits die Augenwischerei, die der Rat mit dem Gemeinschaftshaushalt betreibt.
Noch haarsträubender muten jedoch die Spielchen an, die mit Haushaltsabschnitt 1b „Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“ betrieben werden! 29,7 Milliarden Euro weniger – also nur mehr 325,149 Milliarden Euro – soll die Union in Zukunft aufwenden, um gleichwertige Lebensverhältnisse in Europa herzustellen. Die Regierungen haben munter den Ball der Kommission aufgenommen, und deren Kürzungsvorschlag noch einmal um 13,9 Mrd. Euro überboten. Einer „verdoppelten Kürzung“ stehen wesentliche Mehrausgaben gegenüber.
Der Etat für Kohäsionspolitik: Eine Ansammlung von Luftschlössern
Ein Beispiel: Der sogenannte „Hilfsfonds für Arme“ (genauer: „Hilfen für Menschen in besonderen Notlagen“ bzw. „Aid to the Most Deprived“) soll u.a. die Versorgung Obdachloser und in Armut lebender Kinder mit Lebensmitteln finanzieren. Das Hilfsprogramm soll von 3,5 Milliarden auf 2,5 Milliarden Euro gekürzt werden. Soweit so schlecht – die Mittel sollen nun allerdings nicht mehr wie bisher aus dem Agrarhaushalt kommen, sondern aus dem ohnehin bereits zusammengestrichenen Haushaltsabschnitt 1b. Mit anderen Worten: Zu den direkten Kürzungen für Kohäsionsprogramme von knapp 30 Milliarden Euro muss eine „versteckte“ Kürzung über 2,5 Mrd. Euro hinzu addiert werden.
Soziales Gewissen wollten die Regierungen mit einer 6 Mrd. Euro schweren Jugendbeschäftigungsinitiative („Youth Employment Initiative“) demonstrieren. Ein richtiger Schritt angesichts der traurigen Höchststände jobsuchender junger Menschen in Europas Süden, sollte man meinen! Einziger Haken: Während 3 Mrd. Euro aus dem ebenfalls dringend notwendigen Europäischen Sozialfonds abgezweigt werden sollen, ist die Finanzierung der fehlenden 50 % noch offen. Den Fachpolitikern in Parlament und Kommission wird es überlassen, durch Umschichtungen zu Lasten bisheriger Kohäsionsprogramme die Versprechen der Regierungen zu sichern.
Der Rat gibt vor, mit der Jugendbeschäftigungsinititative ein neues Instrument zugunsten junger Erwerbsloser geschaffen zu haben. Doch tatsächlich gab es auch bisher bereits Programme zur Bekämpfung von Erwerbslosigkeit. Anstatt für diese Programme zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen, wird nun lediglich ein Teil der bereits zuvor für Arbeitsmarktprojekte vorgesehenen Gelder mit einer Zweckbindung zu Gunsten junger Menschen versehen. Ein Vorgehen, das mit „Etikettenschwindel“ noch freundlich umschrieben ist.
Doch ist es nicht eigentlich verwunderlich, dass die Regierungen jener Länder, deren Lebensstandard mehr denn je von der Förderung mit Europäischen Kohäsionsmitteln abhängt, einem Kompromiss zugestimmt haben, der eben jene Mittel drastisch reduziert? Tatsächlich schien es lange, als ob Großbritannien, Deutschland, die Niederlande, Österreich, Schweden, Finnland, Italien und Frankreich (die so genannten „friends of better spending“) mit ihren Forderungen nach einem Europäischen Sparhaushalt nicht viele Freunde unter den Regierungen hätte. Im Zuge des Tauziehens um den neuen Finanzrahmen hatten sich schließlich jene Mitgliedsländer, die eine Kürzung der Kohäsionsfonds verhindern wollten, unter dem Titel „Friends of Cohesion“ zusammengetan.[7] Ein erstaunlicher Vorgang, umso mehr als die „Freunde der Kohäsion“ gar die Unterstützung des EU-Parlaments suchten.
