Noch längst kein Sommerloch: Regionalpolitik in Europa
Regionalpolitische Highlights waren in dieser Woche der Besuch des griechischen stellvertretenden Ministers für Wirtschaft und Entwicklung, Alexis Charitsis, die Vorstellung des Programms der österreichischen Ratspräsidentschaft sowie ein aktuelles Thesenpapier des Europäischen Rechnungshofs und eine umfassende Stellungnahme des Bundesrates zum Mittelfristigen EU-Haushaltsrahmen (MFR).
Griechischer Minister: Kohäsionspolitik wichtig für wirtschaftliche und soziale Entwicklung
In der Anhörung mit dem Minister der Syriza-Regierung in Griechenland wurde von allen Seiten betont, wie wichtig der Beitrag der EU-Regional- und Förderpolitik für die wirtschaftliche und soziale Erholung des Landes in den vergangenen Jahren gewesen ist und bleibt. Bruttoinlandprodukt und Export sowie die finanzielle Stabilität haben sich soweit erholt, dass das Stabilitätshilfeprogramm zum 20. August 2018 beendet werden kann. Der bisherige Reformprozess hat der griechischen Bevölkerung einiges abverlangt, nicht immer ließen sich linke Ideale und kapitalistische Realitäten in der EU-Politik in Einklang bringen. Die (Jugend)Arbeitslosigkeit ist weiterhin hoch, negative Folgen harter Sparprogramme unübersehbar. Prioritäten der Linksregierung waren und bleiben, so der Minister, neben der wirtschaftlichen Stabilität, öffentliche Investitionen in moderne aber auch klassische, jahrelang vernachlässigte Infrastruktur, die Schaffung stabiler Arbeitsplätze, Armutsbekämpfung und der Auf- und Ausbau einer modernen Verwaltung. Bereits während der Krise waren EU-Mittel die größte Quelle öffentlicher Investitionen. Mittels der EU-Verordnung 2015/1839 über “besondere Maßnahmen für Griechenland” konnte seit 2015 die bessere und zeitnahe Nutzung der EU-Strukturfonds ermöglicht werden (wir berichteten). Griechenland steht inzwischen bei der Ausschöpfung der EU-Mittel ganz vorn, auch für den laufenden Förderzeitraum sind bereits 76% der Mittel gebunden. Eingeführt wurde damals unter anderem eine EU-Kofinanzierungsrate von 100%, das extrem verschuldete Land bzw. seine Regionen und Kommunen mussten also zeitweise keine Eigenmittel für EU-geförderte Projekte aufbringen. Zudem wurde die Möglichkeit, Vorab-Finanzierung zu nutzen ausgebaut. Alexis Charitsis betonte mehrfach die Rolle der EU-Kohäsionspolitik für den sozialen Ausgleich als eine entscheidende Grundlage für das Europäische Einigungswerk. Mit den inzwischen nicht mehr so düsteren Entwicklungstrends, einschließlich der in Aussicht gestellten Erhöhung der EU-Mittel ab 2021 für Griechenland, gebe es in seinem Land auch wieder eine positivere Wahrnehmung der EU. Bereits im September 2016 hatte Martina Michels erfolgreiche EU-kofinanzierte Projekte in Athen und Thessaloniki im Rahmen einer Reise des Ausschusses für Regionale Entwicklung besucht.
