Eine global gestärkte EU als Friedensbewahrerin
Drittes Event im Rahmen der Online-Reihe Zukunft Europa der europäischen Linken
Eine Zukunftskonferenz, die über einen Zeitraum von zwei Jahren ein krisenfestes und solidarisches Europa entwerfen soll und dazu möglichst alle Europäer*innen (Bürger*innen, Politiker*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen) mit an Bord holt – das hatte EU Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nach ihrem Amtsantritt versprochen. Wie diese Konferenz unter den gegenwärtigen Bedingungen realisiert wird, ist noch unklar. Dennoch will sich die europäische Linke aktiv in die Debatte um die europäische Zukunft einbringen – und hat jetzt vorab ein eigenes Format gestartet: eine fünfteilige virtuelle Diskussionsreihe, in deren Mittelpunkt die drängendsten aktuellen Fragen Europas stehen. Die Reihe, gemeinsam organisiert von DIE LINKE, GUE/NG und dem Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS), ging am 10. November in die dritte Runde mit der Debatte über die Zukunft der EU als „globale Akteurin“. Als nächstes wird es am 24. November um die Soziale Wirtschaftspolitik der EU gehen.
Wenn es ums globale Ganze geht, besteht schnell die Gefahr, sich in zahlreiche Richtungen zu verlieren. Könnte man meinen. Dass jedoch auch bei einem zunächst sehr breitgefassten Thema konkrete Erkenntnisse herauskommen können, bewies die dritte Veranstaltung in der Reihe „Zukunft Europa“ mit dem Titel: „Die EU als globale Akteurin – aber welche?“. Petra Erler, Europaexpertin und ehemalige Kabinettschefin in der EU-Kommission, Georgios Katrougalos, Mitglied des griechischen Parlaments und ehemaliger griechischer Außenminister, sowie Laëtitia Sédou, EU-Programmkoordinatorin des Europäischen Netzwerkes gegen den Waffenhandel, diskutierten darüber, welche Folgen eine gestärkte außenpolitische Souveränität der EU nicht nur für Europa selbst, sondern für die Welt haben könnte.
Konkret, wie gesagt – und kontrovers.
Viele fordern, dass die EU autonomer werden soll. Aber was ist genau damit gemeint? Diese Frage stellte Moderatorin Gabi Zimmer, ehemalige Fraktionsvorsitzende der GUE/NGL, an den Anfang der Debatte. Zudem sei zu hinterfragen, welche alternativen Vorstellungen die europäische Linke von der „globalen Akteurin“ EU habe.
Eine erste Antwort darauf gab Laëtitia Sédou, EU-Programmkoordinatorin des Europäischen Netzwerkes gegen den Waffenhandel. Der Ruf nach einer geeinten europäischen Verteidigungspolitik und der finanziellen Stärkung des militärischen Komplexes befördere nur den weltweiten Rüstungswettlauf, so Sédou. Als Alternative komme daher nur ein Wandel im sicherheitspolitischen Narrativ der EU in Frage. Sédou: „Es geht nicht um regionale und territoriale, sondern um eine humanitäre Sicherheit („Human Security“ Anm. d. Red). Eine, die das Wohl der Menschen in den Vordergrund stellt.“ Das gelte im Übrigen nicht nur für die EU. Die Aktivistin gegen den Waffenhandel fordert eine „radikal neue“ Weltordnung, die dazu beiträgt, wirkliche Konfliktursachen zu lösen – allen voran Armut und Ungleichheit.
