Martinas Woche 47_2022: Von Jubiläen und Cyber-Attacken
70 Jahre Europaparlament – Ukraine – Jugend – Frauen – Migrationsgipfel
Das Novemberplenum in Straßburg war randvoll mit Debatten, Festakten und Entscheidungen – von der Förderung von Frauen in Führungsetagen bis zur Ukraine-Hilfe. Freitag fand dann in Brüssel der Migrationsgipfel der Mitgliedstaaten statt, nachdem das Parlament am Mittwoch ausgiebig das schnelle Handeln angemahnt hatte. Erneut bot der Rat am Donnerstag eine weitere skandalöse Ratssitzung mit Wirtschafts- und Energieminister*innen, die sich wieder nicht auf einen Gaspreisdeckel einigen konnten.
Ein Wort in eigener Sache: Wegen akuter Arbeitsüberlastung in den sogenannten „Konferenzmonaten“ erscheint Martinas Woche derzeit etwas unregelmäßig und nicht konsequent im Wochenrhythmus. Doch keine Sorge: Wir fassen neben aktuellen politischen Kommentaren, Literaturtipps u. ä. alle parlamentarischen und außerparlamentarischen Ereignisse aus der Perspektive unseres Büros zusammen, bei denen wir dabei sind und über die wir berichten können, z. B. werden wir beim Kongress der Partei der Europäischen Linken (EL), der vom 9. bis 11. Dezember 2022 in Wien tagt, mit Konstanze Kriese in der Delegation der Linken aus Deutschland vertreten sein.
Das Europaparlament wird 70 und beweist Pluralismus in seltsamer Form
Der belgische Ministerpräsident Alexander de Croo, der luxemburgische Premierminister Xavier Bettel und die französische Premierministerin Élisabeth Borne waren die Gäste der feierlichen Zeremonie angesichts des 70. Jahrestag des Bestehens des Europaparlaments. 1952 gegründet, existiert es jedoch in der heutigen Form als einziges gewähltes Gremium der Europäischen gesetzgebenden Institutionen erst seit 1979. Sanfte Kritik an noch immer ausbleibenden legislativen Rechten des Parlaments, zum Beispiel die Basis-Kompetenz selbst Gesetzesinitiativen vorzuschlagen, die bisher grundlegend bei der Kommission liegt, begleitete die achtungsvollen Reden der Gäste und der meisten Fraktionsvorsitzenden beim Aufwuchs demokratischer Verfahren und dem Einklagen von Solidarität und Humanität, die endlich bis in die Migrationspolitik verwirklich werde müssten. Doch dann schüttete – nicht ganz unerwartet – der Fraktionsvorsitzende der EKR, Ryszard Antoni Legutko, mal wider das Kind mit dem Bade aus. Statt die nötige Kritik an mangelnder Demokratie zu radikalisieren, kritisierte er de facto den europäischen Ansatz der politischen Debatten und Entscheidungen und behauptete, dass das Europaparlament viel Schaden angerichtet habe, weil es die Idee des europäischen Projektes vor die Vertretung europäischer Nationen stelle. Der mehrheitliche Unmut über diesen Redebeitrag war nicht zu überhören. Die Parlamentspräsidentin Roberta Metsola verkündete daraufhin diplomatisch, dass die EKR nun gezeigt habe, dass Pluralismus und Vielfalt in einem demokratisch wirkenden Parlament auch derartige Generalkritiken ertragen.
Fraktionsgäste vorm EU-Migrationsgipfel
In unserer Fraktionssitzung am vergangenen Dienstag waren Hermine Poschmann von Mission Lifeline, Marie Thomas von SOS Mediterranee France und Sophie Scheytt zu Gast. Sie schilderten unglaubliche Behinderungen bei der Seenotrettung, die das Internationale Seerecht achtet und für die es eigentlich keinerlei neue Rechtsrahmen bräuchte außer der Bereitstellung einer staatlich und europäisch organisierten Seenotrettung und einer humanen Asylpolitik. Die drei mutigen Frauen bewerten den neuen Aktionsplan der EU-Kommission und befanden es als besonders skurrile Idee, dass nun ausgerechnet FRONTEX wieder eine große Rolle bei der Evaluierung der Rettungssituationen im Mittelmeer übernehmen soll. Die Grenzschutz-Agentur, so die EU-Ermittlungsbehörde OLAF, hat mindestens elf Mal in diesen Zusammenhängen gelogen und die Kommission gar als „menschenrechtsbesessen“ bezeichnet. Was also ist solch ein Aktionsplan wert? Dazu hat die Debatte erneut begonnen, am vergangenen Mittwoch im Parlament in Straßburg und am Freitag, 25. November 2022, dann in Brüssel und man wünschte sich diesmal schnelle Einigungen auch im Europäischen Rat, der inzwischen seit fünf Jahren vernünftige europäische Lösungen aussitzt und stattdessen den EU-Türkei-Deal oder die unerträgliche Zusammenarbeit mit der libyschen Küstenwache stützt. Der Link zum Aktionsplan ist hier zu finden.
