Ein neues Europa für und von den Bürger*innen
Reflexionen von Martina Michels und Helmut Scholz, MdEP für DIE LINKE. im Europaparlament, zum Europatag 2020
„Der Augenblick ist gekommen, um den veralteten Ballast über Bord zu werfen und sich für den kommenden Umbruch bereit zu halten, der so ganz anders ist, als man ihn sich vorgestellt hat. […] Der Weg, der uns erwartet, wird weder bequem noch sicher sein. Wir müssen ihn jedoch beschreiten, und wir werden es tun!“
SPINELLI, Altiero/ROSSI, Ernesto: Das Manifest von Ventotene, 1941.
Schuman-Erklärung
Vor 70 Jahren (am 9. Mai 1950) brachten Robert Schuman und Jean Monnet die spätere Europäische Union auf den Weg. Ihr Vorschlag, die Kohle- und Stahlindustrie Frankreichs und Deutschlands zu vereinen, ebnete den Weg für die erste supranationale (europäische) Gemeinschaft. Die Schuman-Erklärung forderte das Nachkriegseuropa auf, „die Grundlagen für Institutionen zu schaffen, die einem gemeinsamen Schicksal von nun an die Richtung weisen“. In einer Zeit der Unsicherheit und Armut verwirklichte die supranationale Regierungsführung den Geist der Solidarität und Frieden zwischen Staaten und Bürger*innen.
Diese ehrgeizige Erklärung hat die europäische Integration eingeleitet. Der Europatag wird daher symbolisch am 9. Mai begangen.
Die Linke. im EP betont die Bedeutung der europäischen Integration für unser friedliches und solidarisches Zusammenleben in Europa, und bedauert zugleich, dass die ursprüngliche Idee eines friedlichen und freundschaftlichen Zusammenlebens der Menschen wie von Spinelli und Rossi aufgezeigt vor allem durch Markt und Profit geprägt wurde.
Zukunft Europas nach Corona / Konferenz Zukunft Europa
Im heutigen Europa müssen sich Mitgliedstaaten und EU-Institutionen auf die Ambitionen der Gründerväter des Integrationsprozesses zurückbesinnen. Während die Errungenschaften der EU nicht unterschätzt werden sollten, gelingt es ihren Institutionen nicht, das Tempo der Integration aufrechtzuerhalten. Den Mitgliedstaaten fehlt die Bereitschaft radikal bisherige Entwicklungen zu hinterfragen und neue, gemeinsam zu beschreitende Wege zur Meisterung der neuen Herausforderungen und Bewältigung der unterschiedlichen Krisen aufzuzeigen und in den Mittelpunkt europäischen Handelns zu stellen. So verbleibt das europäische Projekt in der Schieflage, ist es unvollständig, und das demokratische und solidarische Potenzial der Union wird nicht ausgeschöpft.
Die gestiegene Wahlbeteiligung bei den Europawahlen 2019 hat gezeigt, dass sich die Bürger*innen mit Europa beschäftigen, wenn ihnen die Möglichkeit dazu geboten wird. Zu lange wurden die Bürger*innen in Diskussionen über die Zukunft der europäischen Integration an den Rand gedrängt. Die Linke. im EP bleibt dabei, dass die Bürger*innen wirklich an ihrer Zukunft mitgestalten können. Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und Wahrung aller Grundrechte Demokratisierung aller Politikentscheidungsprozesse
Diese Gelegenheit bietet die zweijährige Konferenz über die Zukunft Europas, auf der Vorschläge zur Neugestaltung der Europäischen Union mit Bürger*innen unterschiedlichen Hintergrunds, Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und Interessenvertreter*innen auf europäischer, nationaler, regionaler und kommunaler Ebene diskutiert werden sollen. Ziel dieser ergebnisoffenen Konferenz ist, gemeinsam mit den Bürger*innen konkrete Reformvorschläge zu erarbeiten, die – falls notwendig – auch zu Vertragsänderungen führen können.
DIE LINKE. im EP begrüßt die Idee einer breiten gesellschaftlichen Verständigung in Form eines Konferenz-marathons ausdrücklich. Wir sagen ja zu dieser Art der Verschränkung von repräsentativer und partizipatorischer Demokratie und werden diese Aussprache kritisch-konstruktiv begleiten. Das Europäische Parlament als einzige direkt gewählte EU-Institution muss aus diesem Prozess ebenso gestärkt herausgehen. Wir brauchen dringend nicht nur ein legislatives Initiativrecht für das Europäische Parlament, sondern zugleich auch die Einrichtung eines ständigen Bürgerbeteiligungsmechanismus.
