Was wir von Gustav Sotter, Gustav Breuning, Rochus Steinert und Franz Winkel lernen können
Heute vor 93 Jahren legten 12 Millionen Menschen ihre Arbeit nieder.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen, liebe Schülerinnen der Erich Fried Gesamtschule; liebe Schülerinnen, euch gilt mein besonderer Gruß, denn es ist nicht selbstverständlich, dass Schülerinnen oder Schüler an einer solchen Gedenkfeier teilnehmen!
Herne gehört zu den wenigen Städten, in denen das Gedenken an die furchtbaren Ereignisse vom März 1920 bis heute mit großer und beeindruckender Beharrlichkeit wachgehalten wird. Norbert Arndt hat in seiner Begrüßung auf die Greueltaten der Reichswehrtruppen hingewiesen, wie sie in einer Proklamation der Roten Ruhrarmee vom 20. März 1920 beschrieben sind.
Vier der rund 1000 Todesopfer jener mörderischen Tage sind auf diesem Friedhof beigesetzt worden: Gustav Sotter und Gustav Breuning, die beide mit 19 Jahren ihr Leben verloren, Rochus Steinert, der im Alter von 35 Jahren zu Tode kam, und Franz Winkel, von dem nicht bekannt ist, in welchem Alter er getötet wurde.
Mit dieser Gedenkfeier wollen wir an sie erinnern.
Und auch an die vielen anderen Toten aus jenen Märztagen des Jahres 1920, deren Namen vergessen sind, und die ihr Leben für die Verteidigung von Demokratie, für die Verteidigung der Rechte von Arbeitern und Arbeiterinnen eingesetzt und verloren haben.
Über sie steht in den Geschichtsbüchern nicht viel nachzulesen. Ihre Schicksale gehen auf in der groben Zahl der Todesopfer, die als Folge des Kapp-Putsches und des sich an den Kapp-Putsch anschließenden Kampfes zwischen der roten Ruhrarmee und der Freikorps-Soldateska in den Geschichtsbüchern genannt werden.
Der Bedeutung der Toten, der wir hier heute gedenken, wird das nicht gerecht.
Vor allem dem Mut, der Entschlossenheit und der schnellen Reaktion der Arbeiter, Angestellten und eines Teils der Beamten ist es zu Verdanken, dass der Putsch des preußischen Oberregierungsrats Kapp und des Generals Lüttwitz vom 13. März 1920 in Berlin nach fünf Tagen scheiterte.
16. März 2013: Gedenken an die vier Herner Opfer des Kapp-Putsches Foto: Norbert Arndt
Bereits zwei Tage nach Putsch-Beginn, am 15. März, befanden sich rund 12 Millionen Arbeiter, Angestellte und Beamte im Generalstreik – übrigens ohne, dass es dafür eine Gesetzesgrundlage gab. Die Arbeiter, Angestellten und Beamten sind schlicht dem Gebot der Stunde gefolgt!
Ohne diese schnelle, entschlossene und mutige Reaktion der Streikenden wäre der Putsch wohl kaum so schnell zu seinem Ende gekommen!
Es ist allerdings kein gutes Ende gewesen.
Das eigentliche Blutvergießen, dem auch die Toten, derer wir hier heute gedenken, zum Opfer gefallen sind, begann erst nach dem offiziellen Ende des Putsches. Die Reichswehrtruppen und Freikorpssoldaten, die zunächst den Putsch unterstützten, haben erst nach dem offiziellen Scheitern des Putsches auf blutige und teils bestialische Weise die Rote Ruhrarmee niedergekämpft, wie Norbert Arndt eingangs geschildert hat.
Über das kurze Leben von Gustav Sotter, Gustav Breuning, Rochus Steinert und Franz Winkel ist nicht viel bekannt. Außer dass sie Arbeiter waren, in welcher Stadt sie lebten und welchen Tod sie gestorben sind, ist kaum etwas von ihnen überliefert. Über ihre politischen und persönlichen Ziele, über ihre persönlichen Motive, sich dem Kampf gegen die Putschisten anzuschließen, wissen wir nichts.
