Martinas Woche 12_2021: Kultur total – Weltkulturerbe unter Druck
Kultur- und Regionalpolitik – Treffen in Berlin – HDP-Verbotsverfahren – Türkei verlässt Istanbul Konvention
In der vergangenen Woche tagten in Brüssel die Ausschüsse und ja, auch da geht es einmal um Aktuelles wie die Lage der Künstler*innen während der Corona-Pandemie, aber es geht auch um längerfristige Themen, wie die Sicherung des kulturellen Erbes oder Regelungen für die Kommunen, deren Förderfonds auch unter den Brexit-Abkommen leiden. Zugleich mussten in dieser Woche das Miniplenum der kommenden Woche in Brüssel vorbereitet werden, zu dem Martina wieder anreisen wird, sowie die Jurysitzung am kommenden Mittwoch, auf der die deutschen Bewerbungen für den Jugend-Karls-Preis gesichtet, besprochen und auch für die Prämierung ausgewählt werden. Darüber hinaus wollen wir gern auf den noch immer laufenden Lux-Filmpreis verweisen, der in diesen besonderen Zeiten auch mit einem besonderen Online-Angebot aufwartet. Alle können diesmal – neben der Auswahl der Abgeordneten – mitstimmen, die Filme in vielen Sprachen untertitelt anschauen und sich somit daran beteiligen, dass auch aktuelle filmische Produktionen in der Debatte bleiben, selbst wenn der Kinobesuch noch warten muss.
Kulturausschuss I: Europeana – 40 Prozent Kürzung für ein Flaggschiff, was soll das?
„Die Europeana ist eine der modernen digitalen Schnittstellen, um einen Teil des Weltkulturerbes zugänglich zu machen. Doch trotz europäischer Förderung, halte ich dieses Projekt noch immer für unterfinanziert.“ sagte Martina Michels im Kulturausschuss am Montag in der Aussprache mit Vertreterinnen und Vertretern der Europeana. „Bei der Umsetzung der Urheberrechtsrichtlinie stand immer das Leistungsschutzrecht der Presseverleger und der Value Gap, die Artikel 15 und 17, im Interesse der Medien, angefacht durch die starken Lobbyisten. Dadurch rutschte die europäische Harmonisierung der Schrankenregelungen des Urheberrechts – für Forschung, Bildung und das Kulturerbe – leider immer in den Hintergrund. Die Nutzerperspektive im Netz wurde oft nur an den individuellen Nutzern festgemacht. Für die politische Debatte sind jedoch die institutionellen Nutzer – die Galerien, Bibliotheken, Archive und Museen – oft viel bedeutsamer, wenn wir den öffentlichen Zugang zu Kultur, Wissen und Information für alle organisieren.“ Und sie holte aus, um klar zu machen, dass hier nicht nur zu wenig Geld von der Politik in die Hand genommen wird, sondern bei stabilen öffentlichen Registrierungsinfrastrukturen des europäischen kulturellen Erbes, die Rechtssicherheit in der Forschung, bei Ausstellungen u.ä. bieten, endlich voranzukommen.
Die Kürzung gehört deshalb als Politik in die falsche Richtung sofort auf den Prüfstand. Hier findet ihr den gesamten Wortbeitrag im Videomitschnitt.
Kulturausschuss II: Abstimmung zu Künstlicher Intelligenz in Bildung, Kultur und Medien
Wir haben schon in der vergangenen Woche darüber informiert, dass der Kulturausschuss einen umfangreichen Initiativbericht zur Künstlichen Intelligenz in Bildung, Kultur und Medien verabschieden wird. Das hat er am Montag und Dienstag (Endabstimmung) getan und damit gleich Positionen des Ausschusses für Bürgerliche Freiheiten (LIBE), des Frauenausschuss (FEMM) und des Rechtsausschuss (LIBE) zusammengetragen. Es muss darum gehen, Diskriminierung zu verhindern und Diversität im Netz zu ermöglichen. Das wird bei den derzeitigen Entwicklungen eher durch Intransparenz, wenig Frauen in der Programmierung und in den IT-Berufen, zu viel Marktmacht der großen Plattformen usw. eher verhindert. Und auch die Politik scheint bisher verschlafen zu haben, dass es nicht nur selbstfahrende Autos gibt, bei denen bei einem Unfall am Ende Haftungsfragen geklärt sein müssen, sondern auch Deep Fake, Microtargeting, Diskriminierung u. ä. im Netz Formen angenommen haben, bei denen Regulierung nicht länger außen vor sein darf.
