Martinas Woche_29_2023: Eisschollen in Norditalien – Europapolitik vorm Sommerloch – Spanien hat gewählt
Strommarktreform – EU-Lateinamerika-Gipfel – Kulturausschuss zieht Bilanz – Klima im Urlaub – Wahlen in Spanien
Die Nachrichten von Freitagnacht, die zum Teil mit Videos unterlegt waren (Hagel-„Eisschollen“ im norditalienische Seregno), klangen wie aus einer anderen Welt. Doch es ist unsere Welt, auch wenn alles noch nicht direkt vor unserer Haustür stattfindet. Der Klimawandel schlägt zu, nicht nur mit der Sommerhitze in Südeuropa. Denn auch die furchtbaren Brände auf Rhodos, die das Leben vor allem für die Menschen vor Ort, die gar keinen Urlaub nehmen können, unerträglich und gefährlich machen, sind nicht direkt dem Klimawandel zuzurechnen, wie Meteorologen warnend berichten, sondern bestimmen nur deshalb die Medien am ehesten, weil diese in ihrer Dramatik der clickverliebten Sensationspresse entgegenkommen. Ernsthafter in Bezug auf den Klimawandel sind die anschließenden Starkregen zu werten, die auf die heißen Temperaturen treffen, die Überschwemmungen und gefährlichen Stürme, wie wir sie selbst schon im Ahrtal und in Ostbelgien 2021 erlebten. Die Einzelfallthesen haben sich längst erübrigt. Allen Katastrophen gemeinsam ist überdies, egal ob sie in bestimmten Regionen vertraut sind oder dem Klimawandel zugeschrieben werden müssen, dass ihre Bewältigung oder deren schnelles Vergessen auch immer wieder eine Geschichte des politischen Versagens erzählt, wie zum Beispiel beim Schutz der Wasserreservoire, die die Mitgliedstaaten trotz der EU-Wasserrahmenrichtlinie bis heute nur schleppend umsetzen.
Gegen ausgesessene Klimapolitik auf allen politischen Ebenen wirken die Verbrennungen heiliger Schriften in Schweden mit der flankierenden Debatte, wo die Meinungsfreiheit beginnt und wo sie endet, und die zaghaften Proteste angesichts des EU-Lateinamerika-Gipfels in Brüssel fast wie politische Normalität, obwohl sie es alle wert wären, umfassend analysiert zu werden. Das können wir jedoch auch im letzten Newsletter vor der parlamentarischen Sommerpause nicht leisten und beschränken uns daher, wie gewohnt, auf wenige Entscheidungen, die in dieser Woche in den Ausschüssen des Europaparlaments fielen oder die Europapolitik in anderer Art und Weise beeinflussen werden. Und die damit durchaus weiterreichender sind, als es das politische Alltagsgeschäft oft vorgibt. Deshalb werfen wir auch einen ersten Blick auf die Wahlergebnisse in Spanien, die den Süden Europas offensichtlich weiter ins rechte Lager verfrachten und zugleich eine völlig offene Regierungsbildung zeitigen. Spanien hat gerade den Vorsitz im Europäischen Rat übernommen. Mit einer Nicht-Mehr-Noch-Nicht-Regierung ist das kein leichter Job, noch dazu im angebrochenen Jahr vor den kommenden Europawahlen.
Strommarktreform verschleppt – Studie zeigt, dass es anders geht
Nach dem wenig ehrgeizigen Kommissionsvorschlag brachte die Abstimmung des Industrieausschusses im Europäischen Parlament weder klima- noch sozialpolitisch akzeptable Positionen auf den Tisch, für die es sich lohnt, sich in der Auseinandersetzung mit den Mitgliedstaaten stark zu machen. Gleich in drei wesentlichen Punkten kritisiert Cornelia Ernst die Beschlüsse des Industrieausschusses zur Reform des Strommarktes:
„Es ist fatal, dass die sogenannte Merit-Order nicht angerührt wird. Das bedeutet, dass teure Gaskraftwerke weiterhin die Preissetzung für Strom bestimmen und die Kostenvorteile der Erneuerbaren nicht immer an die Endkund:innen weitergegeben werden. Hier wäre eine Entkoppelung dringend geboten gewesen.“
„Zweitens kann ich schwer nachvollziehen, dass staatliche Interventionen in die Preisbildung auf dem Strommarkt nur im extremen Krisenfall möglich sind. Als LINKE stehen wir grundsätzlich für eine Deckelung von Strompreisen, weil die Energieversorgung Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge und nicht entlang von Profitinteressen organisiert sein sollte.“
„Schließlich ist es bedauerlich, dass das Verbot von Stromsperren nicht für alle Kund:innen durchgesetzt werden soll. Dass Mitgliedsstaaten gegenüber Stromversorgern auch noch für mögliche Ertragsausfälle aufkommen sollen, zeigt, mit welch zahnlosem Bericht man es hier zu tun hat.“
Lichtblicke, denn wir können hier nicht locker lassen, gibt eine Studie, die im Auftrag der linken Delegation in Brüssel entstand, in der Dr. Christine Wörlen und Justus Heuer Vorschläge für eine sozial gerechte und auf erneuerbare Energien bezogene Reform des Strommarktes unterbreiten. Die Studie ist hier in Englisch verfügbar.
