Martin Schirdewan
Martin Schirdewan

8. Mai 1945 – Europatag am 9. Mai – Bücherverbrennung 1933 – Covid-19, Datenschutz und Diskriminierung – ESM – Bundesverfassungsgerichtsurteil

In dieser Woche fiel die Parade auf dem Roten Platz aus, doch der 75. Jahrestag des Sieges über den Hitler-Faschismus ist in der politischen Auseinandersetzung allgegenwärtig. In Berlin war er sogar ein Feiertag. Auch der 9. Mai, der Europatag, der in diesem Jahr verbunden ist mit dem 70. Jubiläum der Schumann-Erklärung, wurde – wie so viele Kommunikation – eher online begangen. Am heutigen Sonntag erinnern wir ebenfalls an das Grauen: die Bücherverbrennung durch die Nazis 1933.

Am 23. April 2020 entschied der Europäische Rat, also die Regierungsvertreter*innen, die sich nicht abschießend einigen konnten, wie sie europäisch aus der Krise kommen wollen, dass die Kommission bis zum 6. Mai 2020 einen Vorschlag vorlegen soll, wie der „Wiederaufbau-Fonds“ (Recovery Fonds) inmitten der Covid19-Krise nun genau aussehen soll. Auf diesen Vorschlag warten wir noch heute. In drei Teilen widmen wir uns noch einmal dem einfachen Umstand, dass Staatsschulden ein ganz normales politisches Instrument sind, um Investitionen anzukurbeln. In Krisenzeiten weiß dies eigentlich jedes Kind. Doch nicht einmal da schafft es die Europäische Union, einen gemeinsamen Mechanismus zu entwickeln der verhindert, dass es Krisengewinner und -verlierer geben wird.

Die Corona-Pandemie und die Lockerungsdebatten nach dem Lockdown seit März 2020, um das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, geistern nicht nur durch die deutsche Politik und Praxis. Fake-News und ernstzunehmende, aber nicht minder abstruse Vorschläge produzieren einen ganz schwierigen Jahrmarkt der politischen Debatten. Darinnen sollten Linke einen kühlen Kopf bewahren und gute Vorschläge öffentlich diskutieren: Wie wir solidarisch aus der Krise kommen und dabei nicht alle anderen Krisen vernachlässigen, die wir längst noch nicht geschultert haben. Das reicht von der globalen Ungerechtigkeit bis zu Migration aus purer Existenznot und Verfolgung, vom fortschreitenden Klimawandel bis zur Digitalisierung, vom gerade in die Online-Medien verbannten Kulturaustauschbis zu Bildung für alle. Hier werden wir sicherlich mehr in der kommenden Woche berichten, denn in der kommenden Woche, von Mittwoch bis Samstag, vom 13. bis 16. Mai 2020, tagt das Europaparlament.

 

Tag der Befreiung – Tag des Sieges – 8./9. Mai 1945

Der Tag der Befreiung soll endlich ein europaweiter Feiertag werden. Die Auschwitz-Überlebende und Musikerin Esther Bejarano forderte dies dieser Tage mit einem beachtlichen öffentlichen Widerhall.

Der Tag der Befreiung musste jedoch auch einmal mehr vom Meister der Grenzüberschreitung humanistischer Grundpfeiler, Alexander Gauland (AfD), angegriffen werden. Mit seiner widerlichen, relativierenden Bezeichnung des 8. Mai als „Tag des Verlustes … von Gestaltungsmöglichkeiten“ setzte wieder die Provokations- und Kritiken-Kommunikation ein und man fragt sich wirklich, wie lange sich eine demokratische Gesellschaft diese Stimmen noch in Talkshows leisten muss. Wer solchen politischen Kräften ein Podium bietet, sollte sich der Instrumentalisierung in einem Spiel bewusst sein, in dem Feinde der Demokratie immer aufrufen werden, dass sie in einer Demokratie gehört werden müssen, als ob eine demokratische Debatte besonders geschichtslos und beliebig ist. Doch die Instrumentalisierung von Geschichte ist auch europaweit und international nicht neu, wie die SZ in einem erhellenden Interview mit Alexey Miller beisteuert. Wir haben dies schon im Februar mit Martina Michels und Cornelia Ernst bei einer Veranstaltung in Brüssel anhand der Geschichtsresolution des Europaparlaments vom 19. September 2019 diskutiert und im Vorfeld dieser Veranstaltung hatte Konstanze Kriese Hintergründe zu dieser Resolution in einem Policy Paper vorgestellt.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau beteiligte sich an einer Konferenz, die wegen der Covid-19-Pandemie kurzerhand in eine online-Portal umgewandelt wurde und dieser Tagen als eine mehrsprachige Website zur europäischen Geschichtsdebatte veröffentlicht wurde. Ein mutiges Projekt, das uns neue Perspektiven eröffnet.