Was aus dem Machtkampf unter den EU-Regierungen geworden ist, lässt sich in den Beschlüssen des MFR-Gipfels[8] unter der Überschrift „Other special allocation provisions“ („Sonstige Bestimmungen über Sonderzuweisungen“) nachvollziehen. Um die kurzweilig rebellierenden Empfängerländer ruhig zu stellen, wurden den von der Krise besonders gebeutelten Mitgliedsländern kurzerhand Sonderhilfen zugesagt. Der Haken dabei: Auch diese Gelder sollen dem Haushaltsabschnitt 1b, d.h. den Mitteln für Kohäsionspolitik, entnommen werden und gehen damit letztendlich zu Lasten der regulären Kohäsionspolitik. Summiert man all diese Zweckbindungen und Umschichtungen, lässt sich die Tiefe der Löcher erahnen, die in den bisherigen Programmlinien ab 2014 klaffen werden.
Direkte und indirekte Kürzungen im Haushaltsabschnitt 1b im Überblick:
Ratsvorschlag: 325,149 Mrd. Euro
Direkte Kürzung gegenüber MFR 2007/20013: 29,666 Mrd. Euro
Indirekte Kürzungen
+ Nothilfen aus GAP: 2,5 Mrd. Euro
+ Jugend-Job-Initiative: 3,0 Mrd. Euro
+ „special allocations“: 19,0 Mrd. Euro
Summe direkte und indirekte Kürzungen: 54,166 Mrd. Euro
Angesichts der immer weiter auseinander gehenden Schere in der EU, sowohl innerhalb der Mitgliedsländer, als auch zwischen ihnen[9], sind die Kürzungen im Haushaltsabschnitt für wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt nichts anderes als ein Skandal. Um Strukturreformen sozial abzufedern aber vor allem um die in der Krise angesammelten Wohlstandsverluste aufzuholen, wäre es ein Gebot der Stunde, den Kohäsionsetat deutlich aufzustocken. Stattdessen aber werden die Kohäsionsmittel ihr Ziel, den Zusammenhalt der EU zu stärken, verfehlen. Die Kürzungen versprechen, die Union sozial, ökonomisch und politisch zu zerreißen.
Auch Landwirte und Umweltprojekte sollen bluten
Wie sieht es in den übrigen Haushaltsabschnitten aus? Könnte man die Löcher im Kohäsionsetat nicht einfach durch eine schlankere Verwaltung oder eine Reform des Agrarhaushaltes stopfen? Tatsächlich wurden die umfassendsten Kürzungen zu Lasten der Europäischen Landwirte vorgenommen. Haushaltsabschnitt 2 „ Nachhaltiges Wachstum – natürliche Ressourcen“ soll ab 2014 mit 47,5 Mrd. Euro weniger auskommen, also mit nur mehr 373,179 Milliarden Euro. Auch hier gingen den Regierungen die Kürzungsvorschläge der Kommission nicht weit genug. Der Gipfelkompromiss kürzt den Agrarhaushalt um zusätzliche 16,8 Mrd. Euro. Mehr Geld soll es nach dem Willen der EU-Regierungen für die gemeinsame Justiz- und Sicherheitspolitik geben. Haushaltsabschnitt 3 „Security and Citizenship“ („Unionsbürgerschaft, Freiheit, Sicherheit und Recht“) wurde um 3,3 Mrd. Euro auf jetzt 15,686 Milliarden Euro aufgestockt – halb so stark wie von der EU-Kommission gefordert. Begründet wird die Aufstockung mit den Kosten einer besseren Absicherung der Außengrenzen der EU – insbesondere gegen unerwünschte Einwanderung.