Österreich stellt Programm seiner Ratspräsidentschaft vor
Hinter dem Titel des Programms der österreichischen Ratspräsidentschaft „Europa, das schützt“ scheint für die österreichische Regierung vor allem Außenverteidigung, Grenzschutz bzw. Migrationsabwehr und Schutz vor internationaler wirtschaftlicher Konkurrenz zu stehen. Im sozialen und arbeitsrechtlichen Bereich will man lediglich bereits angelaufene Verhandlungen „fortführen“. Zur Frage des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Ausgleichs heißt es knapp: Die Kohäsionspolitik ist im Kontext des nächsten Mehrjährigen Finanzrahmens für die Zeit nach 2020 neu zu verhandeln. Bei der Neuausrichtung der Kohäsionspolitik (mit ihren Finanzierungsquellen EFRE, Kohäsionsfonds und ESF plus) sind Differenzierung, Verhältnismäßigkeit und Vereinfachung sowie verstärkte Ergebnisorientierung wichtige Elemente. Der Ratsvorsitz wird sich um rasche und effiziente Fortschritte bei diesem Verhandlungspaket bemühen. Stattdessen zeigt das Programm einen starken Fokus auf „mehr Subsidiarität“. Und so bezog sich auch die verblüfft-enttäuschte Kritik aller Fraktionen auf diesen Mangel an Aufmerksamkeit für die Strukturfonds als Hauptinstrumente innereuropäischer Solidarität, zumal gerade Österreich zu Fragen des künftigen EU-Haushalts bislang die Position „weniger einzahlen, mehr rausholen“ einnahm. Im November 2018 soll eine Ratstagung neue Erkenntnisse über konkrete Beratungsergebnisse der Regional- und Kohäsionsminister bringen. Zur Kooperation mit dem Europaparlament und Zeitplänen für die wichtigen Verhandlungen über Haushalt und die neuen Strukturfondsverordnungen wurde erhielten die Abgeordneten des REGI-Ausschusses trotz mehrfacher Nachfragen zu relativ vage Antworten von der Vertreterin der österreichischen Ratspräsidentschaft. Die Anhörung im Ausschuss kann hier im Video nachverfolgt werden.
EU-Rechnungshof kritisiert Kommissionsvorschlag über mittelfristigen EU-Haushalt
Im März 2017 hat die EU-Kommission in einem Weißbuch zur Zukunft der EU Grundlinien für mögliche Entwicklungswege der Europäischen Union aus ihrer Sicht aufgezeichnet und über die folgenden Monate mit mehreren thematisch-inhaltlichen Reflexionspapieren weiter untersetzt (wir berichteten hier und hier). Das Europaparlament lädt monatlich einen Staats- oder Regierungschef in seine Plenartagung zum hochoffiziellen Austausch über Vorstellungen zur Zukunft der EU ein. Im September 2018 ist Alexis Tsipras an der Reihe. Ihm wird einen Tag darauf Kommissionspräsident Juncker mit seiner jährlichen Rede zur „Lage der Union“ folgen. Man kann also kaum davon sprechen, der Findungsprozess sei bereits abgeschlossen. Dennoch hat die EU-Kommission mir ihrem Vorschlag für den Mehrjährigen Finanzrahmen 2021-2027 bereits die Weichen für grundlegende Verschiebungen der Prioritäten der EU-Politik gestellt.
In einer gemeinsamen Anhörung mit dem Haushalts- und dem Haushaltskontrollausschuss stellte der Europäische Rechnungshof sein brandaktuelles Thesen-Papier zu diesem Vorschlag vor. Die Kommission, so eine Hauptkritik, untersetzt wie oben beschrieben de facto strategische Ziele mit Haushaltsmitteln, bevor eine Politik-Strategie, die der Strategie „Europa 2020“ zeitlich folgt, öffentlich und demokratisch ausdiskutiert und vereinbart ist.
Ein zweites Augenmerkt richtet sich darauf, dass zwar viel von europäischem Mehrwert als Begründung für EU-Förderung die Rede ist, jedoch ein europäischer Mehrwert für die so geannten „neuen Prioritäten“ nicht definiert, nicht dargestellt und schon gar nicht belegt wird.
Während der Rechnungshof die Prioritätensetzung durch Kürzungen bzw. Aufstockungen nicht politisch bewertet, so betont das Thesenpapier doch, dass die Umstrukturierung der Haushaltkapitel und Zuteilung verschiedener Programme unter andere Kapitel Vergleiche mit vorherigen Rahmenhaushalten kaum möglich macht und Kürzungen innerhalb der Kapitel proportional ausfallen. Beispielsweise müsste die Agrarpolitik nach dem Willen der Kommission insgesamt mit 15% weniger Geld auskommen, jedoch aufgeteilt in Kürzungen um 11% bei den Direktzahlungen und 28% bei den Ausgaben für ländliche Entwicklung. Für Kohäsionspolitik wird 10% weniger eingeplant, darunter aber mit minus 45% beinahe eine Halbierung der Kohäsionsfonds, der v. a. Infrastrukturförderung für die später beigetretenen EU-Mitglieder bereitstellt. Ebenfalls Verwirrung stiftend ist die Aussage, der EU-Haushalt würde insgesamt etwas größer. Real handelt es sich im Vergleich zur Wirtschaftsleitung nämlich um eine Kürzung von 1,16% des BIP auf 1,11%. Das erklärte Ziel der Kommission, die Gesetzgebung über die verschiedenen Verordnungen bis April 2019, also vor den Wahlen zum Europaparlament abzuschließen wird zwar befürwortet, jedoch darauf hingewiesen, dass die Verhandlungen für den aktuellen Programmzeitraum von Veröffentlichung der Vorschläge bis Abschluss 30 Monate gedauert haben. Begrüßt werden größere Flexibilität, um auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren zu können, sowie das Vorhaben, eine echte Reserverubrik einzurichten, in die ungenutzte Mittel einfließen. Hinsichtlich Transparenz und demokratischer Rechenschaftspflicht fordert der Rechnungshof, dass alle Institutionen, die EU-Politiken umsetzen, öffentlicher Kontrolle unterliegen – eben auch die Europäische Verteidigungsagentur, alle Aktivitäten der Europäischen Investitionsbank, der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) sowie dann später der vorgeschlagene Europäische Währungsfonds. Das lesenswerte Themenpapier in englischer Sprache und die in 23 EU-Sprachen verfügbare Pressemitteilung kann hier abgerufen werden.
