Nora Schüttpelz
Nora Schüttpelz

Aussichten für eine Zwei-Staatenlösung für Israel und Palästina. Gibt es sie und wenn ja, wie?

Auch im Jahr 75 nach der Staatsgründung Israels und 30 Jahre nach den Osloer Verträgen ist der „Nahost-Konflikt“ im engeren Sinne, nämlich die Beziehungen zwischen dem Staat Israel und der palästinensischen Bevölkerung in der Region fern jeder Lösung. Zwar hat Israel seit 2020 die Abraham-Abkommen und weitere „Normalisierungsverträge“ mit anderen arabischen Nachbarstaaten geschlossen (allerdings ohne Einbeziehung der Palästinenser). Eine arabische Partei war 2021/22 Teil einer israelischen Regierung. Doch weder besteht eine tatsächliche Gleichberechtigung der Palästinenser*innen mit israelischer Staatsbürgerschaft noch gibt es Anzeichen für ein rasches Vorankommen oder auch nur eine Wiederaufnahme echter Verhandlungen, um die Besatzung zu beenden. Eher das Gegenteil scheint der Fall, nicht zuletzt, nachdem sich Ende Dezember 2022 erneut eine Regierung unter Benjamin Netanjahu gebildet hat, nunmehr noch deutlicher nach rechts gerückt als alle bisherigen, dafür mit einer relativ komfortablen Mehrheit im Parlament. Auch wenn liberale Israelis seit Wochen gegen eine geplante Justizreform, die das Gleichgewicht der Checks und Balances der Demokratie im Lande ins Wanken bringen würde, auf die Straße gehen, ist das längst kein Zeichen für den Einsatz für Gleichberechtigung und sozialen Ausgleich für alle Bevölkerungsgruppen oder gar für ein Ende der Besatzung.

Eine zwischen den Konfliktpartien ausgehandelte Lösung für zwei lebensfähige, souveräne, demokratische Staaten, die friedlich nebeneinanderleben, mit Jerusalem als geteilter Hauptstadt … das ist die offizielle Position, die die EU vertritt und auch das Europaparlament zuletzt im Dezember 2022 ganz klar betätigt hat. Doch in der Realität scheint sie inzwischen vielen als unmöglich. Einer kürzlich veröffentlichten Umfrage zufolge, ist in der israelischen wie in der palästinensischen Bevölkerung die Zustimmung dafür auf einen Tiefpunkt gefallen verglichen mit den Umfragen seit 2000er Jahren. Palästinenser ziehen eine Zweistaatenlösung einer palästinensisch dominierten knapp vor, jedoch liegt die Zustimmungsrate dazu bei niedrigen 33 zu 30 %. 37% der jüdischen Israelis präferieren einen jüdisch dominierten Staat, 34% zwei Staaten. Noch weniger jedoch könnten sich auf einen gemeinsamen demokratischen Staat festlegen. Beide Bevölkerungsgruppen halten sich jeweils für die explizite Opfergruppe und 90 Prozent der Palästinenser und 63 Prozent der israelischen Juden glauben, daß ihr Opferstatus sie dazu berechtigt, alles zu tun, was eben zum Überleben notwendig ist. Mehr zu dieser Umfrage in Haaretz vom 25/1/2023.