Aber es ist ihrem Mut und dem Mut vieler tausender Arbeiter, Angestellter und Beamten zu verdanken, dass die Demokratie, die zum Zeitpunkt des Kapp-Putsches erst wenige Monate alt war, nicht von den Putschisten gleich wieder zertreten wurde, dass der braune, nationalsozialistische Abgrund, der sich hier mit dem Kapp-Putsch bereits auftat, wieder eingedämmt werden konnte. Und ihrem Kampf ist es zu verdanken, dass zu Beginn der 1920er Jahre wesentliche Arbeitnehmerrechte, die bis heute gelten, durchgesetzt werden konnten.
Dennoch ist der Sieg über die Putschisten nur ein vorläufiger geblieben. Die Putschisten haben mit der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) zusammengearbeitet. Einer Partei, die später in der NSDAP aufgegangen ist.
Die braune Gesinnung der Putschisten und ihrer Verbündeten hat trotz des schnellen Endes des Kapp-Putsches kein Ende gefunden, sondern ihre braune Gesinnung hat weiter gewirkt. Und mündete 1933 in dem bis dahin furchtbarsten Terrorregime der Menschheitsgeschichte, in der Nazidiktatur, im 2. Weltkrieg und im Holocaust!
Wenn wir heute der Opfer des Kapp-Putsches gedenken, dann sollten wir auch diese weitere Entwicklung mit in den Blick nehmen.
Denn auch mit dem Ende der Nazi-Diktatur ist jene braune Gesinnung, jener mörderische Nationalismus noch immer nicht an ein Ende gekommen.
Ein gutes halbes Jahrhundert nach dem Ende der Nazi-Diktatur haben wir es erneut mit der gleichen braunen Gesinnung wie damals zu tun.
Die Fotos, die die Schülerinnen der Erich Fried Gesamtschule hier heute mit sich tragen, erinnern daran. Es sind Fotos der Opfer des so genannten NSU, des Nationalsozialistischen Untergrunds. Erklärtes Ziel dieser Organisation war es, „Mitbürger ausländischer Herkunft zu töten“. Neun Menschen – allesamt Migranten und Migrantinnen, die sich in Deutschland eine neue Existenz aufgebaut haben – sind von der NSU ermordet worden!
Als wäre das nicht schon furchtbar genug, müssen wir nun auch noch in einem entsetzlich zähen und langwierigen Aufklärungsprozess Schritt für Schritt erfahren, dass staatliche Stellen, insbesondere der Verfassungsschutz, skandalöse und bis heute nicht aufgeklärte Beziehungen zur NSU unterhielten.
Aber damit noch immer nicht genug. In vielen Teilen der Bundesrepublik formieren sich erneut rechte Gruppen und Parteien: Pro NRW oder die kürzlich gegründete Partei „Die Rechte“.
In Sachsen erfährt die neue Rechte massive Unterstützung aus der Justiz. In Dresden haben rechte Organisationen in den letzten Jahren versucht, den Jahrestag der Bombardierung Dresden im Februar 1945 als rechten Gedenktag zu vereinnahmen. Eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Dresden wehren sich bisher erfolgreich mit friedlichen Demonstrationen gegen diesen Vereinnahmungsversuch. Wer allerdings zu engagiert auftritt, muss mit der Verfolgung durch die Dresdener Justiz rechnen, wie derzeit der Jenaer Jugendpfarrer Lothar König. Ihm wird sein engagiertes Auftreten gegen Rechts von der Justiz als Landfriedensbruch ausgelegt. Ein Vorwurf, für den er sich nun vor Gericht verantworten muss. Aber er ist bei weitem nicht der einzige, dem die Justiz nachstellt, weil er oder sie sich gegen Rechts gestellt hat!
Hätten Politik, staatliche Stellen, Polizei und Justiz nicht versagt in der Bekämpfung rechten Terrors und rechter Gewalt, hätten Politik und staatliche Verwaltung der erneuten Ausbreitung brauner, nationalistischer, rassistischer Parteien und ihrer Ideologie frühzeitig etwas entgegengesetzt, dann hätte es gar nicht erst zu den Bürgerdemonstrationen in Dresden kommen müssen.
Wir sind nicht mehr im Jahr 1920. Ein Vergleich zwischen heute und dem Jahr des Kapp-Putsches und der Jahre danach ist schwierig. Die Unterschiede zwischen damals und heute sind zu groß.
