Das Schicksal der EU entscheidet sich beim Thema Asyl
Auftaktveranstaltung zur neuen Online-Reihe Zukunft Europa der europäischen Linken
Eine Zukunftskonferenz, die über einen Zeitraum von zwei Jahren einen Entwurf für ein krisenfestes und solidarisches Europa zustande bringen soll und dazu möglichst alle Europäer*innen (Bürger*innen, Politiker*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen) mit an Bord holt – das hatte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach ihrem Amtsantritt versprochen. Die Konferenz soll Politik, Zivilgesellschaft und Bürger*innen zusammenbringen, um den Integrationsprozess zu überdenken und auszuloten, wie eine andere Europäische Union aussehen könnte. Wie diese Konferenz unter den gegenwärtigen Bedingungen realisiert wird, ist noch unklar. Dennoch will sich die europäische Linke aktiv in die Debatte um die Zukunft der EU einbringen – und hat jetzt vorab ein eigenes Format gestartet: eine fünfteilige virtuelle Diskussionsreihe, in deren Mittelpunkt die drängendsten aktuellen Fragen Europas stehen. Den Auftakt zu der Reihe, gemeinsam organisiert von DIE LINKE im Europäischen Parlament, GUE/NGL und dem Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), machte am 13. Oktober die Debatte zu Migration und Asyl. Am 27. Oktober wird es um die Klimakrise und Vorschläge für einen Red Green New Deal gehen.
Die wichtigste Erkenntnis des Abends vorneweg: An der Asylpolitik wird sich auch das Schicksal Europas entscheiden. Darin jedenfalls waren sich die Referenten*innen der Auftaktdebatte zum neuen Diskussionsforum Zukunft Europa einig. Helmut Scholz, Europaabgeordneter (DIE LINKE) und Initiator der Veranstaltungsreihe, fand gleich zu Anfang deutliche Worte: „Beim Thema Asyl wird das Versagen der Europäischen Union seit Jahr und Tag am deutlichsten.“ Fraktionskollegin Cornelia Ernst bekräftigte: „Wer nach einem Bild für menschliches Elend sucht, der findet es im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos.“ Und Marina Oshana, Büroleiterin des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Athen, zeigte sich erschüttert darüber, dass in Griechenland und anderen so genannten Flüchtlings-„Hotspots“, zivilgesellschaftliche Akteur*innen die Aufgaben erledigen, „die eigentlich die Staaten übernehmen müssen“, und zu denen diese sich auch vertraglich verpflichtet hätten. Dem neuen EU-Migrationspakt, von der Kommission am 23. September als „frischer Neuanfang“ präsentiert, erteilten alle Diskutant*innen eine klare Absage.
Zum Auftakt der Diskussion ging Helmut Scholz, der auch Mitglied im Parlamentsausschuss für konstitutionelle Fragen ist, zunächst auf die Gesamtlage der EU ein. Diese brauche eine komplett neue Governance und eine neue vertragliche Basis zwischen den Mitgliedstaaten. Die Frage sei jedoch, wie eine solche, zukunftsfähige Governance aussehen müsse und welche Reformen beziehungsweise Vertragsänderungen „annehmbar für die Menschen“ seien. In dieser Frage, so räumte Scholz ein, seien sich auch die Linken untereinander nicht immer einig. Mit Blick auf das Hauptthema Asyl verwies Scholz auf den Lissaboner Vertrag von 2009, der die EU institutionell reformieren und demokratischer machen sollte. In Artikel 67 wurde damals die baldige Entwicklung und Umsetzung einer gemeinsamen und solidarischen EU-Asylpolitik festgeschrieben. Scholz: „Da kann man nur sagen: Note 5. Völlig verfehlt.“
Bündnis gegen den Migrationspakt