Ein neuer Vertrag für Europa
Angesichts der aktuellen Herausforderungen – Klimawandel, Brexit, Corona-Krise, Asyl-, Flüchtlings- und Migrationsherausforderungen, Friedensicherung, Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele bis 2030 um nur einige exemplarisch herausgriffen zu nennen- ist die europäische Einheit und insbesondere eine handlungsfähige politische und soziale Union eine Notwendigkeit. Die gegenwärtige Krise legt aber die politischen Spaltungen innerhalb der Union offen und offenbart ihre konstitutionellen Schwächen. Das werden auch viele schöne Festtagsreden nicht verbergen können.
Die Corona-Krise zeigt jeder und jedem mehr als deutlich auf, dass wir strukturelle Lösungen brauchen, die die Europäische Union befähigen schnell, gemeinsam und konsequent zu handeln. Es gilt transparente und öffentlicher Kontrolle unterliegende Strukturen und Mechanismen zu schaffen, die es der EU auch real ermöglichen eigene Ressourcen schnell mobilisieren zu können, wenn sie für europäische Maßnahmen oder zur Krisenbewältigung benötigt werden. Die Europäische Union muss umgestaltet werden, damit sie über Mittel und Befugnisse verfügt, künftigen Krisen standzuhalten und dabei jederzeit die grundrechtlich verbrieften sozialen und politischen Menschenrechte garantiert.
Daher ist die historische Aufgabe der Schaffung einer föderalen parlamentarischen Union, wie sie 1941 im Manifest von Ventotene und 1950 in der Schuman-Erklärung vorgesehen ist, mehr denn je gültig. Wir müssen die europäische Integration verändern, um den neuen Herausforderungen gewachsen zu sein. Denn der Vertrag von Lissabon, der vor etwas mehr als zehn Jahren in Kraft getreten ist, wird den neuen Anforderungen unserer Zeit – wie beispielsweise Umweltschutz, Zugang zu Bildung, Bekämpfung der Armut – nicht nicht gerecht. Der Schritt hin zur politischen und Sozialen Union, ob nun Republik oder veränderter Staatenverbund muss diskutiert werden.
Die Idee der europäischen Einigung entsprang dem Antifaschismus. Das wird in keinem Dokument so deutlich wie in dem Manifest von Ventotene. Die Verfasser nahmen mit ihrer Kritik an einer autarken Wirtschaft, die sich der politischen Regulation und demokratischen Mitbestimmung entzieht, die Auseinandersetzung mit der totalitären Seite des Neoliberalismus vorweg.
Es an der Zeit ist, die Tabus zu brechen, die die weitere europäische Integration im letzten Jahrzehnt blockiert haben, die sozialen Ungleichheiten verstärkt und viele Menschen an der EU haben zweifeln lassen. Zu oft stand Egoismus als Grundprinzip machpolitischen Gezerres um nationale oder sektoral Vorteile willen der gemeinschaftlichen Aktion der EU entgegen, gab es keine Solidarität, kaum Bestreben zum substantiellen Angleichen der Entwicklungsunterschiede und Ungleichheiten. Keine Gemeinschaft der Welt kann aber dauerhaft bestehen, wenn einige mehr als andere von dessen Mitgliedschaft profitieren.
DIE LINKE. im Europarlament steht für ein neues Europa, das:
- Maßnahmen zur wirksamen Bekämpfung der Klimakatastrophe und zur Wiederherstellung der biologischen Vielfalt ergreift,
- Klimawandel und Biodiversität als Maßstab für den sozial-ökologischen Umbau unserer Gesellschaft empfiehlt,
- die 17 UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung bis 2030 erreicht,
- die neoliberale Spar- und Kürzungspolitik beendet, die die Ungleichheiten verschärft und rechtsextreme Kräfte in Europa zu stärken hilft,
- Sozialdumping in Europa bekämpft und sich für soziale Gerechtigkeit einsetzt,
- Steuerhinterziehung, Steuerflucht, Geldwäsche und Korruption stoppt,
- Kontrolle über Marktentscheidungen übernimmt,
- die EU-Handelspolitik neu ausrichtet,
- eine humane Migrations- und Asylpolitik verabschiedet, die die Menschenrechte garantiert,
- Frieden verteidigt,
- für Demokratie und Menschenrechte kämpft,
- wirksame Maßnahmen ergreift, um die Rechte der Frauen zu verteidigen und die Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen,
- Grund- und Bürger*innenrechte auch im digitalen Bereich verteidigt und nicht wirtschaftlichen oder staatlichen Interessen preisgibt.
Diesen Weg müssen wir, ganz im Sinne von Altiero Spinelli und seinen Mitstreitern, beschreiten. Und wir werden es tun.