Dass die Presse dann von einem Krisentreffen der Mitgliedstaaten am vergangenen Freitag berichtet, wundert kaum. Die SZ hat die verfahrene Lage drastisch zusammengefasst. Nun ist der nächste Migrations-(Krisen)-Gipfel für den 8. Dezember 2022 vereinbart.
Ukrainehilfen wurden massiv ausgeweitet
Am Mittwochnachmittag waren die Homepages des Europaparlaments nicht erreichbar. Cyberattacken auf die Server schienen die sonst so transparenten Debatten des Parlaments zu beerdigen. All dies geschah ausgerechnet nach einer Entschließung, in der die Russische Föderation als staatlicher Unterstützer des Terrorismus eingestuft wurde. Derartige ideologische Schnellschüsse lassen schon die Frage aufkommen, was solche Resolutionen für eine Beendigung des russischen Angriffskrieges bringen sollen. Sicherlich kann man russische paramilitärische Organisation wie die „Gruppe Wagner“, das 141. Regiment der russischen Garde und andere von Russland finanzierte bewaffnete Gruppen auf die EU-Terrorliste setzen, doch auch andere Länder, die völkerrechtswidrig in Nachbarstaaten eindringen, nutzen Söldnergruppen, ohne dafür bisher ins Visier derartiger Parlamentsresolutionen zu kommen. Erdoğans, Raisis, Alijevs Wirken oder das Handeln der libysche Küstenwache hätten im Vergleich mindestens ebenso scharfe politische Verurteilung verdient. Und ob wir damit politisch wirklich ein Stück weiter sind, diplomatisch vorankommen, um Konflikte lösbar zu machen, steht auf einem anderen Blatt.
Neben der Resolution gab es auch eine Abstimmung über die Verordnungen zur finanziellen Unterstützung der Ukraine durch die EU. Das Paket für die finanzielle Unterstützung der Ukraine ändert
1. die Verordnung zum mehrjährigen Finanzrahmen, um die derzeit für die Darlehen an die Mitgliedstaaten geltende Haushaltsdeckung auch auf 2023 und 2024 auszuweiten zu können,
2. die Haushaltsordnung, um die Kreditaufnahme auf der Grundlage einer mehrgleisigen Finanzierungsstrategie zu ermöglichen und
3. enthält einen Vorschlag für eine Makrofinanzhilfe+, um der Ukraine 2023 eine finanzielle Entlastung in Höhe von 18 Mrd. Euro in Form von Darlehen zu sehr günstigen Konditionen zu gewähren.
Helmut Scholz kommentierte diese veränderten Verordnungen, denn er vermisste zurecht klassische Standards, die ansonsten an solche Finanzhilfen gebunden werden, wie die Einhaltung gewerkschaftlicher und menschenrechtlicher Standards, und forderte die Kommission auf, dies klarer zu kontrollieren.
Kritische Debatte zum Jahr der Jugend 2022
Am Donnerstagvormittag wurde das Europäische Jahr der Jugend 2022 auf den Prüfstand gestellt. Mit deutlicher und konstruktiver Kritik der Kultur-Ausschussvorsitzenden Sabine Verheyen (CDU) nach dem blassen Eigenlob des Kommissars Breton, hob sie zunächst hervor, dass wohl nicht so viele junge Menschen mitbekommen haben, dass ein besonderes Jahr der Jugend überhaupt stattgefunden hat. In der Aussprache wurden klare und noch immer nicht eingelöste Forderungen wiederholt, zu denen bezahlte Praktika genauso gehören wie Strukturen, die eine stabile Mitbestimmung sichern, denn großartige Veranstaltungen können dies nicht ersetzen. Den Orden für „Hass und Hetze“ erhielt nach dieser Debatte eine Vertreterin des Rassemblement National, die „Jugend“ kurzerhand zum Kampfbegriff des Feminismus und Islamismus erklärte und auch ansonsten nichts Konstruktives zur Debatte beizutragen hatte.
Frauen in Führungspositionen
Endlich, endlich haben die Abgeordneten den vom Europäischen Rat ewig blockierten Vorschlag zur Verbesserung des Geschlechterverhältnisses in den Unternehmensvorständen in der EU angenommen. Zehn Jahre hat es gedauert, bis dieser Text geeint getragen wurde. Das Europäische Parlament war hier klar der Motor für den nun bis 2026 zu erreichenden Mindestanteils von 33 Prozent weiblichen Mitgliedern in den Vorständen. Die Richtlinie wird die Vertretung von Frauen in den Leitungsorganen von börsennotierten Unternehmen verbessern. Eine Sperrminorität, angeführt von Deutschland, machte es unmöglich, bis zum Frühjahr 2022 diese Ziele zu verabschieden. Trotzdem ist dies nur ein Ausschnitt dessen, was bisher bei gesellschaftlich breiter Gleichstellung fehlt. Viele Frauenberufe werden bis heute schlecht bezahlt und dies ändern sich durch diese Richtlinie wohl kaum. Also heißt es für das gesamte Themenfeld der Geschlechtergerechtigkeit: Wir lassen nicht locker, es gibt unendlich viel zu tun!