Cornelia Ernst sieht das genauso. Der neue Migrationspakt hebe die Missstände dieser verfehlten Asyl- und Flüchtlingspolitik nicht auf. Ernst: „Wir müssen uns daher mit allen verbünden, die gegen den Pakt kämpfen.“ Dazu sei auch eine enge Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Nichtregierungsorganisationen, wie zum Beispiel Sea Watch, nötig. Eine digitale Plattform für dauerhaften Informations-Austausch ist nach ihren Worten bereits im Aufbau. Ernst, die unter anderem Mitglied im EU-Parlamentsausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres ist, begründet ihre Ablehnung des Migrationspaktes damit, dass dieser weiterhin auf drei – aus ihrer Sicht – fragwürdigen Säulen stehe. 1. die Kooperation mit Drittstatten für die Rückführung von Geflüchteten (diese Staaten seien keineswegs so sicher, wie von der EU behauptet), 2. die Stärkung von Grenzabwehr-Einrichtungen, wie Frontex und 3. „eine Regelung zur Rückführung der Geflüchteten, die dann noch irgendwie übrig bleiben“. Damit sei auch der neue Pakt insgesamt auf Abwehr und Abbau von Rechten ausgerichtet. Forderung der Linken, so Ernst weiter, müsse es sein, die Asyltatbestände nicht immer weiter abzubauen, sondern zu schützen. Ferner müsse die Praxis, in der Flüchtlingspolitik „alles zu tun, was der Nationalismus eines Mitgliedstaates gebietet“, beendet werden. Wer sich seiner gemeinsamen Verantwortung bei der Migration entziehe, „der soll nicht auch noch mit Geld belohnt werden“. Die Dublin-Verordnung, die seit 2013 bereits in dritter Fassung existiert, ist nach Ansicht von Ernst gescheitert. Mit diesem Übereinkommen soll geregelt werden, welcher EU-Mitgliedstaat für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf Schutz und Asyl zuständig ist. Ziel dabei ist es, Anträge nur von einem Staat prüfen zu lassen. Außerdem solle kein Mitgliedstaat überlastet werden. Ernst: „Da komme ich aber aus dem Lachen nicht mehr heraus“. Tatsächlich sei von europäischer Solidarität in dieser Frage nichts zu spüren – auch nicht zwischen den EU-Gremien. Der Rat torpediere die Beschlüsse des Parlaments. Deshalb, so Ernst „brauchen wir ein starkes Parlament“, das die alleinige Hoheit über das betreffende Haushaltsbudget habe. Weiterhin fordert die Europapolitikerin einen verbindlichen Verteilungsmechanismus mit klarem Kriterienkatalog, besondere Regeln für extrem schutzbedürftige Geflüchtete wie Minderjährige oder Traumatisierte, sichere Wege nach Europa, die Erleichterung legaler Arbeitsmigration (Ernst: „Dazu gibt es von der Kommission keinen einzigen Vorschlag“) und insgesamt eine „humanitäre Vision“ als Grundlage der Asylpolitik.
„Schleichende Entrechtung und Willkür“
Maria Oshana, aus dem Athener RLS-Büro schilderte ihre konkreten Erfahrungen mit der Flüchtlingspolitik vor Ort. Dort übernähmen inzwischen zivilgesellschaftliche Akteure die Aufgabe des Staates – und kümmerten sich darum, dass diese „wenigstens minimal versorgt“ seien. So wachse der Widerspruch zwischen der Regierung und der Zivilgesellschaft in Griechenland. Die Regierung stehe hinter dem neuen Migrationspakt, denn der Krisenmechanismus, den das Land gefordert habe um die Aufnahme weiterer Geflüchteter (etwa von der Türkei herübergelassen) zu stoppen, sei ja darin enthalten. Oshana selbst erkennt in dem Pakt „wenig Neues“. Dort sei vielmehr in Text gegossen worden, was zuvor schon praktiziert wurde. Oshanas Urteil: „Das ist die Fortsetzung der Willkür“. Als Beispiel nannte sie das Recht auf Familienzusammenführung in Deutschland, das Tausende Menschen in Griechenland theoretisch besäßen. Dieses sei immer mehr begrenzt und dann 2017 ganz ausgesetzt worden – eine „schleichende Entrechtung“, wie Oshana das nennt. Ein zweites Beispiel ist nach ihrer Meinung die Seenotrettung. Es könne nicht sein, dass bei jedem Schiff neu über Zuständigkeiten verhandelt werden muss, obwohl die eigentlich auf dem Papier klar seien. Nach Oshanas Einschätzung hat Griechenland „keine wirkliche Migrationspolitik“ oder ein ausformuliertes Migrationsrecht. Verständnis hingegen zeigte sie für die Perspektive der Griechen, wonach einige EU-Mitgliedstaaten, zum Beispiel Frankreich und Deutschland, das Problem externalisieren und auf Länder an den EU-Außengrenzen abwälzen.