Wir haben zwei Kompromisse nicht unterstützt, Nr. 25 und Nr. 42. In Nr. 25 wurde eine Unterstützung der aktuellen E-Commerce-Richtlinie zum Ausdruck gebracht, die keine Verantwortung für Plattformen für deren redaktionelle Arbeit beinhaltet. Doch zugleich schlug der Kulturausschuss in anderen Debatten vor, diese Richtlinie wegen der völligen Haftungsbefreiung der Plattformen zu überarbeiten. Wir wissen, dass es kein einfacher politischer Konflikt ist, da wir viele Benutzerinhalte haben und eine redaktionelle Verantwortung nicht mit dem Beginn von Zensur enden darf. Doch hier helfen klare, verbindliche Standards: kein Rassismus, keine gefälschten Nachrichten, keine Gewalt, Kinder- und Jugendschutz. Und in diesem Zusammenhang brauchen wir auch klare Regelungen für transparente, Rechte-basierte KI. Plattformen sind nicht neutral, wie uns die Geschichte erzählt hat, und wir müssen Fälle wie Cambridge Analytics bei Wahlen usw. vermeiden. Der Kompromiss Nr. 42 enthält für uns eine Anerkennung aller Arten von Upload-Filtern (für Inhalte, Terrorismus oder Deep Fake), um die tatsächlichen Probleme mit Inhaltsbestimmungen mithilfe von Technologie zu lösen. Das widerspricht fundamental unseren Auffassungen, die wir auch mit der Urheberrechtsrichtlinie immer vertreten haben. Auch hier darf es keine Lösungen gegen die Nutzerinnen und Nutzer geben. Wir brauchen in jedem Fall eine menschliche Verantwortung, eine richtige redaktionelle Arbeit – auch im Netz.
Mit Hilfe der Linken wurden viele Änderungsanträge des FEMM-Ausschusses angenommen, während die Empfehlung des Berichterstatters lautete, sie abzulehnen. So konnten wir den Kampf gegen die geschlechtsspezifische Voreingenommenheit bei Programmierung, Routinen und Debatten über KI in Bildung, Kultur und Medien durch den gesamten Bericht nicht nur mit unseren eigenen Änderungsanträgen verstärken.
Der Ausschuss hat selbst den Erfolg des Berichts in einer umfänglichen Pressemeldung gefeiert und wird seine Arbeit hier demnächst bei der Abstimmung im Plenum verteidigen.
Kulturausschuss III: Kultur und Corona – Wie kann es weitergehen?
Vor dieser Frage steht erstmal eine gründliche Bestandsaufnahme, da dem Sektor ohnehin schon ein Umsatzeinbruch von 80 Prozent im 2. Quartal 2020 vorausgesagt wurde. Vier Prozent aller Beschäftigten arbeiten in der Kulturbranche, das sind 7,5 Millionen Menschen in der ganzen EU, die derzeit existenziell unter Druck stehen, künstlerisch ohne Publikum sind und perspektivisch im Dunkeln tappen. Das gesamte Parlament folgte dem Kulturausschuss im September und forderte die Mitgliedstaaten auf, bei den Corona-Hilfen zwei Prozent für die Kultur zu veranschlagen. In Deutschland waren es im letzten Jahr mit dem hochgelobten Infrastrukturfonds gerade einmal 0,77 Prozent und die personellen Hilfen waren alles andere als passgenau auf Soloselbständige angestimmt. Diese wurden nämlich in die Grundsicherung geschickt. In anderen Ländern wurde dies zum Teil anders gehandhabt und viele Fakten sind nun in einer Studie versammelt, die der Kulturausschuss am Dienstag vorgestellt wurde. Für uns ist dies auch ein wichtige Quelle, denn Martina Michels hat im Auftrag unserer Delegation selbst eine Studie an den Hamburger Kulturvermittler KP Flügel in Auftrag gegeben mit dem Fokus auf die Situation in Deutschland, jedoch mit einem vergleichenden europäischen Blick. Wir hoffen, dieses Material dann Ende April veröffentlichen zu können.
Kulturausschuss IV: Zwei Studien zum Europäischen Bildungsraum
In der kommenden Woche wird ein Bericht zur Gestaltung digitaler Bildung im Plenum vorgestellt und darüber auch entschieden. Wir haben hier schon darüber berichtet. Überdies liegen derzeit zwei umfassende Berichte im Auftrage des Kulturausschusses zur Bildungspolitik vor. In der Studie Towards a European education – Critical perspectives on challenges ahead geht es vor allem um Lernmobilität, eine Bestandsaufnahme der europäischen Instrumente, um diese zu erhöhen, und um die Frage, was sie bringt. De facto ist das ein Stückchen Evaluation des Erasmus+-Programms, dessen sozial ausgewogene Dimension sich in den kommenden dieben Jahren laut Programmphilosophie erheblich ändern soll. Die zweite Studie knüpft hier an, denn ein gemeinsamer Europäischer Bildungsraum ist immer eine schön klingende Formel, aber einmal zeichnen die Mitgliedsstaaten für die Bildungspolitik verantwortlich, andererseits ist die Verantwortung gewachsen, dass die EU hier wirklich mehr zusammenarbeitet. Dieser Verbindung der politischen Ebenen widmet sich die Studie Making the European Education Area a Reality.