Was dieses Gefühl der „Berechtigung, alles zu tun …“ in der Praxis bedeuten kann, zeigen eindrücklich die Geschehnisse seit dem dritten Januarwochenende 2023, in direkter zeitlicher Nähe zum Holocaust-Gedenktag: Eine Razzia der israelischen Armee auf Terrorismusverdächtigte in einem Flüchtlingslager in Dschenin, bei der zehn Palästinenser getötet und 20 Verletzt wurden, ein Attentat auf Besucher einer Synagoge in der jüdischen Siedlung Neve Yaakov in Ostjerusalem mit sieben Toten, ein weiteres in dem palästinensischen Ostjerusalemer Viertel Silwan, durchgeführt von einem erst 13-jährugen palästinensischen Jungen, der zwei jüdische Bewohner verletzte. Im gleichen Stadtbezirk war zwei Tage zuvor ein 16jähriger in einer Auseinandersetzung mit der Polizei angeschossen worden, an deren er später starb. Dazu Raketenbeschuß aus dem Gaza-Streifen, Bilder von Jubelnden, die Attentäter feierten, und israelische Luftschläge. Noch am Samstagabend beriet das israelische Sicherheitskabinett, Maßnahmen gegen Terroristen, aber auch Kollektivbestrafungen derer Familien: Versieglung und Zerstörung des Wohnhauses des Attentäters, Streichung von Krankenversicherung und Sozialleistungen für Familien von Terroristen, die Möglichkeit von Ausbürgerungen, sofern sie Angriffe unterstützen. Zugleich wurde angekündigt, Siedlungen weiter zu stärken, Genehmigungsverfahren für den Besitz von Feuerwaffen zu beschleunigen und auszuweiten. Ausgeweitet werden Einsätze von Militär, Polizei und Sicherheitsdiensten. Die neue Regierung hatte bereits zuvor den historischen Anspruch des jüdischen Volkes in den Koalitionsrahmenvertrag geschrieben: „Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel […] – Galiläa, Negev, den Golan und Judäa und Samaria.«, heißt es dort. Verhandlungsbereitschaft sieht anders aus. Ob das alles mehr Sicherheit, weniger Gewalt und Haß und mehr Ruhe in die Gesellschaft bringen kann, scheint mehr als fraglich.

Vor dem Hintergrund der langfristigen Entwicklungen, und nur Tage vor dem Ausbruch der jüngsten Gewaltwelle lud unsre Europaabgeordnete Martina Michels, Mitglied der EP-Delegation für die Beziehungen zu Israel, am 24. Januar 2023 zu einer Expertenrunde zu den Aussichten für eine Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina ins Europäischen Parlament in Brüssel ein.  Dr. Yoav Shemer von der Universität Strasbourg präsentierte dabei eine von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderte Studie mit dem Titel „Towards a shared land  – Israel/Palestine 30 years after the Oslo accords“ (Hin zu einem gemeinsamen Land – Israel/Palästina 30 Jahre nach den Oslo-Abkommen“).

Basierend auf 38 Interviews mit israelischen und palästinensischen Multiplikator*innen, untersucht er darin, ob und wie es aus der Sicht von Betroffenen eine progressive Zukunftsvision eines gemeinsam geteilten Landes geben könnte, die nicht auf struktureller Ungleichheit der Bevölkerungsgruppen oder dauerhaftem völkerrechtswidrigem Besatzungszustand aufbaut. Die Anerkennung der Tatsache der aktuellen Ein-Staat-Realität, der fortschreitende de-facto Annektierung, dem völligen Kollaps des Friedenslagers und des Nichthandelns der internationalen Gemeinschaft hieße nicht, so sagt Dr. Shemer-Kunz, diese Realität auch hinzunehmen. Tatsächlich müßten sich die beiden Gesellschaften darauf einlassen, sich langfristig ein Territorium teilen zu müssen. Die gegenseitige Anerkennung der der jeweiligen Erzählung (Holocaust / Nakba) sei dabei ein zentrales Moment und parallel dazu auch die Anerkennung des jeweiligen Rechts auf nationale Selbstbestimmung im Sinne des Völkerrechts.

Nötig sei zudem eine palästinensisch-israelische Partnerschaft, die für gleiche Rechte streitet. Während aktuell in Israel Woche für Woche hunderttauschend und mehr Demonstranten gegen eine Justizreform auf die Straße gingen, die das Land zu einer „illegitimen Demokratie“ umzubauen droht, geht es bei diesen Protesten nur ganz am Rande auch um die verfassungsmäßigen Rechte und legitimen Interessen der palästinensischen Bevölkerung. Kleine Gruppen linker, binationaler Aktivisten nutzen den Protest auch dafür und gegen die illegale Besatzung und den Siedlungsbau. Aber die palästinensische Gesellschaft ist schwach, fragmentiert und isoliert. Die wenigen Städte, in denen beide Gesellschaften zusammenleben, müßten gestärkt werden, so Dr. Shemer. Modelle andernorts, in denen friedensbewahrendes Power-Sharing praktiziert wird und erprobte Werkzeugkästen von gemeinsame Regeln und Konfliktbewältigungsinstrumenten vorhanden sind – wie beispielweise in Nordirland nach dem Karfreitagsabkommen, aber auch wie in der EU –  sollten auch hier als positive Gegenrealitäten unterstützt werden. Freilich sei für all das internationale Unterstützung, aber auch gegebenenfalls politischer oder wirtschaftlicher Druck erforderlich. Allein aus Israel und Palästina heraus, sei der Konflikt nicht lösbar.

