Europa wird zum Bittsteller
Warum der Widerstand gegen neoliberale Großprojekte wie das Freihandelsabkommen TTIP wichtig ist. Ein Gastbeitrag von Helmut Scholz.
Berlin wird am 10. Oktober eine starke Demonstration gegen das TTIP-Abkommen erleben. Auch in vielen anderen Städten in der Europäischen Union werden sich Menschen versammeln und ihre Ablehnung dieses neoliberalen Großprojektes zeigen. Und das, obwohl ihnen doch Wachstum und Jobs versprochen wurden. Inzwischen ist jedoch bekannt, dass die EU-Kommission selbst mit dem Verlust von mindestens einer Million Jobs in der EU durch TTIP rechnet.
Am 7. Oktober wurden der EU-Kommission in Brüssel 3.263.920 Unterschriften gegen die Freihandelsverträge TTIP und CETA (EU-Kanada) überreicht, von einer echten Initiative europäischer Bürgerinnen und Bürger innerhalb nur eines Jahres gesammelt, obwohl ihnen die EU-Kommission die offizielle Zulassung ängstlich und kleinlich verweigert hatte. Das sind so deutliche Signale, dass selbst der US-amerikanische Botschafter in Brüssel Gardner kürzlich in kleiner Runde eingestand, den Kampf um die öffentliche Meinung habe man bei TTIP verloren. Das führte aber nicht zum Umdenken, sondern eher zu kritischem Nachdenken über die »Verkaufs«strategie.
Auf die große Kritik an ISDS, dem Sonderklagesystem für Investoren gegen Regierungen, reagierte die Kommission mit einer Namensänderung. Das ISDS-Tribunal heißt jetzt Investitionsgericht, die Anwälte werden nun Richter genannt. Washington zeige sich aber unbeweglich bei zentralen Offensivinteressen der europäischen Seite wie dem Zugang zu Ausschreibungen für öffentliche Beschaffungen, beklagte der französische Handelsminister und versuchte, mit der Drohung eines Verhandlungsabbruchs Druck aufzubauen.
Derweil lehnt sich die amerikanische Seite jedoch entspannt zurück und blickt zufrieden auf den Abschluss des größten und umfangreichsten Freihandelsabkommens der Geschichte, der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) zwischen zwölf Unterzeichnerstaaten. Darunter befinden sich mit Kanada, den USA, Mexiko, Peru, Chile, Japan, Vietnam, Malaysia und Singapur auch zahlreiche bedeutende aktuelle Verhandlungspartner der EU.
Nicht nur für Washington ist TPP damit nun Maßstab und Blaupause für die Verhandlungen mit Brüssel. Es beinhaltet nahezu völlige Einfuhrfreiheit für die Produkte der amerikanischen Agrarwirtschaft, inklusive Gentechnik-Produkten. Klagerecht für Investoren vor Sondertribunalen ohne Berufungsmöglichkeit. Verpflichtung von Internetprovidern, gegenüber ihren Kunden als »Copyright-Polizei« aufzutreten. Laut dem Washingtoner Rechtsprofessor Sean Flynn schränken die TPP-Bestimmungen die Internet-Freiheiten noch stärker ein, als dies bereits im ACTA-Abkommen geplant war, bis es vom Europaparlament 2012 abgelehnt wurde. Eine Verlängerung des Patentschutzes für Pharmakonzerne soll die Herstellung viel preiswerterer Generika verhindern.
Die US-Regierung nennt als erstes Motiv für TPP die Absicherung der amerikanischen »Leadership« im pazifischen Raum. Motiv 2 ist die Hoffnung auf Wirtschaftswachstum. Motiv 3 ist der Export amerikanischer Werte. EU-Verhandlungsführer Ignacio Bercero wird in der bevorstehenden 11. Verhandlungsrunde in Florida auf sehr selbstbewusste Amerikaner treffen. Seine Chefin, Handelskommissarin Cecilia Malmström, scheiterte im September in Washington persönlich bei dem Versuch, den US-Handelsminister Michael Froman zu Zugeständnissen an die EU zu bewegen.
In dieser Situation kam diese Woche das Urteil des Europäischen Gerichtshofes, das den seit 2000 bestehenden Persilschein für ungehinderten Datentransfer EU in Richtung USA im Safe Harbor Abkommen (»sicherer Hafen«) der EU-Kommission mit Washington für unzulässig erklärt und mit sofortiger Wirkung aufhebt. Auch das Europaparlament hatte 2014 die Aussetzung des Abkommens gefordert.
Ungehinderter Datenhandel ist jedoch ein zentrales Offensivinteresse der amerikanischen Konzerne (und Behörden) in den TTIP-Verhandlungen. Europäische Datenschützer stoßen in den USA immer wieder auf kulturelles Unverständnis. Ihre Bedenken hinsichtlich der TTIP-Verhandlungen über das Kapitel zum Digitalen Handel wurden von der EU-Kommission bislang mit Verweis auf Safe Harbor abgetan. Das geht nun nicht mehr. Auch unter dem Aspekt unserer Datenschutzinteressen habe ich erneut den Stopp der TTIP-Verhandlungen gefordert.
Doch die EU-Kommission scheint in Washington als Bittsteller aufzutreten, um ihre eigenen weitgehenden Liberalisierungsinteressen für Dienstleistungen und 98 Prozent aller Güter unter dem Dach von TTIP durchsetzen zu können und über die neue »regulatorische Zusammenarbeit« ihre eigene Stellung gegenüber den Parlamenten massiv zu stärken.
Bei der Demonstration in Berlin gegen TTIP, CETA und TiSA und gegen die ganze Strategie dahinter geht es darum, wie wir künftig leben wollen, um unsere Art der Produktion und der Konsumtion, um unseren Alltag. Bitte kommen auch Sie!