Und dennoch: Es ist verständlich, wenn wachsame Bürgerinnen und Bürger den Eindruck gewinnen, dass es doch Parallelen gibt zwischen damals und heute.
Insbesondere wenn man sich die unsäglichen Verquickungen zwischen Verfassungsschutz und der NSU anschaut und wenn man auf das Vorgehen der Dresdener Justiz etwa gegen Jugendpfarrer Lothar König schaut. Die Blindheit auf dem rechten Auge, die Anfälligkeit staatlicher Einrichtungen für braune Ideologie ist ein ernst zu nehmendes und nicht zu unterschätzendes Problem, mit dem wir es heute zu tun haben und dem wir uns stellen müssen!
Doch ein brauner, nationalistischer und rassistischer Ungeist verbreitet sich nicht nur in Deutschland aufs Neue.
Schaut man in einige Nachbarländer, dann zeigt sich dort das gleiche Problem, zum Teil sogar noch zugespitzter. Am stärksten hat sich gegenwärtig Nationalismus und Rassismus in Ungarn ausgebreitet.
Es geht nicht darum, hier ein Land der Europäischen Union, der europäischen Gemeinschaft an den Pranger zu stellen. Aber man kann und darf auch nicht die Augen davor verschließen, was derzeit in Ungarn passiert. Es ist nicht übertrieben, die Regierung von Orban als rechtsradikal zu bezeichnen.
Die Diskriminierung von Minderheiten und die Einschränkung der Pressefreiheit sind unter Orban in einem Maße ausgeweitet worden, dass man dem entschieden entgegentreten muss. Vermutlich ist es nur der Mitgliedschaft Ungarns in der EU zu verdanken, dass es dort bisher nicht zu noch fundamentaleren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist.
Die Diskriminierung von Minderheiten, Flüchtlingen und Migranten passiert aber auch in anderen EU-Ländern verstärkt. Ebenso sind rechte, nationalistische Parteien derzeit in anderen EU-Ländern im Aufwind.
Es gibt allerdings auch Erklärungen dafür.
Wenn wir nach Erklärungen dafür suchen, dann landen wir erneut ganz schnell in Berlin.
Ohne Frage gibt es in vielen EU-Ländern Dinge, die nicht so laufen, wie sie eigentlich laufen sollten. Das ist ja auch in Deutschland nicht anders. Das Nationalismus und Rassismus aber so stark zunehmen, wie das zur Zeit passiert, daran trägt Berlin einen großen Teil an Verantwortung mit. Es ist die Art, wie die Bundesregierung den anderen EU-Ländern ihre Krisenlösungsmodelle und ihre zerstörerische Sparpolitik aufzwingt, die Europa auseinander treibt und erneut hinein in Nationalismus und Rassismus.
Eine Bankenrettung zulasten der Bürgerinnen und Bürger, verbunden mit enormen Lohn- und Rentenkürzungen, verbunden mit der Zerschlagung sozialer Sicherungssysteme in wenigen Monaten, für die Gewerkschaften Jahrzehnte gekämpft haben, das bereitet den Boden für ein erneutes Erstarken brauner, nationalistischer Ideologien.
Viele haben sich gewundert darüber das die EU mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Und manche haben darüber auch gespottet.
Ich glaube nicht, dass die EU diesen Preis für ihre heutige Politik bekommen hat. Das wäre in der Tat zynisch gewesen.
Man kann diesen Preis nur sinnvoll erklären, wenn man auf die Anfänge der EU schaut. Sie ist gestartet als ein Friedensprojekt, dass Nationalismus und Feindschaft zwischen den europäischen Staaten überwinden sollte, nachdem der Nationalismus in Europa die Welt 1914 und 1939 in zwei furchtbare Kriege mit unendlichem Leid, grauenvollen Verbrechen und Zerstörungen und Millionen Toten getrieben hatte.
Die Europäische Union sollte dem etwas entgegensetzen, damit sich so etwa nicht noch einmal wiederholt. Sie sollte den Nationalismus in Europa überwinden, Frieden, Menschenrechte und Wohlstand bringen. Das hat sie auch lange getan.
Aber Wohlstand bringt sie gegenwärtig den Menschen nicht mehr. Ganz im Gegenteil.
