Ventotene – Schreiben wir ein neues Manifest!
Für ein Wiederaneignung des Manifests von Ventotene
Rund um den 25. März 2017 ertönen zum 60. Jahrestag der Europäischen Verträge Hohelieder auf die Erfolge der europäischen Integration. Angesichts der Bilanz dieser Integration, der Erweiterung und der Beziehungen zu unseren Nachbarn, sehen wir jedoch wenig Grund zum Feiern und Singen. Das Fundament des europäischen Hauses hat tiefe Risse.
Wir, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieser Aufforderung zur Diskussion, nehmen den Jahrestag der Römischen Verträge zum Anlass, um an Positionen über die Zukunft Europas zu erinnern, neu zu entwerfen und einen Austausch zu organisieren. Dabei orientieren wir uns an Erfahrungen vom sozial-ökologischen Umbau, von der solidarischen Ökonomie bis zum interkulturellen Dialog, an Veränderungen in der Arbeitswelt, die Mitbestimmung, Zeitsouveränität und gute Entlohnung vereinen, an Geschlechterdemokratie und der Garantie von Grund- und Freiheitsrechten aller in einer befriedeten Welt. Wir nutzen derart gelebte Entwicklungen für visionäre politische Ideen. Visionen und Utopien stehen immer innerhalb der politischen Ideengeschichte.
Deshalb schlagen wir vor, nicht die Römischen Verträge zu feiern, sondern als Ausgangspunkt einer gemeinsamen Debatte das oft zitierte Manifest von Ventotene nehmen. Die Idee der europäischen Einigung entsprang dem Antifaschismus. Mit ihrer Kritik an einer autarken Wirtschaft, die sich der politischen Regulation und demokratischen Mitbestimmung entzieht und zum Selbstzweck mutiert haben die Verfasser des 75 Jahre alten Manifests von Ventone die Auseinandersetzung mit der totalitären Seite des Neoliberalismus vorweggenommen. Eine kritische Wiederaneignung des Manifestes von Ventone in postfordistischen Zeiten halten wir angesichts der gegenwärtigen Entwicklung der EU für anregend und gewinnbringend, denn wir können nicht übersehen, dass die Risse in der EU aus den Weichenstellungen der herrschenden EU-Politik erwachsen. Eine Politik, die praktisch nur Wettbewerb statt Solidarität, Sparkurse statt Investition und Abschottung statt Integration durchsetzt, ist dabei, ihre humanistischen Werte aufzugeben.
Das Ventotene von heute findet sich an vielen Orten in Europa wieder: Lampedusa und Idomeni haben Symbolkraft erreicht. Wir meinen, dass sich am Umgang mit Flüchtlingen, Migrant*innen oder auch Roma ebenso die Zukunft der EU entscheiden wird wie am Umgang mit der Schuldenkrise.
Der zunehmende Einfluss sozialreaktionärer Kräfte, die offen auf Missgunst, Zwietracht und Hass setzen und eine weltoffene Zukunft Europas in Frage stellen, erfordert Widerstand. Aber auch die Politik des „Weiter So“ verantwortlicher EU-Politikerinnen und Politiker ist destruktiv, gefährlich und erfordert solidarische Alternativen. Dort wo sich linke Politik in Europa auf Abwehrkämpfe beschränkt, verstaubt aber der Vorrat an Utopien. Für ein Europa, in dem die Rechte der Bürger eine zentrale Rolle spielen brauchen wir viel Utopie, brauchen wir programmatische Klarheit aber auch eine radikale Konkretheit. Die Fokussierung auf den Euro oder gar auf die nationale Souveränität ist kein Ausweg aus der selbst verschuldeten Marginalisierung. Wir haben nur eine Chance, die mit dem Manifest von Ventotene eindringlich entworfen wurde: Stellen wir die Frage nach der Hegemonie von links in Europa! Unter diesem Anspruch gibt es keine Neuformierung der politischen und gesellschaftlichen Linken. Genau darauf haben Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni in ihrem Manifest von Ventotene aufmerksam gemacht. Nutzen wir dieses historische Dokument der politischen Verantwortung für die Zukunft, für einen Aufschlag in eine selbstkritische und aufregende Debatte, als Beitrag zur Neuformierung einer breiten europäischen Linken.
Gabi Zimmer, Barbara Spinelli, Helmut Scholz, Marisa Matias, Dimitrios Papadimoulis, Martina Michels, Josu Juaristi, Marie-Christine Vergiat, Thomas Händel, Cornelia Ernst, Stelios Kouloglou, Merja Kyllönen, Curzio Maltese (im April 2017)
Reclaim the Manifesto of Ventotene - What future for the EU?PDF-Datei