Martina Michels zu Erwartungen und Wirklichkeiten vor dem EU-Türkei-Gipfel am Montag, den 7. März 2016

Anlässlich des anstehenden nächsten Gipfels zwischen der EU und der Türkei (Montag, 7. März 2016), nimmt Martina Michels zu den drängenden Fragen Stellung, schildert ihre Erwartungen und formuliert Forderungen an die Vertreterinnen und Vertreter der EU in Bezug auf die andauernden Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Im Folgenden findet sich ein Transkript ihrer Antworten, das Video als Ganzes, sowie die Antworten von Martina Michels nochmals als einzelne Videos:

 

1. Welche Erwartung hast Du an den EU-Türkei-Gipfel am kommenden Montag?

Martina Michels: „Die neue strategische Partnerschaft der EU zur Türkei nannte Matthias Krupa im letzten November in der ZEIT, eine Politik zwischen „Panik und Pragmatismus“. Ich bezeichne die gegenwärtige Politik der EU mit der Türkei als „Ablasshandel“.

Die EU-Mitgliedstaaten suchen die Türkei als Partnerin, damit nicht noch mehr Flüchtlinge nach Europa kommen. In der Türkei leben über zwei Millionen Flüchtlinge, die großteils schlecht integriert sind. Hier hat die Türkei Unterstützung verdient. Die Unterstützung muss in Schulbildung und Arbeitsangebote für die Flüchtlinge fließen, statt in die Überwachung von Grenzen, die ohnehin nur die Profite von Schleppern steigern.

Im Gegenzug schweigt die EU zu den gravierenden Menschenrechtsverletzungen gegenüber Kurden, Medien, Wissenschaft. Ich erwarte eigentlich nicht viel (von dem Gipfel). Wenn die Türkei drei Milliarden aus der Flüchtlingsfazilität bekommen soll, dann finde ich, kann es nicht auf der Basis dieses schmutzigen Deals, auf der Basis des Verrats von Menschenrechten geschehen.

Deshalb fordere ich, dass die Verausgabung der Gelder für Integration streng überwacht wird und dass keine Blankoschecks für eine fragwürdige Innenpolitik werden. Deshalb fordere ich, dass die EU klar zu den Menschenrechtsverletzungen in der Türkei Stellung bezieht und damit demokratische Kräfte innerhalb der Türkei stärkt, die letztlich auch für eine gelungene Integration entscheidend sind.“

 

2. Wie bewertet die kurdische Bevölkerung und türkische Opposition das Schweigen der EU-Politik in Sachen Menschenrechtsfragen?

Martina Michels: „Ich war inzwischen dreimal in Diyarbakır und Umgebung im vergangenen halben Jahr. Heute ist erneut eine kleine Delegation unserer Fraktion GUE/NGL dahin aufgebrochen und auch

Heute will die HDP mit Demirtas an der Spitze gegen die Abriegelung in Sur, der Innenstadt von Diyarbakır vorgehen und protestieren. Klar bin ich solidarisch, aber ich habe gesehen und erlebt, dass sich Kurdinnen und Kurden allein gelassen fühlen, weil die EU schweigt.

Wenn man dort bei Menschenrechtsorganisationen ist, bei Anwälten, in Frauenorganisationen, so kommt man als Politikerin hin und als Mensch wieder heraus. Es ist einfach unvorstellbar, unter dieser ständigen Verfolgung und der Sicherheitsaufgebote zu leben. Aussperrungen, Tränengassind Alltag für alle im Südosten der Türkei. Die einfachste Versorgung, selbst die Bestattung der Toten wird zum furchtbaren Problem.

Erdoğan verursacht mit dieser Politik, die sich gegen die militanten Teile der PKK richten soll, real aber auch  gegen die Zivilbevölkerung in den kurdischen Regionen richtet, neue Flüchtlinge. Die EU schaut weg.

Das ist nicht nur furchtbar, es wird immer irrationaler, was die Türkei als Regionalmacht dort treibt gegenüber Kurden im Irak und in Syrien, während lange Zeit der IS freies Geleit bei seiner Ausbreitung erhielt.