Sicherheit neu denken
In diesem Punkt bestärkte Gabi Zimmer die Referentin Sédou. Auch sie sprach sich für ein „anderes Sicherheitsdenken“ aus, das den gerechten Zugang zu Ressourcen und die Abwesenheit von Not und der Angst davor in den Vordergrund stelle. Dem fügte im weiteren Verlauf der Debatte Petra Erler, Europaexpertin und ehemalige Kabinettschefin in der EU-Kommission, noch einen ganz aktuellen Punkt hinzu: „Ein Virus hat uns gezeigt, dass alle Szenarien unserer Außenpolitiker in der Vergangenheit falsch waren“, so Erler, „nicht andere Staaten, wie China oder Russland, sind eine Bedrohung für die EU, sondern menschengemachte Probleme.“ Schließlich, so Erler weiter, sei die Entstehung des Virus unter anderem auf massive Umweltschädigungen zurück zu führen. Wenn man jetzt über Sicherheit diskutiere, sei es ratsam, sich an Noam Chomsky zu orientieren – dass es im 21. Jahrhundert darum geht, das Überleben der Menschheit überhaupt zu sichern. Erler: „Wie retten wir uns angesichts globaler Probleme, wie etwa dem Klimawandel, gemeinsam? Das und nur das muss Ausgangspunkt aller künftigen internationalen Beziehungen werden.“
Georgios Katrougalos, Mitglied des griechischen Parlaments und ehemaliger griechischer Außenminister, verwies darauf, dass die EU vielfach zwar als „global payer“, nicht aber als „global player“ wahrgenommen werde. Die Frage, ob „wir als Linke aber überhaupt eine autonomere globale Akteurin EU wollen“, könne er für sich jedenfalls bejahen. Denn nur eine außenpolitisch gestärkte EU bilde das nötige Gegengewicht in einer polyzentrischen Welt, um Frieden, Multilateralismus, Menschenrechte, Klimaschutz und eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung zu stärken. Davon allerdings sei man in Europa noch weit entfernt, wo oft die divergierenden nationalen Interessen der Mitgliedsstaaten dominieren. Katrougalos: „In vielen Fällen handelt die EU in internationalen Fragen nach dem Motto: Folgen wir mal den USA.“ Als Beispiel nannte er die Reaktion auf die politischen Vorgänge in Venezuela oder im Iran. „Jedes Mal war die EU zu schwach, hier eigene Positionen zu entwickeln.“ Anders als etwa seine Vorrednerin Sédou sprach sich Katrougalos auch für ein eigenes, europäisches Verteidigungsbündnis, abseits der Nato, aus. Denn letztere werde den grundlegenden europäischen Interessen nicht – mehr – gerecht, so Katrougalos. „Die Nato ist ein Relikt des Kalten Krieges.“ Die Frage allerdings sei, wie ein solches europäisches Verteidigungsbündnis aussehen müsse, um zum Beispiel auch den Mittelmeer-Anrainer-Staaten gerecht zu werden: „Die kolonialistische Idee vom Mare Nostrum kann man da auch nicht mehr aufrecht halten.“
Das gemeinsame Haus noch nicht gebaut
Petra Erler wies anschließend darauf hin, dass bei der Debatte um die globale Zukunft Europas zwischen der globalen Rolle der EU einerseits – „die hatte sie schon immer“ – und der EU als einem souveränen außenpolitischen Akteur andererseits klar unterschieden werden müsse. Erler erinnerte auch an die Charta von Paris von 1990 – in der sich die europäischen Staaten verpflichtet hatten, eine nach der Wiedervereinigung Deutschlands und dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation neue friedliche Ordnung – das so genannte gemeinsame Haus Europa – zu erschaffen. Erler: „Dieser Auftrag ist bis heute nicht erfüllt.“ Und in der Öffentlichkeit werde kaum daran erinnert. Heutzutage, so Erler weiter, versteht sich die EU vor allem als „ein Wirtschafts- und keineswegs als ein kontinentales Friedensprojekt“. So gesehen, halte sie es für richtig, dass die EU sich „emanzipiert“. Die Frage aber sei, wie. Die Antwort ist für Erler klar: „Frieden in Europa und weltweit zu stiften und zu bewahren, ganz im Sinne der UN-Charta, muss das oberste Prinzip werden.“ Dazu braucht die EU kein eigenes Verteidigungsbündnis, sondern Kooperationsfähigkeit und die Bereitschaft zur friedlichen Konfliktregulierung. Praktisch steuere die EU jedoch in eine andere Richtung. Bereits in der Vergangenheit habe es völkerrechtswidrige Einsätze von EU-Staaten, etwa in Syrien und Libyen gegeben. Und die Vorstellung, dass sich irgendwann noch mehr Militärbündnisse gegenüberstehen, „ist für mich ein Albtraum“, so Erler.