Regionalausschuss – Debatte um die Brexit-Reserve
Es ist Zeit, dass die lokale und regionale Perspektive im Brexit-Abkommen ersthafter verhandelt wird, dass die regionalen und lokalen Gebietskörperschaften, Sozialpartner und die Zivilgesellschaft in die Planung, Umsetzung und Bewertung der Maßnahmen einbezogen sind, damit die Unterstützung dort ankommt, wo sie am meisten benötigt wird. Förderzeiträume für eine derartige „Brexit-Reserve“, bei der es in einer Debatte um einen Berichtsentwurf im letzten Regionalausschuss ging, sind daher z. B. früher anzusetzen, um alle offenen Fragen zu klären. Dies ist aus unserer Sicht gerechtfertigt. Doch auch das Instrument als Ganzes gehört längerfristig möglicherweise auf den Prüfstand, um zu klären, ob es seine Bestimmung auch bestens erfüllt. Martina hat sich zum Beispiel schon jetzt dafür eingesetzt, dass Bildung, Kultur und Forschung als förderfähige Bereiche besonders zu erwähnen sind und dass der Nachhaltigkeitsaspekt als Grundprinzip auch für dieses Förderinstrument verpflichtend sein soll. In diese Richtung wird sie ihre Änderungsanträge am Textvorschlag gestalten.
Martina Michels zu Gast in der Europäischen Akademie in Berlin
Am Mittwoch war Martina nicht zum ersten Mal zu Gast in der Europäischen Akademie in Berlin. Doch diesmal sprach sie dort nicht zu einem europapolitischen Thema im Rahmen einer Veranstaltung, so wie sonst, sondern es kam zu einem Austausch mit dem Direktor Christian Thomas über Europa in Berlin und die Frage, wie dieses Thema von Bürger*innen angenommen und diskutiert wird. Am Freitag gab es dazu dann noch ein digitales Forum, in dem es um die Konferenz zur Zukunft der EU ging, jenes Demokratieinstrument, das Ursula von der Leyen so großherzig angekündigt hatte, was aber noch lange nicht mit Leben erfüllt ist. Letztlich ging es im Gespräch auch darum, eine kontinuierliche Zusammenarbeit zu planen, eigene Ideen aus der Arbeit in den Ausschüssen und dem Fachwissen der Delegation für die öffentliche Auseinandersetzung anzubieten und die Interessen der Akademie genauer kennenzulernen.
Türkei: Proteste gegen das HDP Verbotsverfahren und Frauen wehren sich gegen den Austritt der Türkei aus der Istanbul Konvention
Gleich zwei Nachrichten hätten diese Woche das Verhältnis der EU zur Türkei erschüttern müssen. Doch „mit großer Sorge“ reagiert beispielsweise die Bundesregierung auf das Verbotsverfahren, dass nun der HDP, der Partei der Völker, droht. Deren Mitglieder sind ohnehin seit Jahren Repression, Verfolgung und Verhaftungen ausgesetzt. Doppelstandards sind in der Politik nicht neu, aber das mehrheitlich in der EU geschwiegen wird, wenn die politische Opposition in der Türkei weiter unter Druck gerät – das ist wirklich unerträglich. Im Karl-Liebknecht-Haus konnte am Freitag die Ex-HDP-Abgeordnete, Sibel Yigitalp, zur neuen Repressionswelle sprechen, denn wir sollten hier nicht übersehen, dass diese Appeasement-Politik Deutschlands schon lange auch auf die deutsche Innenpolitik durchschlägt. Die Bundesregierung hat Verantwortung für die demokratischen Kräfte in der Türkei und genau da ist dann „große Sorge“ nicht mehr ausreichend.
Überdies protestieren in der Türkei erneut viele Frauen gegen den Austritt des Landes aus der Istanbul-Konvention, jener internationalen Vereinbarung, die sich den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen auf die Fahnen geschrieben hat. Auch diese Entwicklung kommt nicht von ungefähr. Es gehört besonders zu Erdoğans politischer Strategie, Frauen in den demokratischen Auseinandersetzung unsichtbar zu machen. Doch die Frauen in der Türkei, auch sehr unterstützt von der HDP, überraschen seit vielen Jahren mit Widerstand und mutigen Protesten gegen diese patriarchale Politik der AKP. Unterstützen wir diese Proteste auch über die Türkei hinaus, erinnern wir an den diversen Schmelztiegel Istanbul, der er einst war und nach dem diese Konvention dereinst auch benannt wurde.