Marie Naaß von Sea-Watch Berlin reihte sich in die Kritik am neuen Migrationspakt ein – mit ebenfalls klaren Worten. Mit dem Pakt werde die „rassistische Abschottungspolitik der EU auf eine neue Stufe gestellt“. Der Pakt schaffe de facto das Recht auf Asyl ab und koste Menschenleben. Sie beklagte auch, dass Organisationen wie Sea-Watch immer mehr kriminalisiert würden. „Das ist jedoch nur eine Ablenkung vom Versagen der EU-Flüchtlingspolitik.“
In der anschließenden allgemeinen Diskussion wurden nochmal einzelne Aspekte eingehender beleuchtet. So wies Maria Oshana auf den Vorschlag der Politikwissenschaftlerin und Präsidentin der Humboldt-Viadrina School of Governance, Gesine Schwan, hin, wonach Kommunen, die Geflüchtete aufnehmen, finanzielle Zuwendung – nicht nur für die Unterbringung dieser Menschen, sondern für die Kommune selbst zur Förderung der Integration – erhalten sollten. Cornelia Ernst zeigte sich skeptisch: Viele Kommunen würden wohl trotz solcher Anreize keine weiteren Geflüchteten willkommen heißen. Und auch Oshana selbst räumte ein, dass mit finanziellen Zuwendungen auch immer eine Kontrolle über deren Verwendung einhergehen müsse. Oshana: „Die griechische Regierung zum Beispiel ist ja bereit, Geflüchtete aufzunehmen, aber sie hält die Mindeststandards für deren Behandlung, Unterbringung und Versorgung nicht ein.“ Und so seien etliche Milliarden, die Griechenland zu diesem Zweck erhalten habe, letztlich „mit keinem Cent“ in die Migration geflossen.
Wie kommt man an alle Bürger*innen ran?
Zum Schluss der Debatte betonten alle Redner*innen noch einmal die Wichtigkeit künftiger Dialogforen mit den Bürger*innen zur Zukunft Europas. Allerdings sei die Frage, wie man überhaupt an diese Bürger*innen und die mannigfaltigen Stakeholder herankomme, nicht einfach zu beantworten. Maria Oshana schlug vor, dass in dem jetzt von der europäischen Linken organisierten Zukunfts-Forum künftig Akteur*innen aus unterschiedlichen EU-Ländern zur Sprache kommen sollten, um eine verengte deutsche Perspektive zu vermeiden. Zudem wies sie darauf hin, dass viele Menschen, die in der EU leben, gar keine gleichwertigen Rechte als EU-Bürger*innen haben – inklusive der Geflüchteten. Gerade sie müssten aber vom Zukunftsdialog mitgenommen werden. Auch Helmut Scholz betonte abschließend noch einmal, dass wirklich mit allen diskutiert werden müsse, Nichtregierungsorganisationen wie die Seenot-Retter*innen und Migrant*innen eingeschlossen. Allerdings plädierte er auch dafür, den Dialog nicht zu überfrachten. Ein wichtiges Fazit des Abends zog Cornelia Ernst: „Die Zukunft der EU muss man mit der Zukunft der Asylfrage verbinden.“
Ein bisschen offen blieb indes, wie die europäische Linke nicht nur ihren eigenen Zukunftsdialog weiter gestalten will, sondern welche praktischen Vorschläge sie in Richtung von der Leyen für deren geplante EU Zukunftskonferenz hat. Zudem mangelte es bei dieser Auftaktveranstaltung – noch – ein wenig an externer Beteiligung. Doch die Organisatoren hoffen, dass sich das in den nächsten Runden ändert, sobald die neue Reihe ein bisschen bekannter geworden ist.
Im Überblick: Kernthesen und Forderungen
-
- Ohne Vertragsänderung und neue governance gibt es für die EU keine Zukunft. (Scholz)
- Wir müssen herausfinden, welche Vertragsänderungen für die Menschen annehmbar sind. (Scholz)
- Der neue Pakt für Migration und Asyl hebt die Missstände in der europäischen Flüchtlingspolitik nicht auf. (Ernst)
- Flüchtlings-Hotspots in Italien und Griechenland müssen aufgelöst werden. (Ernst)
- Asyltatbestände müssen geschützt und nicht abgebaut werden. (Ernst)
- Legale Arbeitsmigration muss erleichtert werden. (Ernst)
- Wir brauchen ein starkes EU-Parlament in der Asylfrage. (Ernst)
- Es gibt keine harmonisierte Asylpolitik in der EU, nur eine harmonisierte Abwehrpolitik. (Oshana)
- Beim Thema Familienzusammenführung für Flüchtlinge gibt es seit 2017 eine schleichende Entrechtung. (Oshana)
- Aus griechischer Sicht wird die Flüchtlings- und Asylpolitik von z.B. Deutschland und Frankreich externalisiert und an die EU-Außengrenzen verlagert. (Oshana)
- Viele, die in der EU leben, sind keine wahlberechtigten EU-Bürger*innen. Gerade diese müssen aber auch in jeden künftigen EU-Zukunftsdialog eingebunden sein. Darauf muss die Linke achten. (Oshana)
- Ein inklusiver Dialogprozess zur Zukunft der EU mit unterschiedlichen Gruppen, inklusive Geflüchteter oder z.B. Seenot-Retter*innen muss so oder so stattfinden – auch unabhängig von der Asylfrage. (Scholz)