Towards a Shared Land: 30 Jahre nach den Oslo-Abkommen ist die 1993 angestrebte Zweistaatenlösung in weite Ferne gerückt. Die Aufteilung von Israel/Palästina scheint weder zeitgemäß, noch realisierbar. Der Report „Towards a Shared Land” eröffnet eine neue Perspektive – weg vom Paradigma der Teilung hin zu einem auf Gleichheit und genuiner palästinensisch-israelischer Partnerschaft basierendem Land.

Download der Studie von der Internetseite des Büros der der Rosa Luxemburg Stiftung in Israel hier.

Es folgte eine rege Diskussion mit Zakia Aqra, Nahostexpertin an der Universität von Peloponnes (Griechenland), MdEP Martina Michels (DIE LINKE.), als Moderator Markus Bickel, Direktor des Auslandsbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv und Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Veranstaltung: Lassen sich die Chancen auf einen gerechten und tragfähigen Frieden trotz der verfahrenen Lage dadurch bewahren, Alternativen (oder Ergänzungen) zur Zwei-Staaten-Formel anzubieten?

Einigkeit bestand darüber, dass sich die Lage auf beiden Seiten weiter verschärft und schließlich in noch größeren Gewaltwellen eskalieren könnte. Die Zunahme von Schießereien, Messerstechereien und Autorammen deutet auf Unruhen im Westjordanland hin, Verhaftungen, Zerstörungen, Räumungen, Siedlungen, Aufstachelung zu extremer Gewalt in Hebron und Dschenin, Bewegungseinschränkungen – sie alle tragen zum Anheizen der Lage bei. Die anhaltende Korruption der PA und die unmenschliche Situation in Gaza sowie die Korruption der Hamas verschlechtern die humanitären und politischen Bedingungen der Palästinenser.

Dabei wurde festgestellt, daß das offizielle Festhalten der EU zur Zwei-Staaten-Lösung durchaus verständlich ist, ist diese doch durch zahlreiche Resolutionen und Erklärung auf UN- und EU-Ebene bekräftigt. Zudem ist es nicht Aufgabe von äußeren Kräften den Konfliktparteien den einen oder den anderen Weg vorzuschreiben. Eine bloße Abkehr der internationalen Gemeinschaft von der Formel der Zwei-Staaten-Lösung, könnte als Akzeptanz des Status Quo wahrgenommen werden und damit möglicherweise den Nahostkonflikt noch weiter marginalisieren. Andererseits ist eine alte Formel als reine Symbolik auch nicht tauglich. Überdies erforderte eine solche Verhandlungslösung eben zwei Verhandlungspartner auf Augenhöhe. Die palästinensische Führung aber sei intern fragmentiert und immer weniger als legitimierte Führung anerkannt. Die Sanktionierung durch die israelische Regierung schwächt sie noch weiter – Israel hatte die PA mit Nichtauszahlung von Geldern sanktioniert, nachdem die UN-Generalversammlung, eine Stellungnahme des internationalen Gerichtshofs angefordert hat hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der anhaltenden Besetzung der palästinensischen Gebiete durch Israel und der Verantwortlichkeiten der Staaten, die Besatzung zu beenden, die Israel seit 1967 aufrechterhält.

Letztlich wurde deutlich, daß die grundlegenden Prinzipien der Zwei-Staaten-Formel, nämlich neben dem Anspruch auf friedliche Konfliktlösung im Rahmen des Völkerrechts die Anerkennung des Existenzrecht Israels als Heimstatt des jüdischen Volkes wie Anerkennung des Rechts auf Souveränität des Palästinensischen Volkes keinesfalls als Bedeutung verloren haben, ebensowenig wie die Forderung nach Beendigung der Besatzung, Einhaltung der Menschenrechte und Ende diskriminierender Praktiken.

