Martinas Woche 41_2023 – Ein Special: Studientage in Madrid – Lage in Nahost
Nah-Ost-Konflikt – Studientage der Fraktion
Die vergangene Woche stand im Zeichen der Studientage der linken Fraktion im Europaparlament. Die Reise ging nach Madrid und schloss schon die Vorbereitung des kommenden Plenums ein, denn jedes Jahr im Oktober fahren die Europaabgeordneten gleich zwei Wochen ins beschauliche Straßburg. In der kommenden Woche stehen zwei schwierige Debatten zu den „Prime-time“-Zeiten des Vormittags an. Am Dienstag soll über die Wirksamkeit der Sanktionen gegen Russland diskutiert werden und am Mittwochvormittag steht die Situation im Nahen Osten auf der Tagesordnung, bei der es in diesem Gremium insbesondere um die Rolle der EU bei einer Deeskalation gehen muss. Im Anschluss an die Debatte am Dienstagvormittag wird der Premier von Armenien, Nikol Patschinian, zu den Abgeordneten, so dass ein weiterer Konflikt in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU ausgeleuchtet wird.
Hamas spricht nicht für Palästinenser*innen: Lage im Nahen Osten
In der vergangenen Woche bezog sich Martina positiv auf die Erklärung des Parteivorstandes der Linken zum terroristischen Angriff der Hamas und wird daraus auch ihre Position angesichts der fortschreitenden Ereignisse u. a. am kommenden Mittwoch im Europaparlament in der gebotenen Kürze darstellen. Ihre klare Haltung ist: Differenzieren in der Genese der aktuellen Konfliktsituation und deren Möglichkeiten einer Frieden bringenden Lösung sind dringend notwendig, denn Kontexte braucht jede politische Analyse. Aber eine Relativierung der Angriffe der radikalislamistischen Hamas ist unmöglich und unerträglich. Israel hat nach dem Terror des 7. Oktober 2023 ein Recht auf Selbstverteidigung. Dass dies im Einklang mit dem humanen Völkerrecht stehen muss – und dies vielen derzeit politisch Agierenden, einschließlich Jo Biden, bewusst ist –, zeigen derzeit die internationalen Bemühungen und auch viele Stimmen aus Israel selbst. Gerade haben 60 intellektuelle und Stimmen aus dem Spektrum der Friedensaktivist*innen aus Israel ihre Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht, dass Teile der US-amerikanischen und europäischen Linken mit Gleichgültigkeit auf die schrecklichen Ereignisse reagierten oder gar die Aktionen der Hamas rechtfertigen (Artikel leider nur mit Paywall!). In jeder unterstützenden Haltung von globalen Linken sollte sich „unmissverständlich gegen wahllose Gewalt gegen Zivilist*innen auf beiden Seiten“ ausgesprochen werden. Eine Legitimierung der Gewalt der Hamas komme „einem Verrat an den Grundprinzipien linker Politik“ gleich, so die Unterzeichner*innen im Aufruf, der u. a. vom Schriftsteller David Grossmann, der Soziologin Eva Illouz und auch von ehemaligen Knesset-Abgeordneten aus linken Parteien getragen wurde, wie vom israelisch-arabischen Beduinen Taleb Al-Sana.
Studientage der Fraktion THE LEFT in Madrid
Die Studientage unserer Fraktion finden zumeist im Land der aktuellen Ratspräsidentschaft statt. Das ist derzeit Spanien, welches nach den Neuwahlen gerade wieder vor einer Regierungsbildung des alten und neuen Staatschefs Sanchez von den Spanischen Sozialdemokraten steht. Und möglicherweise geht es erneut in die zweite Runde, gemeinsam mit dem Bündnis linker spanischer Parteien aus Podemos, der Izquierda Unida, die auch mit Abgeordneten in unserer linken Fraktion im Europaparlament vertreten ist und der neuen Partei Sumar, der die Arbeits- und Sozialministerin und 2. Vizepräsidentin Spaniens, Yolanda Díaz Pérez vorsteht. Die Sozialministerin konnten wir zum Abschluss aller Debatten am Mittwochnachmittag mit einer eindrucksvollen Rede hören, in der sie ein soziales Europa aus der Perspektive ihrer spanischen Politik einforderte, das dem Klimawandel gewachsen ist, Frauen wirklich gleichberechtigt im politischen und gesellschaftlichen Leben wirken lässt und eine europäische Linke kennt, die ihre Visionen von einem guten Leben aller wirklich konkret formulieren kann. Mit kleineren Brötchen gab sich die engagierte Ministerin nicht zufrieden, denn sie ging davon aus: „Es geht nicht um eine Epoche des Wandels, sondern um einen Epochenwandel“ (Yolanda Díaz Pérez) und dafür braucht man auch in einer Regierung viele Verbündete: Gewerkschaften, Umweltverbände, Feministinnen.