Ob sich eine globale Akteurin EU allerdings tatsächlich als Friedensbewahrerin und etwa auch Vorkämpferin gegen den Waffenhandel realisieren lasse, da zeigte sich Laëtitia Sédou ebenfalls skeptisch. Dem stehen nach ihrer Meinung zu viele nationale Interessen „und vor allem das Selbstverständnis Frankreichs als Nuklearmacht“ entgegen.
In der anschließenden Diskussionsrunde mit dem Publikum ging es jedoch auch darum, die Debatte um eine in ihrer Rolle als globale Akteurin gestärkte EU nicht nur negativ und als Bedrohung zu sehen. „Wir sollten schauen, welche Chancen eine solche neue europäische Rolle in sich birgt, und wie wir als Linke diese mitgestalten können“, so die Ansicht mehrerer Diskutanten. Das komme derzeit noch ein bisschen zu kurz.
In einem abschließenden Fazit knüpfte Europaparlamentarier Helmut Scholz nochmal an die Forderung an, dass es jetzt – mehr als je zuvor – um das Überleben der Menschheit gehe. Scholz: „Dafür und für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt muss eine künftige globale Akteurin EU in die Pflicht genommen werden.“ Wichtig sei zudem, dass öffentliche Narrativ mit Blick auf die friedensbewahrende Rolle der EU zu stärken. Als drittes müssten die verschiedenen Politikbereiche der EU endlich kohärenter werden, um diese Ziele umsetzen zu können.
Im Überblick:
Kernthesen und Forderungen
Laëtitia Sédou:
- Ein eigener, starker EU-Verteidigungshaushalt befördert den weltweiten Rüstungswettlauf.
- Stattdessen braucht die EU beim Thema Sicherheit ein neues Narrativ. Es muss um menschliche Sicherheit gehen – nicht um regionale oder militärische Absicherung.
- Ebenso nötig ist eine radikale neue Weltordnung, die dazu beiträgt, die wirklichen Konfliktursachen – darunter Armut und Ungleichheit – zu bekämpfen.
Georgios Katrougalos:
- Die EU wird eher als global payer wahrgenommen, statt als global player.
- Sie folgt in ihrem politischen Handeln zu oft den USA oder ist zu schwach, um selbst einen Unterschied zu machen.
- Es ist nötig, die Rolle der EU als autonome globale Akteurin zu stärken – auch als Gegengewicht zu widersprüchlichen und inkohärenten Nationalinteressen der europäischen Mitgliedsstaaten.
- Eine unabhängige europäische Verteidigungspolitik abseits der NATO ist notwendig.
- Europa als global player muss für eine institutionelle Demokratisierung sorgen und sich für Frieden, Multilateralismus, Menschenrechte, Klimaschutz und eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung stark machen.
Petra Erler:
- Wir müssen unterscheiden zwischen der globalen Rolle der EU und einer EU als souveräner außenpolitischer Akteur.
- Den Auftrag, das „gemeinsame Haus Europa“ zu bauen, hat die EU bisher nicht erfüllt. Sie löst ihren kontinentalen Friedensauftrag nicht ein
- Im 21. Jahrhundert muss die Menschheit zusammenarbeiten, oder sie wird sich als Zivilisation vernichten.
- Durch den Brexit ist die außenpolitische Bedeutung der EU geschrumpft.
- Außenpolitische Souveränität erlangt die EU nur, wenn sie als Friedensbewahrerin im Sinne der UN-Charta wirkt. Ob sich das verwirklichen lässt, ist fraglich.
Ein Artikel von Monika Hoegen