Die drei genannten Haushaltsabschnitte machen gemeinsam über 90 Prozent des EU-Haushalts aus. Mit anderen Worten: Der überwältigende Teil des Unionshaushalts wird für Investitionen in Forschung, Beschäftigung, Infrastruktur, Umweltschutz, Landwirtschaft und Sicherheit verwandt. All diese Mittel fließen unmittelbar zurück in die Mitgliedsländer – insbesondere in ländliche, abgelegene oder strukturschwache Regionen, die angesichts von wirtschaftlichem Wettbewerb und der Abwanderung junger Menschen keine Zukunftsperspektiven hätten ohne die Unterstützung der Europäischen Gemeinschaft. Neben diesen Löwenanteilen fließen weitere vier Prozent in die gemeinsame Entwicklungs- und Außenpolitik der EU, sowie sechs Prozent in Ausgaben für Personal und Verwaltung. Zu 90 Prozent ist der EU-Haushalt also ein Investitionshaushalt!
Zu den verbleibenden zehn Prozent: Haushaltsabschnitt 4 „Globales Europa“, d.h. Ausgaben für Projekte der Europäischen Entwicklungszusammenarbeit und der gemeinsamen Außenpolitik, soll nach dem Gipfelkompromiss eine Aufstockung um 1,9 Mrd. Euro auf dann 58,704 Milliarden Euro erfahren. Eine bescheidene Summe, bedenkt man, dass die Kommission weitere (über den Gipfelkompromiss hinausgehende) 11,3 Mrd. Euro gefordert hatte. Für die Verwaltung der eigenen Strukturen – Haushaltsabschnitt 5 „Verwaltung“ – wollen die Regierungen 4,5 Mrd. Euro mehr als im laufenden Haushaltszyklus ausgeben, also 61,629 Milliarden Euro. Die Zusagen der Regierungen bleiben damit 1,5 Mrd. Euro unter den Zahlen, die die Kommission zur Deckung von Personal-, Gebäude- und Sachkosten für notwendig hielt.
Auch nach 2014 kommen zu den regulären Posten des EU-Haushalts weitere gemeinsame Finanzinstrumente, die von den Mitgliedsstaaten jedoch außerhalb des EU-Haushalts auf zwischenstaatlicher Ebene finanziert werden:
- Eine Reserve für Notfallhilfen (Emergency Aid Reserve), die von 2 Mrd. auf 2,2 Mrd. Euro erhöht wird. Die Kommission hatte eine Aufstockung auf 2,45 Mrd. Euro vorgesehen.
- Der Europäische Fonds für die Anpassung an die Globalisierung (European Globalisation Adjustment Fund) wird mehr als deutlich reduziert, von 3,6 Mrd. auf nur noch 1,2 Mrd. Euro. Die Kommission hatte eine Redzierung auf 3 Mrd. Euro vorgeschlagen.
- Der Solidaritätsfonds der Europäischen Union (European Union Solidarity Fund) soll ebenfalls um knapp die Hälfte zusammengestrichen werden: Von 7,15 Mrd. sollen im neuen Zyklus nur noch 3,95 Mrd. Euro bleiben – auch hier eine massive Unterschreitung des Vorschlags der Kommission, die eine vorsichtige Absenkung auf 7 Mrd. Euro vorsah.
- Alleine das Flexibilitätsinstrument soll vergleichsweise großzügig ausgestattet werden – die Erhöhung von 1,4 Mrd. auf 3,7 Mrd. Euro übertrifft dabei sogar den Vorschlag der Kommission (3,5 Mrd.). Dabei ist die Aufstockung nicht ohne Logik, bedenkt man, dass das „Flexibility Instrument“ alleine dazu dient, unvorhergesehene Lücken in anderen Haushaltstöpfen zu stopfen.
