Das Rückgrat der EU sind die Regionen – Martina Michels sieht zu Beginn der neuen Förderperiode 2014-2020 verpasste Chancen
BRÜSSELER SPITZEN vom 23.01.2014 mit freundlicher Genehmigung der Radaktion des ND.
Mit Jahresbeginn traten eine Reihe Neuregelungen in der EU in Kraft. Der 1. Januar war der Starttermin für die Einführung des Euro in Lettland und für die elektronische Krankenkassenkarte in Deutschland, die zugleich in allen EU-Mitgliedsstaaten gilt. Bürgerinnen und Bürger aus Rumänien und Bulgarien können nun auch in Deutschland gleichberechtigt ihre Arbeitnehmerrechte vollständig wahrnehmen.
2014 ist auch ein Europa- und Kommunalwahljahr, das arbeitsreich und spannend zu werden verspricht. Prompt legen vor allem in Deutschland und Großbritannien konservative Politiker die alte Platte von der Last der »Sozialbetrüger« auf und schüren damit Fremdenfeindlichkeit, Europaskepsis und Sozialneid. Zu offensichtlich ist das Fischen von Wählerstimmen am rechten Rand nach dem Wegfall der Fünf-Prozent-Hürde bei der Europawahl. Statt über Ursachen zu reden, werden Ängste geschürt.
Das Absurdeste ist: Dieselben Parteien und Politiker stellen sich an die Spitze, wenn es um Haushaltskürzungen, Soziallabbau und Steuerdumping geht. Es war unter anderem die Bundesregierung, die darauf bestand, den Haushalt der EU für die kommenden sieben Jahre zu kürzen – zum ersten Mal in der Geschichte der EU, trotz erweiterter Aufgaben und mehr Mitgliedsstaaten. Die wichtigsten Instrumente zur Förderung des sozialen und wirtschaftlichen Ausgleichs zwischen den EU-Staaten und -Regionen – die Struktur- und Kohäsionsfonds – wurden gekürzt und zusammengestrichen.
Doch gerade diese Fördermittel sind dafür vorgesehen, Armut und wirtschaftliche Unterentwicklung bekämpfen zu helfen und die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Regionen und Kommunen zu unterstützen. In den strukturschwachen Gebieten sind Investitionen zur Beseitigung des wirtschaftlichen und sozialen Ungleichgewichts dringend nötig. Diese Förderinstrumente effektiver einzusetzen und aufzustocken, wäre ein wirksamer Schritt zur Armutsbekämpfung – in Nord wie Süd, in Ost wie West. Straffere Zielstellungen und effizienterer Mitteleinsatz der EU-Fonds, dessen sich die EU-Kommission vollmundig rühmt, lösen das Grundproblem nicht. Unterm Strich stehen weniger Mittel zur Verfügung.
Dabei könnte die europäische Ebene dazu beitragen, die Krise zu überwinden. Regionen und Kommunen zu stärken und ihnen Gestaltungsspielräume zu eröffnen, bedeutet auch, gute und sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze zu schaffen, regionale und umweltverträgliche Wirtschaft zu befördern, Kultur- und Bildungsangebote zu unterstützen. Aus Sicht der LINKEN zählt auch dazu, dass die Infrastruktur der Grundversorgung in öffentliche Hand gehört. Zuallererst betrifft das die Wasser- und Abwassernetze sowie Strom-, Gas- und Fernwärmenetze. Die Kommunen sollten eigenständig die Möglichkeit haben, eine gute Versorgung sicherzustellen und den Ausbau dieser Netze nach ihren Erfordernissen zu steuern. Das gilt ebenso für den öffentlichen Nahverkehr und die Gesundheitsversorgung. Stattdessen wird unter dem Wettbewerbs- und Binnenmarkt-Regime der EU weiter Druck gemacht. Rettungsschirme werden an Sparauflagen gebunden und Regeln zur Marktöffnung unterworfen.
Mit der neuen Förderperiode 2014-2020 wird obendrein ein neuer Sanktionsmechanismus eingeführt. Künftig kann die Auszahlung von Mitteln aus den EU-Fonds eingeschränkt werden, wenn ein Mitgliedsstaat die Verschuldungskriterien nicht einhalten kann. Damit werden gerade die Regionen, die am stärksten unter den Lasten der Krise zu leiden haben, für das Versagen ihrer nationalen Regierungen bestraft. Diese Logik entbehrt jeglicher Vernunft und Weitsicht.
Gerade diejenigen, die keine flächendeckenden Mindestlöhne und weniger Umverteilung wollen, die die Freizügigkeit wieder einschränken wollen, Steuerdumping und freie Fahrt fürs Kapital befürworten, sind die, die sich am meisten darüber wundern, dass die Menschen so schwer für die europäische Idee der Integration zu begeistern sind. Dabei wäre es doch Zeit, über eine echte Sozialunion nachzudenken. Die europäischen Strukturfonds sind eine gute und erprobte Grundlage, auf der ein breiteres solidarisches Transfersystem aufbauen könnte. Europa ist vor allem vor Ort konkret in seinen positiven und negativen Auswirkungen erlebbar. Starke Regionen und Kommunen sind das Rückgrat und die Zukunft der EU.
Siehe auch: „EUROPE to go“ – ein Kompakt-Ratgeber zur EU-Förderung
NEUES DEUTSCHLAND vom Donnerstag, 23. Januar 2014, Seite 4
Online-Ausgabe: http://www.neues-deutschland.de/artikel/921744.das-rueckgrat-der-eu-sind-die-regionen.html?sstr=michels