EU-Lateinamerika-Gipfel von Protesten begleitet
„Das Ziel des EU-Lateinamerika-Gipfels ist klar: Länder wie Brasilien, Argentinien und Mexiko sollen die Freihandelsabkommen der EU-Kommission endlich durchwinken. Zu groß der Hunger der europäischen Mitgliedstaaten auf kritische Rohstoffe, Wasserstoff und andere Ressourcen, um eigene Klimaneutralitätsziele zu erreichen und Wettbewerbspositionen europäischer Produzent:innen gegenüber China und den USA auf den lateinamerikanischen Binnenmärkten auszubauen. Für die lateinamerikanische Wirtschaft steht ebenso viel auf dem Spiel: bei öffentlichen Ausschreibungen werden mittelständische Unternehmen bald den Kürzeren gegenüber europäischen Weltmarktführern ziehen. Schwellenländern wie Argentinien, Brasilien und Chile droht damit mittelfristig eine De-Industrialisierungswelle. Zum Nutzen europäischer Abnehmer: Denn so wächst der Druck, Europa noch mehr Soja, Kupfer und Lithium zu liefern.“,
fassen Helmut Scholz und Cornelia Ernst aus unserer Delegation die Dramatik der Verhandlungen zusammen. Gegen diesen gefährlichen Ausverkauf setzten sich Aktivist*innen in ganz Brüssel zur Wehr, protestierten vorm Parlament und vor der Kommission, um auf eine gerechte Handelspolitik zu drängen.
Solange die Stärkung der
„regionale(n) Wertschöpfung in den Exportländern … höchste Umweltstandards und soziale Sorgfaltspflichten ….sowie insbesondere die Rechte indigener Gruppen…“
nicht die Handelsverträge prägen, stärken sie auch autoritäre Kräfte in Lateinamerika. Eine internationale Handelspolitik bedarf generell eines umfassenden demokratischen Dialogs mit KMU, NGOs, Gewerkschaften, Verbraucherschützer*innen und Klimaaktivist*innen und kann nicht durch hochrangige Gipfeltreffen ersetzt werden. Wenn sich die EU auf diesem Wege gegenüber der USA und China eigenständiger aufstellen will, so ist das alles andere als nachhaltig, so lange sie nicht im Innern ihre Investitionbremsen-Politik beendet und klimaneutralen Lösungen, ob in der Industrie, der öffentlichen Daseinsvorsorge, der Verwaltung oder der Forschung, auch vor Ort, den uneingeschränkten Vorrang einräumt. Diese Politik wird auch die Jagd nach seltenen Rohstoffen minimieren, die am Ende immer imperiale Politiken der Vergangenheit im neuen Gewand hervorrufen und weltweit mehr Konflikte hervorbringen als sie endlich zu befrieden. Insofern ist der Kampf für eine gerechte Handelspolitik immer auch nachhaltige Friedenspolitik.
Kulturausschuss geht mit einem Abstimmungsmarathon und Aussprachen zu den eigenen Programmen in die Sommerpause
Irgendwie hatte man bei der Debatte um die Programme, für die der Kulturausschuss besondere Verantwortung hat, wie immer einige Déjà-vus. Es geht um die Programme für Bildung: Erasmus+, Kultur und Medien, Creative Europe, das Freiwilligen-Programm mit dem militanten Namen Solidarity Corps und das Programm für die Förderung des demokratischen Dialogs – CERV (Programm für Bürgerinnen und Bürger, Gleichstellung, Rechte und Werte). Was für die Kultur und Medienförderung im Besonderen gilt, gilt für alle anderen Programme in abgeschwächter Form. Alle Programme sind hoffnungslos überzeichnet, werden so gut wie gar nicht auf die Nach-Corona-Situation mit den nun noch steigenden Energiepreisen angepasst, sondern dümpeln mit ihren kleinen Budgets (Ausnahme ist Erasmus+) am Rande des Erklärbaren. Überdies hatte der Rat gerade die grausige Idee entwickelt, bei dem Creative-Europe-Programm im Jahre 2024 auch noch 40 Millionen zu kürzen. Da geht der Ausschuss doch schwer davon aus, dass man diese Idee schnell wieder zu den geduldigen Akten legt.