 

Europatag – 9. Mai 1950

Auch der 9. Mai, der Europatag, der in diesem Jahr verbunden mit dem 70. Jubiläum der Schumann-Erklärung ist, wurde – wie derzeit so viele Kommunikation eher online begangen. Vergessen wir alle nicht, wie früh schon alles begann, was als Lehre des Kriegsendes auch in die Europäische Union führte, deren mangelhaftes Friedensgebot wie die Demokratiedefizite heute ein ausgewachsenes Problem darstellen, um ein geeintes Europa zu leben. „Der Augenblick ist gekommen, um den veralteten Ballast über Bord zu werfen und sich für den kommenden Umbruch bereit zu halten, der so ganz anders ist, als man ihn sich vorgestellt hat. […] Der Weg, der uns erwartet, wird weder bequem noch sicher sein. Wir müssen ihn jedoch beschreiten, und wir werden es tun!“, zitieren Martina Michels und Helmut Scholz aus dem Manifest von Ventotene von 1941, verfasst von Altiero Spinelli und Ernesto Rossi, die mit diesem Dokument einem neuen sozialen, demokratischen Europa mitten in der Gefangenschaft Hoffnung verleihen. In weiteren Überlegungen weisen Helmut und Martina auf das Integrationsversprechen, dass mit der Schumann-Erklärung 1950 eingeleitet wurde und in der von der Kommission angedachten Zukunftskonferenz nun erneut auf den Prüfstand sollte. Mit dem Krisenbewältigungsauftrag durch die Corona-Pandemie ist das Bündel an Herausforderungen noch gewachsen. Der Preis einer verfehlten Europäischen Poliik wäre viel zu hoch, zumal sich bereits Bürgerinnen und Bürger einiger Mitgliedsländer von der gemeinsamen Idee abwenden.

 

Bücherverbrennung – 10. Mai 1933

Am 10. Mai 1933 verbrannten die Nazis Bücher: Literatur, Gedichte, Essays, deren Humanismus ungebrochen ist. Erich Mühsam, einer der verfemten Schriftsteller, gehörte dann zu den frühen Opfern des Nationalsozialismus. Er wurde bereits 1934 im KZ Oranienburg ermordet, doch verfolgt wurde er wegen seines politischen Engagements in der Münchner Räterepublik schon lange. An diesem 10. Mai 1933 wurden auch seine Werke in die Flammen geworfen.

Inzwischen sind viele seiner Schriften neu editiert und nachlesbar. „Sich fügen heißt lügen!“, schrieb Mühsam, schon eingekerkert. Als Schriftsteller und Politiker, als Anarchist und Antimilitarist ist er, wie so viele, die ermordet oder ins Exil getrieben wurden, einer der Zeitzeugen, die uns nur noch aus Büchern berichten können. 

In der DDR wurde der 10. Mai als „Tag des freien Buches“ begangen. Erst nach der Vereinigung wurde am 20. März 1995 auf dem Berliner Bebelplatz gegenüber der Humboldt-Universität ein Gedenkort eingeweiht. Der jüdische Künstler Micha Ullman entwarf das Denkmal als Glasbodenplatte in der Gehfläche, die einen Blick auf einen leeren Regalraum freigibt und auch nachts beleuchtet ist.
 

Richtig Schulden machen! – Teil 1: Frühjahrsbericht der Europäischen Kommission

Einer der Streitpunkte, der die Europäische Solidarität erneut auf eine harte Probe stellt, sind Corona-Bonds. Wird es eine gemeinsame Schuldenaufnahme geben oder wird sich wieder, wie nach der Eurokrise jedes Land entsprechend seiner Bonität verschulden und damit ganz unterschiedliche Startbedingungen und anschließende Staatsverschuldungen haben, um notwendige Investitionen in kaputt gesparte Gesundheitssysteme, in einen sozial-ökologischen Umbau, vor allem auch in der Industrie, in Dienstleistung und Kultur zu tätigen? Der Entwurf, der bis zum 6. Mai 2020 von der Kommission vorgelegt werden sollte, ist noch in Arbeit. Doch um uns die Quadratur des Kreises noch einmal richtig vor Augen zu führen, hat die Kommission am 6. Mai ihren Frühjahrsbericht vorgestellt, der den salomonischen Titel trägt: „Frühjahrsprognose 2020: Tiefe und ungleichmäßige Rezession, ungewisse Erholung“. Darin sagt der Vizepräsident der Kommission, Valdis Dombrovskis, „Wir haben es hier mit einem symmetrischen Schock zu tun: Sämtliche EU-Länder sind betroffen und dürften in diesem Jahr eine Rezession kaum vermeiden können. Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben sich bereits auf außerordentliche Maßnahmen zur Abmilderung der Auswirkungen geeinigt. Die kollektive Erholung wird davon abhängen, dass wir auf europäischer und auf nationaler Ebene konsequent, entschlossen und gut abgestimmt reagieren. Gemeinsam sind wir stärker.“ Geduldig warten, ist der falsche Weg, weshalb unsere Fraktion schon einmal vorgelegt hat, wohin die Reise gehen muss.

