Gabi Zimmer, Fraktionsvorssitzende der GUE/NGL, in der Debatte mit dem belgischen Premierminister Michel

Gabriele Zimmer, im Namen der GUE/NGL-Fraktion. – 
„Herr Präsident, Herr Premierminister! 
Auch ich möchte Sie im Namen meiner Gruppe recht herzlich hier zu dieser Diskussion begrüßen, die ja eine Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union ist und sich bisher auch so darstellt. Was ich am Anfang noch mal klar sagen möchte: Für mich ist Brüssel und Belgien tatsächlich das Tor zu Europa gewesen. Ich bin eine derjenigen – zumindest von denen, die hier vorne sitzen und in der ersten Runde antworten –, die aus einer osteuropäischen Sicht nach Europa gekommen sind und verstanden haben, dass Europa nicht an den ehemaligen Grenzen endet, sondern dass wir lernen können, lernen müssen, dass unterschiedliche geschichtliche Erfahrungen, Traditionen und auch kulturelles Verständnis zueinander gehören, und dass die EU, dass Europa demzufolge nicht ohne diese Vielfalt leben kann. Dazu müssen und werden wir auch weiter stehen.

Für mich ist schon interessant, dass – und daran krankt für mich auch ein bisschen die Debatte – es uns ja kaum gelingt, tatsächlich aus diesen unterschiedlichen Sichtweisen die Erfahrung und die Erwartungshaltung, die wir mit der Europäischen Union auch sehr unterschiedlich verbinden, hier mit hineinzubringen. Wir erleben hier heute – und das ist auch nicht das erste Mal, und es ist sehr berechtigt, und ich nehme das auch so einfach zur Kenntnis –, dass viele belgische Abgeordnete natürlich ihre Diskussionen mit Ihnen führen – aus einer strikt europäischen Sicht. Völlig in Ordnung! Ich erlebe aber, dass sich andere heute kaum hier einbringen. Meine Fraktion leidet darunter, dass wir keinen belgischen Abgeordneten haben. Ich verspreche Ihnen, das wird mit der nächsten Wahl anders. Wenn Sie das nächste Mal ins Europäische Parlament kommen, wenn Sie dann noch Minister oder Premierminister sind, dann werden Sie garantiert auch einen der belgischen Abgeordneten von der linken Seite hier hören. Ich bin froh, dass ich es heute aus der Sicht von Leuten machen kann, die dazugekommen sind, große Erwartungshaltungen an die Europäische Union haben – auch noch haben –, Sie auch weitertreiben wollen, die aber unzufrieden sind, unzufrieden mit dem gegenwärtigen Stand der Entwicklung der Union und mit dem, was wir tagtäglich erleben, und ich hätte mich gefreut, wenn Sie auf diese Widersprüche viel stärker eingegangen wären.

Es kann doch nicht übersehen werden, dass wir innerhalb der Europäischen Union Regionen haben, in denen man schon den Begriff der sozialen Verwahrlosung gebrauchen muss. Wir haben eine Präsidentschaft durch Bulgarien. Ich weiß nicht, wer außerhalb der offiziellen Begegnungen mit den Institutionen, mit den Vertretern der Regierung Bulgariens in den letzten Monaten in Bulgarien gewesen ist und dort zur Kenntnis nehmen musste, dass es nicht allein Bulgarien ist, sondern viele andere Regionen in anderen Ländern auch, dass wir eine tiefe Differenz haben zwischen den Erwartungshaltungen an die Union, zwischen dem täglichen Leben, das Menschen in der Union führen, dass die Spaltungen immer größer werden. Darauf müssen wir doch eingehen. Und da reicht es mir nicht, wenn Sie, Herr Premierminister, sagen: Wir haben vieles inzwischen wieder geschafft, wir sind aus den stärksten Krisen heraus, und wir gehen vorwärts, und wir setzen uns dafür ein, und wir wollen dafür mehr investieren und dieses machen. Das reicht mir nicht! Ich möchte ein ganz klares Versprechen von allen Regierungschefs, die hier auftreten, hören: Was wird getan, damit wir aus dieser Situation herauskommen, und es wirklich diesen Mehrwert für jeden einzelnen gibt?

Sie sprachen mit völligem Recht davon, wie wichtig es ist, dass insbesondere Freiheit, Gerechtigkeit dazugehören, und Freiheit kann es nicht ohne die individuelle Freiheit für jeden einzelnen geben. Politische Freiheitsrechte gehören genauso zusammen wie die Rechte auf soziale Grundrechte, das Recht, Rechte zu haben. Das muss aber nicht getrennt werden, das muss zusammengeführt werden. Das ist mein Anspruch, und dazu möchte ich von jedem einzelnen Regierungschef hier eine Antwort haben: Was tun Sie, um das durchzusetzen? Von Herrn Juncker habe ich gelernt, dass man Regierungschefs auch auf eine ganz subtile Art und Weise begrüßen kann, wenn man sie im Rat trifft und ihnen auf den Rücken klopft und sagt: Mein Lieblingsdiktator ist jetzt hier. Das ist aber praktisch auch nur die eine Seite, damit haben wir das Problem ja nicht gelöst. Ich erwarte nicht von Ihnen, dass Sie das tun, aber ich möchte schon von Ihnen wissen, was Sie im Rat machen, um beispielsweise auf der einen Seite Orbán und andere dazu zu bewegen, dass diese gemeinsame Verantwortung, von der Sie gesprochen haben, auch getragen wird, dass die auch mit Blick auf die Flüchtlingsproblematik getragen wird, mit Blick auf die Rechtsstaatlichkeit, auf die Selbständigkeit, die Unabhängigkeit von Gerichten und von Medien. Und was tun Sie andererseits, um beispielsweise konkrete Vorstellungen zu entwickeln, dass wir aus dem, was wir gegenwärtig erleben, herauskommen? Dass nämlich immer gesagt wird: Die Verträge hindern uns daran, dass wir gemeinsame soziale Verantwortung, Solidarität übernehmen. Ich möchte das schon wissen.

Sie sagen, die Verträge sind nicht zu öffnen, kurzfristig sei das kontraproduktiv. Ja, bitte schön, wie denn dann? Wir haben doch erlebt – und das ist meine Sicht und auch die Sicht vieler Kollegen aus meiner Fraktion: Von Vertrag zu Vertrag haben sich aus meiner Sicht die Handlungsoptionen der EU für die Gestaltung der Zukunft verringert. Sie haben sich verringert, wir müssen sie aber wieder öffnen. Wir müssen es offen machen, es möglich machen, dass soziale und solidarische Verantwortung gemeinsam getragen wird, weil wir eben nicht zulassen können, dass mitten in der Europäischen Union Regionen sozialer Verwahrlosung existieren. Ohne soziale Grundrechte werden auch Menschen sich nicht engagieren. Sie werden auch nicht für ihre Freiheitsrechte eintreten. Die sagen sich: Das ist mir doch egal, wer da jetzt in Bulgarien die Regierung führt. Die vorher, die jetzt – keiner interessiert sich für uns. Wir lassen es zu, dass wir einen Teil der Menschen aus der Union ausgrenzen, weil sie den Ansprüchen an die Freizügigkeitsregelungen nicht entsprechen. Genau denen müssen wir uns zuwenden.

Mein letztes Wort: Gucken Sie auch zu den Leuten aus Osteuropa, die als Obdachlose in Berlin, in Paris und in London gesessen haben und denen wir als Union die Hilfe inzwischen verweigern. Das kann nicht sein!“

Brüssel, EP, 3. Mai 2018
Protokoll der Plenartagung