CETA: Die Wallonie ist keinesfalls allein
Ein Kommentar des Europaabgeordneten Helmut Scholz (DIE LINKE.), Koordinator im Ausschuss für Internationalen Handel (INTA) für die Linksfraktion GUE/NGL im Europaparlament.
Was wird in diesen Tagen nicht verbal auf die Region der Wallonie und ihren Premierminister Paul Magnette eingedroschen. Kommentatoren in deutschen Fernsehkanälen und Zeitungen scheinen sich plötzlich einig: Eine kleine Region von drei Millionen EinwohnerInnen dürfe nicht die Gemeinschaft der 500 Millionen in der Europäischen Union erpressen. Die EU sei blamiert und beweise Handlungsunfähigkeit. Oft wird die vereinbarte Sprachregelung von EU-Kommissarin Malmström und den Handelsministern einfach übernommen: Wenn man nicht einmal mit unseren guten Freunden in Kanada ein Handelsabkommen schließen könne, mit wem denn dann sonst. CETA gelte als das beste und fortschrittlichste Handelsabkommen, das die EU jemals ausgehandelt habe, wusste die Süddeutsche Zeitung heute.
In Wahrheit sind die Wallonen mit ihrer Kritik an CETA jedoch keinesfalls allein. Die Erklärung des Königreichs Belgien, auf die sich die Föderalregierung und die Regionen und Sprachgemeinschaften Belgiens heute zu einigen scheinen, enthält im Entwurfstext die Erklärung von vier der sechs Beteiligten, CETA nicht zu ratifizieren, falls es noch das in Kapitel acht festgelegte Investorenklageverfahren (ICS) enthalte. Die Region der Wallonie, die deutschsprachige Gemeinschaft, die französische Gemeinschaft, sowie das frankophone Brüssel lassen das protokollarisch ausdrücklich festhalten. Ähnlich wie Deutschland behalten sie sich alle das Recht vor, die vorläufige Anwendung von CETA zu beenden und werden dafür regelmäßig Evaluationen durchführen, ob sozio-ökonomische Verhältnisse oder die Umwelt durch die vorläufige Anwendung von CETA beeinträchtigt werden. Alle melden einen Zustimmungsvorbehalt ihrer Parlamente zu Beschlüssen des CETA Rates zu regulatorischer Kooperation an. Belgien fordert zudem eine Schutzklausel für Agrarimporte, die bei Störungen des Marktgleichgewichts aktiviert werden kann.
Vielerorts in Europa werden Kritik und Sorgen geteilt. Der irische Senat hat als zweite Kammer des Landes einen Beschluss gegen CETA gefällt. Die Hälfte aller Bürgermeister von Slowenien hat einen Brief an ihre nationale Regierung unterzeichnet mit der Forderung, CETA nicht zu unterschreiben. Mehr als 2.000 Städte, Kommunen und Regionen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich bereits zu TTIP- und CETA- freien Zonen erklärt.
Am 20. Oktober habe ich für die Linksfraktion GUE/NGL gemeinsam mit Abgeordneten der Grünen und auch der Sozialdemokraten und der 5-Sterne Bewegung aus Italien mehr als 200 Vertreterinnen und Vertreter in Brüssel versammelt, die eine gemeinsame Erklärung gegen eine Zustimmung zu CETA unterschrieben haben. Im deutschen Bundesrat ist mehr als fraglich, ob eine Mehrheit für CETA stimmen würde, spätestens seit nun auch in Berlin DIE LINKE und die Grünen ihre Zustimmung verweigern würden. Erinnern wir uns, dass im Bundesrat auch das Handelsabkommen mit Kolumbien, dem Land in dem lange weltweit jährlich die meisten Gewerkschafter ermordet wurden, fast gescheitert wäre und nur durch das Umkippen des Hamburger Bürgermeisters Olaf Scholz (SPD) eine knappe Mehrheit fand.
Regionen und Kommunen müssen sich zu der „neuen Generation“ von Handelsabkommen verhalten, denn ihre Kompetenzebene ist von Abkommen wie CETA direkt betroffen. Sie sind aus meiner Sicht dazu regelrecht verpflichtet, denn in unserer Europäischen Union gilt das sogenannte Subsidiaritätsprinzip. Darüber weiß die Bundeszentrale für Politische Bildung (BPB): „Nach dem Subsidiaritätsprinzip soll eine (staatliche) Aufgabe soweit wie möglich von der unteren Ebene bzw. kleineren Einheit wahrgenommen werden. Die Europäische Gemeinschaft darf nur tätig werden, wenn die Maßnahmen der Mitgliedstaaten nicht ausreichen und wenn die politischen Ziele besser auf der Gemeinschaftsebene erreicht werden können.“
Auf welcher Ebene ist denn die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen und die Verwaltung öffentlicher Unternehmen in Deutschland überwiegend angesiedelt? Regionen und Kommunen erbringen diese Leistungen und müssen daher prüfen, ob CETA ihre Aufgabenstellungen fördert oder schädigt.