Deutsche Bundesländer: Einschnitte bei Regionalförderung und Landwirtschaft nicht zielführend
Der Bundesrat, die parlamentarische Kammer der Regionen in Deutschland, äußerte sich am 6. Juli 2018 in seiner umfassenden Stellungnahme zum Kommissionsvorschlag über den MFR 2021-2027 noch sehr viel politischer: Angesichts der zahlreichen Herausforderungen wie Brexit, Integrationserfordernisse und Klimawandel müsse der EU-Haushalt finanziell unbedingt angemessen ausgestattet werden, was sich aktuell nicht abzeichnet. Nicht zielführend seien die finanziellen Einschnitte bei der Kohäsionspolitik und in der Agrarpolitik insbesondere bei der zweiten Säule (ländliche Entwicklung). Er weist deutlich darauf hin, dass gerade auch die wirtschaftlich mittelmäßig entwickelten Übergangsregionen weiterhin starker Unterstützung auch von EU-Seite bedürfen. Diese Feststellung des 7. Kohäsionsberichtes scheint in der Planung der EU-Kommission kaum eine Rolle gespielt zu haben. Ausdrücklich kritisieren die Länder Kürzungen zulasten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (Programm INTERREG). Klar abgelehnt wird die Beibehaltung makroökonomischer Konditionalitäten und die vorgeschlagene Erhöhung nationaler Konfinanzierungssätze von bis über 50%. Inkonsistent sei außerdem die geplante stärkere Verknüpfung der Strukturfondsförderung mit der wirtschaftspolitischen Steuerung im Rahmen des Europäischen Semesters. Auch wird darauf aufmerksam gemacht, dass allein das geplante Reformumsetzungsprogramm, real 25 Milliarden Euro weniger für Kohäsionspolitik bedeutet. Die gesamte Stellungnahme hier auf den Internetseiten des Bundesrates.
Nachlesen
Last but not least noch der Hinweis auf unsere Presseschau mit dem Link zum Artikel „Leere Landstriche, hohe Grenzen: Die EU-Kommission will den Solidaritätsfonds kürzen – und beim Militär aufstocken“ erschienen am in der Tageszeitung Neues Deutschland. Das ND hatte Martina Michels bei Kommunal- und Regionalpolitischen Jahreskonferenz mit REALPE in Brüssel begleitet.
Vormerken!
Die Europäische Woche der Regionen und Städte findet in diesem Jahr vom 8. bis 11 Oktober in Brüssel statt. Registrierung ist über diesen Link möglich.
Die Europäische Woche der Regionen und Städte ist eine jährliche, viertägige Veranstaltung in Brüssel, bei der Verwaltungsbeamte der Regionen und Städte sowie Fachleute und Wissenschaftler bewährte Verfahren und Wissen über die Regional- und Stadtentwicklung austauschen können. Außerdem sind sie eine anerkannte Plattform für die politische Kommunikation über die Entwicklung der Kohäsionspolitik der EU, die Entscheidungsträger für die Notwendigkeit eines Mitspracherechts der Regionen und Städte bei der Politikgestaltung in der EU sensibilisiert. Die Europäische Woche der Regionen und Städte ist die größte europäische Veranstaltung dieser Art.