Viele Fragen nach einem konkreten Wie blieben zwangsläufig weiterhin offen. Unbestritten ist, daß keine externe Macht den Konflikt lösen kann und es an Israelis und Palästinensern liegt, die Bereitschaft zu Annäherung zu entwickeln, den jeweils anderen verstehen und achten zu wollen. Aus der Verantwortung darf sich aber auch die EU nicht stehlen, zu sehr sind ihre Mitgliedstaaten sowohl in der historischen Verantwortung für die Konflikte und Grenzziehungen im Nahen Osten als auch in der politischen Verantwortung für die jüngeren Interessenkonflikte.

Ein glücklicher Zufall bescherte uns am Folgetag die Gelegenheit, eine weitere Studie kennenzulernen: Im Ausschuss für Auswärtige Angelegenheiten erläuterten drei Autoren ihre Forschungsergebnisse zur Frage nach den „Aussichten auf Wiederbelebung des Nahost-Friedensprozeß: eine möglicherweise gemeinsames Unternehmen von  EU-USA“.

Text der Studie in englischer Sprache hier: https://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2022/702573/EXPO_STU(2022)702573_EN.pdf ; Video der Sitzung des AFET-Ausschusses in englischer Sprache hier: https://multimedia.europarl.europa.eu/de/webstreaming/afet-poldepe_20230125-1215-COMMITTEE-AFET

Die Beilegung des israelisch-palästinensischen Streits, so der Ausgangspunkt, sei für die EU und die USA durchaus von strategischem Interesse. Der Nahost-Friedensprozeß wurde durch die Madrider Konferenz von 1991 initiiert, die von der Sowjetunion und den USA gemeinsam gefördert wurde. Die jüngsten Entwicklungen in Israel, die Zusammenstöße in Gaza und Gewaltakte im Westjordanland, zeigten jedoch, die bisherigen Bemühungen, die israelische Besetzung palästinensischen Landes, zu beenden trotz zahlreicher Initiativen internationaler Akteure gescheitert sind. Die Autoren dieser Studie kommen zu dem Schluß, die EU müsse erkennen, daß die aktuelle Situation nicht nachhaltig ist. Europa sollte bedenken, daß diese Situation seinen Einfluß auf den Nahost-Friedensprozeß und die israelischen und palästinensischen Aktionen weiter schmälert und seine Legitimität auf der globalen Bühne untergraben könnte.

Sie empfehlen der EU, eine neue Haltung einnehmen, unabhängiger zu handeln und gleichzeitig ihren Prinzipien und ihrer Herangehensweise an den israelisch-palästinensischen Konflikt treu zu bleiben, statt sich darauf zu konzentrieren, auf einen neuen ständigen EU-USA-Mechanismus für den Nahost-Friedensprozeß zu warten.

Klare Worte fand Daniel Levy, Co-Autor der Studie und ehemaliger Unterhändler und Regierungsberater auf seiten Israels: „Wenn Europa es ernst meint mit Artikel 2 seines eigenen Vertrags, wenn es vom Rest der Welt ernstgenommen werden will, als normativer Akteur, der für eine regelbasierte internationale Ordnung einsteht, […] dann muss sie konsequent gegen eine höchst ungeheuerliche Verletzung des internationalen Rechts vorgehen, gegen die Verletzung der palästinensischen Grundrechte, Menschenrechte, des internationalen Rechts, die jeden Tag stattfindet. Es gibt eine permanente Besatzung und Enteignung von Palästinensern, strukturelle Ungleichheit innerhalb von Israel. Das ist alles sehr gut dokumentiert. […] Straflosigkeit ist die Magd des Extremismus. Alles was wir sehen ist nur möglich, weil der Staat, das mit seinem Agieren internationales Recht verletzt, nicht zur Verantwortung gezogen wird.“ Europa habe die Wahl:  Es könne seine bilateralen Beziehungen unabhängig von Israels unrechtmäßigen Handlungen gestalten. Oder eben diese würden zum zentralen Gegenstand dieser bilateralen Beziehungen. Dass die erstere Variante gewählt wurde, führe zu Mitschuld an diesen Menschenrechtsverletzungen und dies bedeute, Europa habe leider Europa hat keinen Stellenwert bei der Förderung des Friedens oder der Beendigung der Besatzung.

Studie " Signet des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv Towards a Shared Land"PDF-Datei