Kurzsichtig – Die EU und die Kurdenfrage (junge welt)

Europas Innenpolitiker handeln fahrlässig gegenüber kurdischer Diaspora

Die Frage der Menschenrechte und der Demokratie in der Türkei ist in der Hauptsache eine Frage der Rechte der kurdischen Bürgerinnen und Bürger. Diese banale Erkenntnis allerdings scheint noch nicht bis zum politischen Führungspersonal in der Europäischen Union vorgedrungen zu sein.

Zwar setzen viele Kurden in der Türkei große Hoffnungen auf sie, doch werden in den maßgeblichen EU-Dokumenten lediglich abstrakt formaljuristische Rückstände in Sachen »Minderheitenrechte« benannt.

Einen besonders gelungenen Beweis politischer Kurzsichtigkeit im Umgang mit der Türkei lieferten jüngst die Sicherheitsapparate Frankreichs, Belgiens und Italiens. Mit einer großangelegten koordinierten Polizeiaktion sollte angeblich ein Schlag gegen die auf der »Terrorliste« der EU stehende und als kriminelle Vereinigung geltende PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) gelingen.

»Kollateralschäden« wurden dabei in Kauf genommen. Bei den belgischen Razzien am 4. März entwendete oder zerstörte man dem kurdischsprachigen Fernsehsender »Roj TV« Technik im Wert von über einer Million Euro. Zudem wurden in Brüssel und Umgebung wahllos Personen verhaftet und festgehalten, unter ihnen zwei ehemalige Abgeordnete des türkischen Parlaments. Nach intensiver Solidaritätsarbeit ist der Großteil der Verhafteten, auch in Frankreich, inzwischen wieder in Freiheit.

Dabei ruft das Timing der Aktionen Erstaunen hervor. Derzeit steht die Kurdenfrage auf der politischen Tagesordnung in der Türkei ganz oben. Sowohl Staatspräsident Abdullah Gül als auch die AKP-Regierung haben Bereitschaft signalisiert, sich dem Thema anzunähern. Das Verbot der kurdischen Sprache wurde gelockert. Weitere Fortschritte wurden in Aussicht gestellt.

Das im Dezember 2009 verfügte Verbot der fortschrittlichen »Partei für eine demokratische Gesellschaft« (DTP) kann als Aufbäumen einer alten, kemalistischen Elite gesehen werden, die ihre Meinungsführerschaft eigentlich längst verloren hat. Die kurdische Bewegung hat angesichts dieses Rückschlags jedenfalls Reife bewiesen. Ihre Abgeordneten haben sich gegen eine Niederlegung ihres Mandats entschieden: die »Partei Frieden und Gerechtigkeit« (BDP), die der DTP nachfolgt, will sich stärker als demokratische Erneuerungsbewegung begreifen, die Kurden und Aleviten genauso wie Gewerkschaften und Intellektuelle zusammenführt. Zudem gelang es Ende Februar erstmals, kurdische, türkische und internationale Vertreter zu einer Konferenz in Diyarbakir zusammenzuführen, um über mögliche Auswege aus Eskalation und Gewalt zu beraten.

Es wird sich zeigen, ob die kurdische Bewegung angesichts jener von europäischer Seite betriebenen Eskalationspolitik und der pauschalen Kriminalisierung ihrer Diaspora ihre hohen Erwartungen an einen EU-Beitritt überdenkt. Innerhalb der im Streik der Tabakarbeiter gestärkten Gewerkschaftsbewegung jedenfalls wird die von Brüssel forcierte Privatisierungspolitik durchaus wahrgenommen. Was die Befürwortung eines EU-Beitritts der Türkei angeht, war die DTP führend im Parteienspektrum des Landes. Wenn sich Brüssel allerdings weiterhin als nicht lernfähig erweist, ist es alles andere als sicher, daß die BDP diese Position bruchlos übernimmt.