Die beschriebenen Kürzungen im EU-Haushalt werden von den Regierungen der Mitgliedsstaaten mit den Verpflichtungen der Haushaltskonsolidierung sowie weg brechenden Steuereinnahmen in Folge der Krise begründet. Die Verweise sind nicht falsch. Doch gleichzeitig sollte nicht vergessen werden, dass die neuerdings verschärften Regeln zur Begrenzung der öffentlichen Verschuldung ursächlich von eben jenen Regierungen betrieben wurden, die nun auf Sachzwänge aus Brüssel verweisen. Ähnliches gilt für die Auswirkungen der Anpassungsprogramme, die die von der Krise betroffenen Länder zur Umsetzung maßlos überzogener Sparauflagen zwangen und dazu führen, dass Europa heute als einzige Region in der Welt in einer tiefen Rezession steckt. Die um ihre Popularität besorgten Regierungen der Europäischen Geberländer haben Europa in einen wirtschaftlichen Schrumpfprozess gestoßen, der durch das Zusammenstreichen des Gemeinschaftshaushaltes noch einmal an Dynamik gewinnen würde. Während nationale Egoismen allerorts die Oberhand gewinnen, wird immerhin im Europäischen Parlament der Ruf nach Wachstumsimpulsen und einer solidarischen Entlastung der Krisenländer, etwa durch Eurobonds oder einen Schuldentilgungsfonds, lauter.
Im Überblick: Nominelle und tatsächliche Kürzungen im MFR
Ratsvorschlag MFR-Gesamtsumme 2014-2020: 908,4 Mrd. Euro (Zahlungsermächtigungen)
Direkte Kürzung: 85,3 Mrd. Euro (gegenüber MFR 2007-2013)
+ Solidarfonds*: 3,1 Mrd. Euro (gegenüber 2007-2013)
Summe: 88,4 Mrd. Euro
Indirekte Kürzungen:
ITER / GALILEO / GMES: 12,8 Mrd. Euro
+ Defizit aus 2013**: 19,0 Mrd. Euro (ca.)
Summe direkte und Indirekte Kürzungen: 120,2 Mrd. Euro
* Emergency Aid reserve, European Globalisation Adjustment Fond, European Union Solidarity Fond, Flexibility Instrument und European Development Fond.
** Das Defizit von ca. 19 Mrd. Euro aus 2013 verringert sich ggf. um die Höhe des vom EP eingeforderten Nachtragshaushalts, wenn der mit zusätzlichen Finanzmitteln ausgestattet (fresh money) und nicht durch Kürzungen bestehender Haushaltspositionen finanziert wird.
Der Rat tritt die Verträge mit Füßen: Die demokratische Dimension der Haushaltsverhandlungen
Doch das Tauziehen um den mittelfristigen EU-Haushalt hat nicht alleine eine wirtschaftliche und soziale Dimension. Hinter den Kulissen geht es auch um die Frage, ob die dem Parlament durch den Lissabon-Vertrag zugestandenen Kompetenzen mit Leben gefüllt werden oder ob die Demokratisierung der EU einen Rückschlag erhält. Tatsächlich agiert der Rat bisher so, als sei noch immer der Vertrag von Nizza in Kraft. Unter dem 2009 durch den Lissabon-Vertrag abgelösten Vertrag von Nizza wurde hinsichtlich der Mitspracherechte des Parlaments unterschieden zwischen Pflichtausgaben und freiwilligen Ausgaben. Unter Nizza durften die EU-Abgeordneten alleine mitreden, so lange es um freiwillige Ausgaben ging. Mit der Vertragsrevision 2009 wurde dieses demokratische Manko aufgehoben und dem EU-Parlament das Mitspracherecht über den gesamten EU-Haushalt zugesprochen. Eine zentrale demokratische Errungenschaft, die erstmals bei der Erstellung des neuen Mehrjährigen Finanzrahmens voll zum Tragen kommt.
Nach geltender Vertragsgrundlage sind die Kompetenzen der einzelnen Institutionen klar geregelt. Der Vertretung der Regierungen, also dem Rat, obliegt es, die Gesamtsumme des Finanzrahmens, einschließlich der Höhe der Jahreshaushalte sowie der Aufteilung der Gelder auf die einzelnen, oben beschriebenen Haushaltsabschnitte (die sogenannten „Headings“) festzulegen. Dieser Gesamtrahmen muss in seinen Details nicht mit dem Parlament ausgehandelt werden. Die Regierungen leiten ihren Vorschlag dem Parlament zur Abstimmung zu. Die Abgeordneten nehmen den Regierungsvorschlag an, oder sie lehnen ihn ab. Im EU-Jargon wird dieses Prozedere (irreführenderweise) als Konsensverfahren bezeichnet.