Für das Staatsministerium von Baden-Württemberg hat Professor Martin Nettesheim von der Universität Tübingen ein Gutachten erstellt, in dem er die Auswirkung von CETA auf die politische Handlungsfähigkeit der regionalen und kommunalen Institutionen untersucht hat. Ergebnis: Öffentliche Dienstleistungen sind von den CETA-Verpflichtungen nicht ausgenommen, es sei denn, ein öffentliches Unternehmen arbeitet nach keinerlei wirtschaftlichen Maßstäben und dann auch noch in einem Bereich, in dem es keine privatwirtschaftliche Konkurrenz gibt. Zwar wurden von der Bundesregierung bestimmte Ausnahmen zu Protokoll gegeben, insbesondere für das soziale Sicherungssystem Deutschlands, doch lässt sich diese Formulierung leider so interpretieren, dass nur das nationale System ausgenommen ist, nicht aber Leistungen in der Verantwortung von Kommunen und Regionen/Bundesländern. Eine Leistung, die mit dem Abkommen ganz eindeutig in den Konkurrenzkampf der Marktwirtschaft übertragen wird, ist die Behandlung von Abwasser. In seinem Fazit empfiehlt Professor Nettesheim eine Überarbeitung der Formulierungen im Text des CETA-Abkommens. Wir brauchen viel eindeutigere Formulierungen. Wir brauchen Absätze, die besondere Aufgabenstellungen von Regionen und Kommunen benennen und beschützen.
Die Region der Wallonie handelt daher verantwortungsbewusst und im Rahmen der Aufgaben, die ihr die belgische Verfassung zuweist. Diese Verantwortung entsteht, wenn ein internationales Abkommen wie CETA eben nicht mehr allein die Höhe von Zöllen behandelt, sondern als Hauptziel hat, Gesetze und Bestimmungen zu überwinden, die ungebremster marktwirtschaftlicher Konkurrenz im Wege stehen. Mehr noch, denn CETA enthält Klauseln, die Wirkung auf die Zukunft haben sollen, indem sie die Rücknahme von Privatisierungen erschweren und neue Gesetzesvorhaben unter das Damoklesschwert einer drohenden Investorenklage vor dem CETA-Gericht stellen. Als mit Artikel 207 des Lissabon Vertrags die Handelspolitik von den Mitgliedstaaten an die EU-Ebene delegiert wurde, hatten die Verfasser diese neue Tragweite von Handelsabkommen nicht vor Augen. Auch deshalb ist derzeit der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit der Frage befasst, wie die Kompetenzen der verschiedenen Ebenen von neuen Handelsabkommen betroffen sind. Untersucht wird dies am Beispiel des Abkommens mit Singapur.
Mit ihrem Handeln blamieren die gewählten Abgeordneten des Parlaments der Wallonie nicht die Europäische Union, denn sie machen im Gegenteil deutlich, dass es die von vielen Briten unterstellte EU-Diktatur nicht gibt, sondern Demokratie weiter funktioniert. Dass diese Möglichkeit von vielen Kommentatoren in Deutschland nun als ‚Erpressung‘ gedeutet wird, erscheint mir absonderlich. Stellen Sie sich einmal vor, der frühere Ministerpräsident Belgiens und heutige Vorsitzende der liberalen Fraktion (ALDE), Guy Verhofstadt, würde sich mit seinem kindisch trotzigen Vorschlag durchsetzen, der Europäische Rat möge erneut zusammentreten und die EU für allein kompetent erklären um der Wallonie und allen anderen nationalen und regionalen Parlamenten das Mitspracherecht entziehen. Das wäre dann wirklich eine Blamage für die Demokratie in der Europäischen Union und würde viele Bürgerinnen und Bürger in ihren Vorurteilen bestätigen.
Wirtschaftlich bedeutet es übrigens keinen Verlust, wenn dieses CETA Abkommen nicht zustande kommt. Laut einer Studie im Auftrag der EU-Kommission würde CETA nach sieben Jahren Laufzeit das Bruttosozialprodukt der EU um 0,03 Prozent erhöhen. Das BSP von Deutschland um 0,04 Prozent. Solche Zahlen sind albern. Ein besonders kalter oder besonders milder Winter hat stärker messbare Auswirkungen. Eine neue Studie der US-amerikanischen Tufts University stellt nun jedoch dar, dass die Veränderung unserer Ökonomien durch CETA in einem spürbaren Rückzug der staatlichen Ebenen aus der Erbringung von Dienstleistungen sichtbar werden wird. Das würde auch den Verlust vieler Arbeitsplätze bedeuten. Sollen wir nun also wirklich kollektiv beklagen, wenn diese neoliberale Umstrukturierung unserer Ökonomien und Demokratien von einem tapferen Parlament und seinem Premierminister aufgehalten wird?
Ich bin nicht gegen Kanada oder gegen die KanadierInnen, ich bin sogar für viel fairen und gerechten Handel zwischen unserem Europa und Kanada. Ich lehne CETA ab, weil es eben kein gutes Abkommen ist, und das sicherlich sehr vielen Bürgerinnen und Bürgern in Europa und in Kanada Nachteile bringen dürfte. Wo steht geschrieben, dass Abgeordnete in Parlamenten das Arbeitsergebnis von Unterhändlern nicht mehr hinterfragen dürfen? Für die US-amerikanischen Kongressabgeordneten ist dies ein völlig selbstverständliches Recht. Wenn wir bislang im Europaparlament und den beteiligten Parlamenten auf nationaler und regionaler Ebene nur Ja oder Nein sagen können zum Wortlaut von Abkommen, statt Änderungsvorschläge machen zu können, dann bleibt uns gar kein anderes Mittel übrig als Nein zu sagen, wenn ein Abkommen nicht gut genug oder in Teilen sogar sehr schlecht ist. Dem Europäischen Parlament muss endlich ein Initiativrecht, auch in der Sache internationaler Handelspolitik, eingeräumt werden. Gerade vor dem Hintergrund der jetzt so deutlich werdenden Demokratiedefizite – CETA und Brexit haben dies durchaus gemeinsam. Einer Ratifizierung von CETA im Europaparlament wird meine Linksfraktion kein grünes Licht geben.