Genau dadurch aber wird die Tür für Nationalismus, für rechte und neofaschistische Ideoligien erneut geöffnet.
Der Friedensnobelpreis an die EU kann nur als sinnvoll verstanden werden, wenn er als Mahnung an die gegenwärtigen Regierungen der Mitgliedsländer der EU verstanden wird, das Erreichte nicht zu zerschlagen, die ursprünglichen Ziele der EU nicht aus den Augen zu verlieren, nicht erneut die Türen für Nationalismus und die braunen, nationalistischen Ungeister der Vergangenheit zu öffnen. Frieden, Demokratie, Menschenrechte, soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit, eine dem Leben der Menschen dienende Wirtschaft gehören zusammen.
Die Opfer des Kapp-Putsches, an die wir heute hier erinnern, haben für diese Ziele gekämpft. So ist es in der von Norbert Arndt zu Beginn zitierten Proklamation der Roten Ruhrarmee vom 20. März 1920 auch nachzulesen: „Wir kämpfen nur für unsere Ideale, das die der ganzen Menschheit sein müssten, für ein freies Volk auf freiem Grunde.“ Die Opfer des Kapp-Putsches waren bereit, ihr Leben dafür einzusetzen. Viele haben damals ihren Einsatz tatsächlich mit ihrem Leben bezahlen müssen, das ihnen teils auf grausamste Weise geraubt wurde. Und etliche Millionen Opfer sind ihnen noch gefolgt zwischen 1933 und 1945. Sie alle haben mit ihrem Engagement und ihrem Opfer einen Grundstein gelegt für die Rechte für Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, für Demokratie und Menschenrechte, die heute für viele von uns selbstverständlich sind – allerdings: längst nicht mehr für alle! Und das nicht erst seit den Hartz-Gesetzen!
Das Erinnern an die Opfer des Kapp-Putsches verpflichtet uns heute, soziale Rechte, Menschenrechte, Frieden, gerechte und gute Arbeits- und Lebensbedingungen zu verteidigen und dort, wo sie nicht sind, für sie zu kämpfen.
Denn nur wo Menschenrechte gelten und soziale Gerechtigkeit das gesellschaftliche Zusammenleben und das wirtschaftliche Leben bestimmen, dort entzieht man dem braunen Ungeist den Nährboden und schafft die Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben von Menschen und Völkern.
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Herne, den 16. März 2013
Gedenkstätte der Märzgefallen auf dem Friedhof Wiescherstraße in Herne
Gedenken an die Herner Märzgefallenen, www.derwesten.de, 12.3.2013
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Anhang: Proklamation der roten Ruhrarmee vom 20. März 1920
An Alle!
Der Bevölkerung wird zur Kenntnis gebracht, dass die Rote Armee keine Greueltaten und Rohheiten begangen hat. Die Reichswehrtruppen dagegen haben in der unmenschlichsten Weise die festgenommenen Geiseln und die in Gefangenschaft geratenen Soldaten der Roten Armee behandelt. Die Geiseln wurden mit ausgespreizten Beinen über die Maschinengewehre gestellt und dienten somit der Deckung der Maschinengewehr-Schützen. Die Gefangenen wurden in Strohhaufen gesteckt und bis zur Verkohlung verbrannt, andere, mit den Füßen nach oben, aufgehängt, ihre Leiber aufgeschlitzt und die Därme herausgenommen; vorher wurden sie in der brutalsten Weise mit Gewehrkolben misshandelt.
Wir bringen mit dem Gefühl des Abscheus, der Verachtung und entsetzlichen Grauens dieses von sogenannten „Reichswehrtruppen“ (Banditen sind es!) der Bevölkerung zur allgemeinen Kenntnis, ohne an Rache und Vergeltung an Unschuldigen zu denken.
Der gesamten Bevölkerung wird gerechter Schutz durch die Rote Armee, wenn sie sich loyal verhält und die Waffen streckt. Keine Rache, keine sonstigen Strafen wird die Rote Armee verhängen. Wir kämpfen nur für unsere Ideale, das die der ganzen Menschheit sein müssten, für ein freies Volk auf freiem Grunde.
Keine Greueltaten, keine Vergeltung, keine Strafen, nur Menschenliebe und Gerechtigkeit wollen wir obwalten lassen.