Alle über diesen Globalrahmen hinausgehenden Details des Haushaltsplans unterliegen gemäß Lissabon-Vertrag einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren, nämlich dem inzwischen für die meisten Bereiche regulären Mitentscheidungsverfahren. Der EU-Kommission obliegt es also einen Vorschlag über die einzelnen Posten des Haushalts, über Programme, Vergabekriterien usw. zu erarbeiten. Die Kommissionsvorlage ist daraufhin Gegenstand der internen Meinungsbildung in Parlament und Rat, die ihre Positionen jeweils per Mehrheitsentscheidung festlegen. Daran schließen sich Verhandlungen, bei denen alle drei EU-Institutionen am Tisch sitzen (daraus abgeleitet werden die Verhandlungen auch als „Trilog“ bezeichnet), und deren Ergebnis am Ende des Prozesses in Rat und Parlament bestätigt werden muss.
Soweit zu den in den Verträgen vorgesehenen Verfahren. Bereits ein Blick in die Berichterstattung zu den Gipfelbeschlüssen vom 8. Februar 2013 lässt erahnen, dass sich die Staats- und Regierungschefs bei ihren Verhandlungen großzügig über die vorgesehenen Regeln hinweg gesetzt haben. Stichwort Kofinanzierung von Fördermitteln: Die EU finanziert Projekte in den Mitgliedsstaaten in der Regel nicht komplett, sondern bietet lediglich Zuschüsse. Der Rat hat nun genau festgelegt, welchen Anteil die EU-Mittel an der Gesamtfinanzierung einzelner Programme („Kofinanzierungssätze“) ausmachen sollen.[1] Doch laut EU-Verträge gehört eine solche Entscheidung ins Mitentscheidungsverfahren!
Großzügig bietet der Rat im Gegenzug höhere Zahlungen für Mitgliedstaaten mit vorübergehenden Haushaltsschwierigkeiten an: Der Kofinanzierungssatz soll um 10 Prozentpunkte heraufgesetzt werden, wenn ein Mitgliedstaat Finanzhilfen gemäß Artikel 136 und Artikel 143 AEUV erhält, so dass im Konsolidierungsprozess befindliche nationale Haushalte entlastet werden und gleichzeitig die Gesamthöhe der EU-Förderung beibehalten wird. Von dieser Ausnahme abgesehen, bedeuten die neuen Kofinanzierungssätze für die Mitgliedsländer, dass die EU-Finanzmittel für ein Projekt verringert werden und die Mitgliedsstaaten einen höheren Finanzierungsanteil aufbringen müssen.
Dafür will der Rat all jene Mitgliedsstaaten in Zukunft belohnen, die die Ziele der Strategie Europa 2020 erfolgreich umsetzen. Das soll durch eine nationale leistungsgebundene Reserve, die sich auf 7 % der Gesamtzuweisung beläuft, gewährleistet werden. Absurd ist allerdings, dass die Zuweisung der Reserve erst nach der Leistungsüberprüfung in 2019 erfolgen soll. Für die ersten sechs Jahre des MFR bedeutet diese Art der Reserve dann eine weitere Verknappung der EU-Fördermittel.
Tatsächlich geht der 48-seitige Gipfelkompromiss aber mit all diesen unausgegorenen Detailvorschlägen ohnehin weit über das hinaus, was der Rat laut Lissabon-Vertrag im Konsensverfahren beschließen und dem Parlament vorlegen darf!
Koch und Kellner – Welche Spielräume blieben dem Parlament auf der Basis des Gipfelkompromisses?