 

Richtig Schulden machen! – Teil 2: „Der ESM gehört in die Mottenkiste der Geschichte!“

sagen die beiden Ersteller*innen eines Berichts zum Stabilitäts- und Wachstumspakt (ESM). Emma Clancy und Martin Schirdewan haben am Dienstag ihren Bericht vorgestellt, der eindrucksvoll auflistet, zu welch irrsinnigen politischen Kahlschlägen die Europäische Sparpolitik in den letzten Jahren beigetragen hat. Dahinter liegt eine abstruse Ideologie, dass Staatsverschuldungen dasselbe seien, wie individuelle Schulden und besser gar nicht existieren sollten. Doch ein Blick einer schwäbischen Hausfrau auf Verschuldungsgrenzen von Staatswesen verkennt völlig, dass Schulden gute Investitionspakete sein können, dass man sie zum politischen Umsteuern braucht, wenn Digitalisierung oder der Kampf gegen den Klimawandel ins Stocken gerät, denn sonst könnten die gesellschaftlichen Kosten in der Zukunft viel höher ausfallen, als dem Schmalspurbetriebswirt lieb ist. „Der Stabilitäts- und Wachstumspakt gehört in die Mottenkiste der Geschichte! Volkswirtschaften und Gesellschaften müssen sich radikal ändern angesichts der wachsenden Ungleichheit, des drohenden Klimawandels und der Auswirkungen der Digitalisierung. Diese große Aufgabe darf nicht ‚Marktmechanismen‘ überlassen werden. Ein solcher Wandel erfordert umfangreiche, koordinierte und nachhaltige öffentliche Investitionen. Wer etwa Klimaschutz fordert, aber gleichzeitig auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt beharrt, wird scheitern, bevor es überhaupt losgegangen ist.“, fassen Glancy und Schirdewan einen finanzpolitisch sinnvollen Politikwechsel zusammen. In ihrem Bericht listen sie denn auch die Folgen des ESM auf. Zum Beispiel wurde Regierungen 63 mal dazu angehalten, ihre Gesundheitssysteme zu privatisieren, 50 mal wurden Lohnkürzungen vorgeschlagen und ähnliches. Ein lesenswerter Beitrag über eine wirtschafts- und finanzpolitische Fehlsteuerung, die wir derzeit auch in der Corona-Krise spüren.

 

Richtig Schulden machen! – Teil 3: Das Bundesverfassungsgericht urteilt Seltsames

Es mag ja im Auftrag des Bundesverfassungsgerichtes stecken, das es eine sehr nationale Brille trägt. Trotzdem sind die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik auch Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union, in dem ihr Land Mitglied ist, genau wie in internationaler Organisationen. Mit der EU verhält es sich so, dass hier auch weitreichende Zusammenarbeit gewachsen ist, viele sogenannte vergemeinschaftete Politiken entschieden und entstanden sind, so die Zusammenarbeit in der Innenpolitik, dem Internationalen Handel, der Regionalpolitik u. v. a. Nun urteilte das Bundesverfassungsgericht, dass das Staatsanleiheprogramm, das auch mit Zustimmung der Bundesrepublik von der unabhängigen EZB nach der Finanzkrise aufgelegt wurde, so etwas wie Kompetenzüberschreitung wäre und stellt sich damit über Entscheidungen des EuGH. Verträge brechen ist ja sicher ab und an was ganz Schlaues. Dem EuGH widersprechen auch. Aber Gauweiler (CSU) und Lucke (Ex-AfD) hinterdrein zu argumentieren, kann doch nur mit sehr viel gutem Willen eine freundliche Aufforderung sein, Europäische Verträge zu ändern, genau die, von denen Deutschland bisher noch aus jeder Krise als eigennütziger Gewinner hervorging. Obwohl sich innerhalb Deutschlands dadurch auch nichts grundlegend geändert hat, weder bei der Reichtumsverteilung, noch beim ausbleibenden sozial-ökologischen Umbau. Es gab sehr viele Kommentare zu diesem – irgendwie aus der Zeit gefallenen – Urteil. Wir wollen hier die Position von Heiner Flassbeck und Friederike Spieker empfehlen.