Auch andere Probleme bei den Programmumsetzungen sind nicht neu: Wie werden die Wirkungen der Freiwilligenarbeit eigentlich kontrolliert und warum gibt es noch immer gravierende Probleme bei den Online-Plattformen des Solidarity Corps und bei Erasmus+?
Und immer hieß es, die Bewerbungen sollen vereinfacht werden, damit zum Beispiel bei Creative Europe gerade kleinere Projekte mehr Chancen haben, doch noch scheint es eher mehr Bewerbungsschritte als zuvor zu geben und damit sind Micro-Unternehmen als Bewerber beinahe ausgeschlossen. Auf die Kommission prasselte ein Fragenkatalog ein, der nicht nur bei den Klassikern, der Unterfinanzierung und der schwierigen Projekte-Abwicklung, verharrte, sondern auch die neuen Profile abfragte: Wie steht es um die Inklusion, um internationale Kulturbeziehungen oder die Erinnerungskultur?
Die Kommission gab dann Auskunft und wiederholte zum xten Male, dass der Haushalt für das Solidaritätskorps im nächsten mehrjährigen Finanzplan gesteigert werden muss, schwieg sicher aber über die anderen unterfinanzierten Programme aus. Zwar werden die Calls nach der Pandemie insbesondere für Erasmus+ um 12 Prozent aufgestockt, aber nun wird dies wieder zurückgefahren. Im europäischen Jugendportal gibt es derzeit 40 Prozent mehr Anträge als zuvor, wobei die Bezugsgröße im Dunkeln blieb. An den IT-Tools würde gearbeitet…
Direkt zu Creative Europe wurde dann versichert, dass der Musiksektor mit 52 Millionen Euro den größten Happen erhielt und im Buchsektor, literarische Übersetzungen ausgeweitet werden. Bei der Überzeichnung sollen wir nicht vergessen, dass das Programm immerhin 40 Ländern offen steht, auch wenn Deutschland und Frankreich sehr erfolgreich sind, sind eben auch Georgien, Serbien und Norwegen bei den Projekten gut vertreten, wenn auch unterbelichtet, gemessen an der Bevölkerung, wären auch erfolgreiche Projekte aus Spanien, Tunesien und der Ukraine aufzuführen. De facto können jedoch 500 Projekte bei 800 Antragsteller*innen nicht gefördert werden, obwohl sie alle eine hohe Qualität aufweisen. Damit liegt eigentlich der erhöhte Finanzierungsbedarf auf der Hand. Bekäme Creative Europe einfach des Doppelte, also ca. 5,6 Mrd. Euro in sieben Jahren, so wäre es immer noch eines der kleinsten Programme. Aber damit gibt es nun immerhin eine Richtschnur, was im nächsten Finanzrahmen unbedingt gefordert werden sollte. Wir sollten die Ergebnisse dieser Aussprache nutzen, um hier in den Implementierungsberichten, die derzeit entstehen, für die Jahre 2027-2034 die Weichen zu stellen.