Wie wirkt sich das Vorgehen konkret aus? Ein Beispiel: Der vertragswidrige Beschluss des Rates, das Programm für „Hilfen für Menschen in besonderen Notlagen“ dem Haushaltsabschnitt 1b „Wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt“ zuzuordnen, nimmt dem Parlament (angesichts der im Kohäsionsetat klaffenden Löcher) die Möglichkeit, die – ebenfalls vertragswidrig – auf 2,5 Mrd. Euro festgelegte Ausstattung des Fonds nachträglich zu verbessern, obgleich viele Abgeordnete gerade hierfür eintreten. Perfiderweise überlässt es der Gipfelkompromiss dann aber den am Mitentscheidungsverfahren beteiligten Institutionen, über die Gegenfinanzierung des Programms zu entscheiden, d.h. jene Programmlinien auszuwählen, aus denen die dem Hilfsfonds versprochenen 2,5 Mrd. Euro entnommen werden sollen. Gleiches gilt für den Hinterzimmer-Deal, mit dem die rebellierenden Empfängerländer ruhig gestellt werden sollten. Nach dem Kalkül des Gipfels soll sich die Aufgabe der EU-Abgeordneten im wesentlichen darauf beschränken, den Bürgern die leeren Teller an den Tisch zu bringen. Aus der Küche will man das Parlament am liebsten aussperren.
Innerhalb des Regierungsgremiums mag angesichts der internen Gräben und Interessenskonflikte vieles für den vorliegenden, ausgeklügelten Balanceakt gesprochen haben – an der politischen Brisanz eines derartigen Eingriffs in die ureigenste parlamentarische Kompetenz ändert sich dadurch nichts. Bedenkt man daneben, dass über die neuen Verfahren der Haushaltsüberwachung zusätzlich die Parlamente der Mitgliedsstaaten massiv in ihren fiskalpolitischen Gestaltungsspielräumen eingeschränkt werden, kann dieser Umstand nicht hoch genug bewertet werden!
In diesem Zusammenhang sei an die Botschaft erinnert, die 2004 der vertragswidrige Umgang mit den Regeln des Wachstums- und Stabilitätspakts hinterließ. Die damaligen Defizitsünder Deutschland und Frankreich hatten sich im Verbund den eigentlich fälligen Sanktionen entzogen. Ein Präzedenzfall, der wesentlich zum laxen Umgang der übrigen Euroländer mit den gemeinsamen Verschuldungsregeln beitrug. Es ist nicht zu erwarten, dass das EU-Parlament eine einmal vollzogene Aushöhlung seiner Haushaltskompetenzen ohne weiteres rückgängig machen könnte. Doch letztendlich steht bei der Frage, ob die großen Mitgliedsländer einen neuerlichen Präzedenzfall gegen die Verträge schaffen, nicht alleine die Macht des EU-Parlaments als der einzig durch direkte Wahlen demokratisch legitimierten EU-Institution auf dem Spiel. Die Frage, ob in einem politisch höchst komplexen und massiven ökonomischen und sozialen Spannungen ausgesetzten Verbund wie der EU, geltende Spielregeln eingehalten werden, ist letztlich nicht weniger als eine Überlebensfrage der Gemeinschaft selbst.
Abstimmung am 13. Februar: Wagen die Abgeordneten den Konflikt mit den Hauptstädten?
Will das EU-Parlament verhindern, dass Europa sich zukünftig ins Abseits manövriert, hat es die Gelegenheit, dem Finanzdeal des Februar-Gipfels seinen Segen zu verweigern. Doch wie ist die Stimmungslage im Parlament?
Wie eingangs schon erwähnt: In der ersten Aussprache der Abgeordneten am 18. Februar haben sich Kommissionspräsident Barroso und Ratspräsident van Rompuy bemüht, die Abgeordneten von den Vorzügen des Gipfel-Deals zu überzeugen. Zustimmung konnten die beiden jedoch einzig bei den Fraktionsvorsitzenden der Europafeindlichen Konservativen Fraktion ECR sowie bei der rechtsextremen EFD-Fraktion ernten. Während daneben einzig die Vizepräsidentin der Linksfraktion GUE/NGL sich mit der Globalhöhe des Ratsvorschlags zufrieden zeigte, übten alle weiteren Fraktionen scharfe Kritik an der Ausstattung des geplanten Finanzrahmens, aber auch am Vorgehen des Rates.