 

Coronakrise und Neues aus der Europäische Politik

Wir hatten hier schon mehrmals zu den Corona-Apps berichtet. Dass sie als Datenschutz-Desaster enden könnten, hatten wir schon angemahnt. Ungarn hat nun gleich mal vorsorglich eine Europäische Richtlinie außer Kraft gesetzt und der uns allbekannte Axel Voss (EVP/CDU), der Berichterstatter für die Urheberrechts-Richtlinie im Europäischen Parlament, überrascht auch wieder mit seltsamen Interviews zu den Corona-Apps und verbreitet dabei einen Freiheitsbegriff, der nicht nur philosophisch und politisch auf den Prüfstand gehört. In seinem Interview tut er so, als ob das größte aller Ziele nach oder mit Corona sei, dass wir morgen wieder ins Restaurant oder in Schwimmbad können. Sicher kann man die Welt so unbedarft sehen und an Stammtischen aller Art so etwas von sich geben. Von einem Politiker, der in Verantwortung steht, erwarten wir jedoch nicht nur mehr Fingerspitzengefühl beim Datenschutz, sondern auch ein Grundgefühl gegen Diskriminierung und Ausgrenzung. Aber das galt auch schon vor Corona.

 

Fake-News und Corona

Sie sind auf den Straßen und im Netz: besorgte Bürgerinnen und Bürger, die von Impfpflichtgesetzen und großen Plänen der Bill und Melina Gates-Stiftung berichten. Ersteres sollte gleich am 15. Mai in der Bundesrepublik in Kraft treten, obwohl ein Gesetzesentwurf von Jens Spahn, der Immunitätsausweise einführen wollte, es nicht einmal bis ins Parlament geschafft hatte. Hier muss man mal der sonst oft so schweigsamen SPD zugute halten, dass sie als Koalitionspartnerin offenbar klar und deutlich reagiert und Spahns Pläne zunichte gemacht hat. Doch die neuen Gruppierungen hinter „Widerstand 2020“ sind nicht ohne! Sie verstehen unter Grundrechten oftmals höchst individuelle Freiheitsvorstellungen, die kein Gegenüber, keine Allgemeinheit mehr kennen. Ja, es sind wegen des Infektionsschutzes Freiheitsrechte eingeschränkt, wie das Versammlungsrecht, das Recht auf Berufsausübung, Bewegungsfreiheit und vieles andere. Deren Durchsetzung ist auch in Teilen zu kritisieren und Angemessenheit und Verhältnismäßigkeit gehört immer auf den Prüfstand. Auch die Fragen, was die existenziellen, psychischen und insgesamt gesundheitlichen Folgen des Lockdowns sind, sind alle berechtigt und gehören in eine große demokratische Debatte. Was jedoch wirklich politisch gefährlich ist, ist die Leugnung einer Pandemie, die Gefährdung anderer und die Suche nach Schuldigen für die konfliktreiche und krisenhafte Situation, in der wir sind und die uns tatsächlich sehr unterschiedlich trifft. Viele bemühen sich zu argumentieren, doch wenn Menschen empört sind, hören sie oft nicht mehr zu. Solche Situationen können Menschen auch instrumentalisieren und sie nutzen berechtigte Kritiken und vermischen sie mit einer Art Enthüllungserzählung. So wird schnell mal aus Bill Gates Beitrag zur WHO 80 % statt 7,2 % oder aus einem Gesetzentwurf eine Impfpflicht, die gar nicht drinsteht. Auch das Europaparlament reagiert auf diese Flut von Fake-News, hat aber selbst dabei manch komischen Schlenker zu bieten, wenn es um eine Art China- oder Russland-Bashing geht. Doch kompetente Leserinnen und Leser finden auch manch wichtigen Hinweis, sich mit Fakenews auseinanderzusetzen. Wir werden diesen Aspekt der politischen Auseinandersetzung in Krisenzeiten in einer der nächsten Wochenrückblicke erneut umfassender zum Thema machen.  

Zu Gast bei der Regionalkonferenz der Rosa-Luxemburg.Stiftung, 18.2.2020
André Seubert

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How long is now?, Berlin, April 2020
Konstanze Kriese

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