Vor der parlamentarischen Sommerpause – Linke macht aufregenden Personal-Vorschlag für die Europawahl
Martina hatte auch im Regionalausschuss viele Abstimmungen und wird die Sommerpause nutzen, um bei verschiedenen Veranstaltungen in Deutschland Rede und Antwort zu stehen, auch um den Dialog zu einer linken Europolitik zu stärken. Immerhin hatte der Parteivorstand am Montag der vergangenen Woche eine Listenvorschlag für ein Spitzenteam zur Europawahl unterbreitet, der es in sich hatte und sogar europaweit bei Rechtsaußen Salvini Empörung zeitigte. Das gab es zuletzt 2009, dass eine Partei aus dem eher linken Spektrum als Opposition für Rechtsausleger gesehen wurde. Damals waren es noch die Grünen. Heute sind es ganz klar Linke, die einen Aufschrei in Europas Rassisten-Riege hervorriefen. Das allein schon ist nicht der schlechteste Ausgangspunkt, um mit einem klaren Programm in der Öffentlichkeit wieder wahrnehmbar zu sein. Doch die Seenotretterin Carola Rackete, die für die deutsche LINKE vorgeschlagen wurde, steht politisch vor allem für eine vorwärtsgewandte Klimapolitik. In Kombination mit dem Arzt und einstigen Bundespräsidenten-Kandidaten der LINKEN, Gerhard Trabert, der symbolisch für soziale Politik in ihrer ganzen Breite steht, wurden zwei Personen vorgeschlagen, die nicht direkt aus der Partei kommen und das erfahrene Spitzenteam von 2019, den inzwischen Parteivorsitzenden Martin Schirdewan und Özlem Demirel interessant komplettieren können. Immerhin schaffte es auch das Rauschen im deutschsprachigen Medienwald, diesen Vorschlag zu würdigen und nach allen Regeln der journalistischen Kunst zu interpretieren. Der Vorschlag war auf jeden Fall eine gelungene Kommunikation an die Öffentlichkeit, dass die oft attestierte Selbstbeschäftigung der LINKEN zugunsten einer neu erwachten Politikfähigkeit beendet werden kann. Das wird kein Spaziergang, aber motivierend ist der Vorschlag allemal. Stellvertretend für die viele Presse wollen wir hier ein Interview mit Carola Rackete und ihrem Team aus dem ND sprechen lassen, denn mit der Kandidatur ist offensichtlich auch ein strategisches Programm verbunden, dass das Spannungsfeld einer linken Partei und Bewegungen aus der gesellschaftspolitischen Linken neu definieren soll und zwar zum Vorteil beider sehr unterschiedlicher Akteure.
Vorgezogene Neuwahlen in Spanien
„Seit 21 Uhr (Sonntagabend) laufen die ersten Ergebnisse ein. Bisher wurden etwa drei Viertel der Stimmen ausgezählt. Demzufolge liefern sich das linke und rechte Lager ein knappes Rennen. Die konservative PP kam demnach auf 132 Mandate im neuen Parlament, die regierende PSOE von Ministerpräsident Pedro Sánchez auf 127; für die absolute Mehrheit werden 176 Sitze gebraucht.“
Die konservative PP, so sahen es viele Vorwahlbefragungen, könnte mit den nationalistischen faschistoiden VOX die neue spanische Regierung bilden, obwohl dieses Lager bis heute keinerlei Antworten auf die globalen Krisen gibt, sondern die Abwehr von Geflüchteten und das Aussitzen von Maßnahmen gegen den Klimawandel als Sicherungsoption sozialer Wohlfahrt verkauft, ohne jedoch soziale Sicherheit auch nur im Ansatz tatsächlich nachhaltig und über Ländergrenzen hinaus in Angriff zu nehmen.
„Wie Partnerparteien in Ungarn und Polen hat Vox ein sehr eigenes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit. Sie ist zudem euroskeptisch und trommelt dafür, linke Prestigeprojekte im Bereich Soziales, Minderheitenschutz und Umwelt zu kippen und hart gegen Separatisten durchzugreifen.“
Noch ist eine solche Konstellation nicht ausgehandelt, doch Spanien ist ein dramatisches Beispiel, auch für Linke zu klären und zu analysieren, warum sogar Regierungserfolge beim Management der Energiekrise und der Dämpfung von Mietsteigerungen keinen ausreichenden Widerhall bei den Bürgerinnen und Bürgern finden, um sicher eine Mitte-Links-Regierung fortzusetzen.
Am Morgen danach ist nun klar, dass PP mit Vox keine Regierungsmehrheit bilden kann, da das Mitte-Links-Lager besser abschnitt als erwartet. Yolanda Diaz sprach sogar von einem „Comeback“, obwohl sie zugleich einräumen musste, dass das neue linke Bündnis SUMAR nicht die erwarteten Ergebnisse erreichte. Gegenüber der Lage im linken Spektrum von 2019 mit dem Zusammenschluss rund um Podemos, verliert das neue linke Spektrum sogar sieben Sitze im Parlament, da es nur 12,4 Prozent der Stimmen erhielt und den dritten Platz verfehlte, so die Zusammenfassung in El Pais. Was durch unsere mitteleuropäische Brille oft kaum reflektiert wird, ist die spanische Wahldebatte um die separatistischen Bewegungen in Katalonien und im Baskenland, die sich nun jede Regierungsunterstützung wie immer teuer abkaufen lässt. Die Regierungsbildung wird also durchaus eine Quadratur einiger Kreise, vor allem auch, wenn die Sozialdemokratie um Sanchez zurückkommen sollte.