Trotzdem: Wagen die Abgeordneten es, den Konflikt mit dem Rat offen auszutragen, und wie positionieren sich jene Mitglieder, deren Partei im Heimatland die Regierung stellt? Sicher ist: Der Druck aus den Hauptstädten ist groß. Die von Martin Schulz zunächst angedachte Idee, mit einer geheimen Abstimmung, das Druckpotenzial der Regierungen auf „ihre Abgeordneten“ zu verringern, wurde gerade auf Druck der konservativen Europäischen Volkspartei (EPP), der rechtskonservativ bis nationalistischen ECR-Fraktion sowie der europafeindlich und rechtsextremen EFD-Fraktion verworfen. Auf der anderen Seite: Eine Ablehnung des MFR-Vorschlags im Plenum würde zunächst nicht anderes bedeuten, als dass – bis zur Einigung über einen revidierten Finanzrahmen – der Haushaltsplan 2013 was seine Struktur sowie die Zahlungsverpflichtungen der Mitgliedsländer angeht gültig bliebe. Eine Option, die für Integrationsbefürworter wenig Drohpotenzial böte, ist doch der laufende Haushalt immer noch merklich besser ausgestattet, als ein potenzieller Haushalt 2014 im Rahmen des Wunsch-MFR des Rates.
Für die Grünen plädierte Isabelle Durant in der Aussprache vom 18. Februar gar dafür, die Verhandlungen über den neuen MFR um ein Jahr zu verschieben. Der Vorschlag beruht auf Überlegungen, die 2010/11 im Sonderausschuss zur Mehrjährigen Finanzplanung „SURE“ diskutiert wurden. Einige Mitglieder des Sonderausschusses hatten damals dafür plädiert, die Gültigkeitsdauer der Finanzrahmen an die Legislaturperioden des EU-Parlaments anzugleichen. Dies würde es jeder Legislatur ermöglichen, einen „eigenen“ Finanzrahmen zu verabschieden – zweifellos ein markanter demokratischer Fortschritt.
Viele Zeichen deuten also daraufhin, dass Parlamentspräsident Martin Schulz seine Drohung, die Unterschrift unter den MFR zu verweigern, nicht wahrmachen muss. Wie er können weitere seiner Kollegen und Meinungsführer in Ausschüssen und Fraktionen derzeit frei von parteipolitischer Raison agieren. Doch aller Drohungen und Gedankenspiele zum Trotz bedeutet dies keineswegs, dass das Parlament nicht ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft zeigen würde. So hat der Vorsitzende der liberalen Fraktion („ALDE“) Guy Verhofstadt bei den Beratungen am 18. Februar die Aushandlung einer Sonderklausel ins Spiel gebracht, nach der der Finanzrahmen nach zwei Jahren einer tiefgreifenden Revision unterzogen werden solle. Auch mit weiteren Schritten der Flexibilisierung und die Stärkung der Eigenmittel könnte der Rat das EU-Parlament leicht aus seiner Blockadehaltung holen. Sicher ist nur: Eine Ablehnung des MFR-Vorschlags würde den Ball zurück zu den Regierungschefs spielen und die Tür für einen vertragskonformen MFR erneut öffnen. Ein Parlament, dass sich selbst und seine Wähler und Wählerinnen ernst nimmt, kann den vorliegenden Finanzrahmen nur zurückweisen!
