Das Gesetz zur Förderung der Munitionsproduktion ist ein Tabubruch

Etwa 220 000 Artilleriegeschosse und Mörsergranaten hätten die ukrainischen Streitkräfte über die neue EU-Initiative für Munitionslieferungen bereits erhalten, zusätzlich rund 1300 Raketen, so wurde in dieser Woche bekanntgegeben. Innerhalb von zwölf Monaten will die EU in der Lage sein, eine Million neue Artilleriegeschosse und Raketen für den Abwehrkrieg gegen Russland bereitzustellen. Sie sollen aus den Beständen der Mitgliedstaaten, aber auch über neue gemeinsame Beschaffungsprojekte organisiert werden. Vor drei Wochen legte die EU-Kommission einen Gesetzesentwurf zur Unterstützung der Steigerung der Munitions- und Raketenproduktion vor. Mit Zuschüssen von 500 Millionen Euro bis Juni 2025 soll die EU helfen, die Produktion hochzufahren.

Eine übergroße Mehrheit im Europaparlament hat sich ein paar Tage später dafür ausgesprochen, das „Gesetz zur Förderung der Munitionsproduktion“ im Schnellverfahren zu behandeln. Wie passend, ist doch die Abkürzung für den „Act in Support of Ammunition Production“ ASAP, was im Englischen für eigentlich für as soon as possible steht: so schnell wie möglich. Schon in der kommenden Woche soll das Parlament dem Rat und der Kommission seine Position in erster Lesung übermitteln. Während die Zielstellung, nämlich eben die Munitionsproduktion zu unterstützen, bei den meisten Fraktionen unumstritten ist, so gibt es doch einige Kritik am Gesetzentwurf, nicht nur wegen des Schnellverfahrens.

Unter anderem sollen im Bereich der Verteidigungsgüterproduktion Ausnahmen von der Arbeitszeitrichtlinie, also die Verlängerung von Arbeits- und Nachtschichten, längere Arbeitstage/-wochen sowie Wochenendarbeit ermöglicht werden. Darüber hinaus öffnet die Verordnung die Tür für die Umleitung von Mitteln aus gesellschaftlich bedeutsamen Fördertöpfen wie den EU-Strukturfonds ESF+ und EFRE (bis zu 5 % der Mittel) und der Corona-Wiederaufbau- und Resilienzfazilität. Auch enthält der Gesetzentwurf keine Folgenabschätzung und keine Konsultationen mit relevanten Interessenträgern – 18 Monate nach Kriegsbeginn – mit Dringlichkeit begründet wird. Kommissar Breton allerdings klopfte sich bei der Vorstellung von ASAP öffentlich dafür auf die Schulter, wie er in den vergangenen Monaten durch die Mitgliedstaaten und deren Rüstungsindustrielandschaft gereist sei.

Der Vorschlag, EU-Struktur- und Wiederaufbaufonds für Rüstungsproduktion einzusetzen ist ein Tabubruch, der immerhin für viel Aufregung sorgt und noch vor wenigen Monaten völlig undenkbar gewesen wäre. Zum einen bestimmt der EU-Vertrag im Art. 41 (2), dass „Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen“ nicht aus dem EU-Haushalt gedeckt werden. Zum anderen sind die Strukturfonds unsere Instrumente für strategische, langfristige Investitionen mit dem Ziel der Angleichung und Verbesserung der Lebensverhältnisse in allen Regionen der EU. Sie sind in den vergangenen Jahren mehrfach ausnahmsweise auch für Notfallmaßnahmen im Zusammenhang mit der Covid19-Pandemie und der Flüchtlings- und der Energiepreiskrise genutzt worden. Sie sollen den klimagerechten Strukturwandel voranbringen, in grüne, nachhaltige, soziale Wirtschaft und Industrie investieren. Unter anderem für den Ansatz solchen solidarischen Zusammenhalts hat die EU den Friedensnobelpreis erhalten. Kriegswirtschaft aber, auf die Binnenmarktkommissar Thierry Breton uns einschwören zu wollen scheint, ist weder sozial, noch ökologisch, noch wirtschaftlich nachhaltig.  Der Kommissar zeigt sich von dem Argument überzeugt, ausgerechnet mit Rüstungsproduktion deindustrialisierte, wirtschaftlich zurückgebliebene Regionen „wiederbeleben“ zu wollen und findet daher nichts Verwerfliches daran, dafür Gelder einzusetzen, die die regionale Entwicklung voranbringen sollten.

Es ist nicht vollständig auszuschließen, dass Strukturfondsinvestitionen in Infrastruktur, Ausbildung, Wirtschaftskreisläufe etc. in verschiedenen Regionen mittelbar auch Rüstungsindustriestandorten zugutekommen. Aber explizit gesetzlich zu fixieren damit wolle man Munitionsproduktion voranzutreiben, würde unserer Auffassung nach den so oft zitierten Charakter der EU als Friedensprojekt unglaubwürdig aussehen lassen. Dabei ist es ganz gleich, wie man zu Waffen- und Munitionshilfslieferungen an die Ukraine an sich steht. Im Ausschuss für Regionale Entwicklung scheint entsprechend die vorherrschende Meinung zu sein, dass diese Mittelübertragung sehr fragwürdig ist. Die Linksfraktion im Europaparlament hat beantragt, die Streichung der genannten Artikel per Plenarabstimmung einzufordern. Die Abstimmung findet am kommenden Donnerstag in Brüssel statt.

 

 

 

 

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