Der Lösungsansatz zur Flüchtlingsfrage mit der Türkei ist letztlich eine waghalsige und kurzatmige Politik der EU.“

 

3. Was wird am Montag zwischen der EU und der Türkei verhandelt?

Martina Michels: „Die EU erwartet vom Gipfel: ein weiteres Rücknahmeabkommen. Doch was ist das für ein Lösungsansatz? Das gibt es erstens schon seit 2014. Und es wird nur zu weiteren Rücknahmeabkommen führen, die die Türkei mit Nachbarländern abschließen will. Die Türkei will dabei die Preise bestimmen.

Sie will die drei Milliarden Euro, sie will die Beitrittsverhandlungen  beschleunigen und sie will Visafreiheit haben. Und – der Gipfel ihres Forderungskatalogs – die Türkei will ein stärkeres Eingreifen der Nato auch an der Syrischen Grenze. Überdies hat die Türkei angekündigt, selbst weitere Rücknahmeabkommen dann abschließen. Das Ganze ist immer nur eine Kette, die weder die Konfliktherde, noch die Fluchtursachen in irgendeiner Form austrocknet. Mich interessiert viel mehr, was in Europa nun angepackt werden muss, was die EU jetzt sofort an gemeinsamen Lösungen einer humanen Asyl- und Flüchtlingspolitik bewegen will.

Wir erleben seit Monaten eine EU, die die bei etwas mehr als 1 Million Flüchtlingen immer handlungsunfähig wird. Eine EU, die nur zuschaut, wenn Österreich die Balkanroute verstopft. Eine EU, die nur zuschaut und Griechenland in der Flüchtlingsfrage allein lässt. Die EU, mit vielen reichen Mitgliedsstaaten, müsste bei der Lösung von globalen Herausforderungen vorangehen, statt sich abzuschotten!

Den Flüchtlingen aus der Hölle Syriens, als dem Iran, aus Afghanistan werden Flüchtlinge aus Schwarzafrika folgen, aus Dürrezonen und aus anderen Konfliktregionen. Soll die neue Aufgabe der Nato dann sein, auf Menschen auf der Flucht zu schießen? Glauben die Regierenden in Europa ernsthaft, dass Menschen sich von Grenzen aufhalten lassen?

Bisher arbeitet die EU rhetorisch als auch praktisch nur den Le Pens, Ukip oder der Morgenröte in die Hände, wenn sie so tut als gäbe es keine von  Menschen gemachte globale Fluchtursachen. Flucht ist kein Naturereignis, vor dem man sich zu schützen hätte. Es ist und bleibt eine humanitäre Katastrophe, der man sich stellen muss.

Dieser Türkeigipfel auf dem Level des Dirty Deals ist fast wie ein Nebengleis, wenn man die komplexen Aufgaben sieht, die die EU bei der Beseitigung von Fluchtursachen und der Schaffung legaler Fluchtwege vor sich hätte.“

 

4. Was müsste eine aufrichtige Zusammenarbeit mit der Türkei in der Frage der Flucht und der Nachbarschaftspolitik beinhalten? & 5. Drei Mrd. Euro für die türkische Regierung, ist das überhaupt ausreichend für nahezu zwei Millionen Menschen auf der Flucht?

Martina Michels: „Zur Flucht habe ich einiges schon gesagt. Die Integration soll unterstützt werden, aber kontrolliert. Mir persönlich wäre es lieber, dass  das Geld an internationale Flüchtlingsorganisation geht, die Erfahrung haben, statt an Erdogan, der offenbar gerade von einem neuen osmanischen Reich träumt.

Zu den Beitrittsverhandlungen.  ich bin ganz klar dafür, wenn ich auch den Grund, dass sie wieder aufgenommen wurden, absurd finde… Sie würden die demokratischen Kräfte in der Türkei stärken. Sofort sollten die Menschenrechtskapitel verhandelt werden, Medienfreiheit und die Rechte der politischen Opposition und von Minderheiten. 

Nein, es ist einfach lächerlich, 3 Mrd. Euro für über 2 Millionen Menschen. man kann die Summe ja einmal vergleichen mit den Bankenrettungsfonds der Länder und der EU vor wenigen Jahren.“