—
[1] a) 85 % für den Kohäsionsfonds; b) 85 % für die weniger entwickelten Regionen in Mitgliedstaaten, deren durchschnittliches Pro-Kopf-BIP im Zeitraum 2007 bis 2009 unter 85 % des Durchschnitts der EU-27 in demselben Zeitraum lag, und für die Regionen in äußerster Randlage; c) 80 % für die weniger entwickelten Regionen in Mitgliedstaaten, die die Kriterien des Buchstabens b nicht erfüllen und die am 1. Januar 2014 im Rahmen der Übergangsregelung des Kohäsionsfonds förderfähig sind; d) 80 % für die weniger entwickelten Regionen in Mitgliedstaaten, die die Kriterien der Buchstaben b und c nicht erfüllen, für alle Regionen, deren Pro-Kopf-BIP für den Zeitraum 2007-2013 weniger als 75 % des Durchschnitts der EU-25 für den Bezugszeitraum betrug, jedoch über 75 % des BIP-Durchschnitts der EU-27 lag, sowie für Regionen nach Artikel 8 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1083/2006, die eine Übergangsunterstützung für den Zeitraum 2007-2013 erhalten; e) 60 % für die Übergangsregionen, auf die die Kriterien des Buchstabens d nicht zutreffen; f) 50 % für die stärker entwickelten Regionen, auf die Kriterien des Buchstabens d nicht zutreffen.
[2] Dieses und die anderen Zitate von EP-Präsident Martin Schulz in diesem Artikel sind dem an alle MdEPs verteilten Manuskript seiner Rede vom 18. Februar 2013 vor dem EU-Rat entnommen. Das Manuskript findet sich (in deutsch) unter folgender Webadresse: http://www.europarl.europa.eu/the-president/en-de/press/press_release_speeches/speeches/sp-2012/sp-2012-march/speeches-2012-march-3.html
[3] Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn und Zypern.
[4] Die Bankenaufsicht EBA (European Banking Authority) mit Sitz in London, die Versicherungsaufsicht EIOBA (European Insurance and Occupational Pension Authority) mit Sitz in Frankfurt und die Wertpapiermarktaufsicht ESMA (European Securities and Markets Authority) mit Sitz in Paris.
[5] GALILEO = der Name des von der EU und der ESA (= European Space Agency) gemeinsam betriebenen Projekts zur Entwicklung und zum Betrieb eines europäischen Navigationssatellitensystems.
ITER = International Thermonuclear Experimental Reactor. Dabei handelt es sich um ein von der EU verantwortetes Projekt zur Entwicklung eines Kernfusionsreaktors, das im EP mittlerweile umstritten ist.
GMES = Global Monitoring for Environment and Security (deutsch: Globale Umwelt- und Sicherheitsüberwachung). Auch dieses Projekt wird gemeinsam von der EU und ESA verantwortet.
Umfassendere Informationen zu diesen drei technischen Großprojekten finden sich auf Wikipedia.
[6] Kostenverteilung im Einzelnen: GALILEO: 6,3 Mrd., GMES: 3,8 Mrd. und ITER: 2,7 Mrd. Euro.
[7] Der Gruppe gehörten die Regierungen aus Bulgarien, Estland, Griechenland, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Portugal, Rumänien, Slovenien, Slovakei und Kroatien an.
[8] „Conclusions of the EU Council“, Brussels 8 February 2013 – EUCO 37/13, § 50ff. Quelle: http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/135379.pdf
[9] Wie zuletzt eindrucksvoll im ersten Europäischen Sozialbericht aus dem Hause von Sozialkommissar Laszlo Andor zusammengefasst: „Employment and Social Development in Europe 2012″.
—
von Jürgen Klute & Hanna Penzer
Jürgen Klute ist Abgeordneter des Europäischen Parlaments für DIE LINKE. Er ist Koordinator der Linksfraktion GUE/NGL im Wirtschafts- und Währungsausschuss, stellvertretendes Mitglied im Haushaltsausschuss und ehemaliges Mitglied im Sonderausschuss zur Mehrjährigen Finanzplanung SURE.
Hanna Penzer ist Politikwissenschaftlerin und Referentin im Abgeordnetenbüro von Jürgen Klute.
Ein besonderer Dank gilt daneben Carmen Hilario und Julia Klaus für ihre Zuarbeit und kritische Durchsicht des Manuskripts!