Die Studientage gaben zum Auftakt Verbündeten der linken Parteien viel Raum. Wir lernen zuerst Francisco Javier Aijón Vázquez. einer der „6 von Zaragoza“ kennen, Antifaschisten, die gegen die ultrarechte VOX 2019 demonstriert hatten. Er wurde 2019 deshalb, friedlich in einem Café sitzend, verhaftet und wartet bis heute auf ein Urteil. Bisher wurde von ihm und seinen Mitstreitern verlangt, ihre Unschuld an der Mitwirkung an Gewalttaten zu beweisen, etwas, was es in einem Rechtsstaat nicht gibt: zu belegen, dass man etwas nicht getan hat. Sein Mitangeklagter Gustavo Garcia Rioja erzählt davon, wie sie inzwischen schon seit sechs Jahren im Kampf gegen Räumungen verfolgt wurden, die aufgrund von Hypotheken zustande kamen, die eine Bank regelrecht systematisch betrieb. Auch hier hinkt der Rechtsstaat gewaltig, denn die Verhandlungen dazu fanden völlig unnötig und unüblich hinter verschlossenen Türen statt.
„Kaffee, Frieden und Gerechtigkeit“
Diese erste und auch die folgende Debatte um aktuelle Außenpolitik und der Beitrag der EU zu einer friedlichen Welt, bei der Jeremy Corbyn (brit. Labour-Partei) zugeschaltet war, fand im Spanischen Kongress statt, ein in Teilen sehr ehrwürdiges Gebäude, durch das wir anschließend geführt wurden. Angesichts der Eskalation im klassischsten aller Nah-Ost-Konflikte durch die ungeheuerlichen, terroristischen Attacken der Hamas in Israel am 7. Oktober 2023 übten allerdings verschiedene europäische Linke einmal mehr eine Kontextualisierung in diesem aktuellen Konflikt, gegen die an sich nichts einzuwenden ist, doch wurde man dabei das Gefühl nicht los, dass dabei die Verbrechen der Hamas relativiert wurden und Israel – völlig undifferenziert – eine Verantwortung für alle früheren und kommenden Eskalationen trägt. Marga Ferré, Co-Präsidentin von „transform! europe“ verstärkte diesen Eindruck, der weder inner-israelische Konflikte kannte, noch zwischen der Hamas, der Fatah oder anderen politischen und zivilgesellschaftlichen Kräften in Palästina unterscheiden konnte. Dass das erklärte Ziel der Hamas die Vernichtung Israels ist, kam in dieser Podiumsrunde genauso wenig zur Sprache, wie eine Adressierung aller demokratischen und friedensfördernden Kräfte auf beiden Seiten dieses Konfliktes, der letztlich auch nicht losgelöst vom Wirken Irans und der Hisbollah im Norden von Israel ist. Dass wir global in einer sehr unsicheren Welt sind, darauf konnte man sich nach diesem Podium sicherlich einigen, doch wie wir diesen Zustand in der europäischen Politik ändern, dafür müssen wir wohl noch etwas tiefer schürfen. Mit „Kaffee, Frieden und Gerechtigkeit“ dankte Jeremy Corbyn den Dolmetscher*innen bei seiner Zuschaltung aus dem Europarat in Straßburg und dies war wohl der beste Auftakt für die Pause.
Frauenministerin Irene Montero beeindruckt mit Konsequenz und Kampfgeist
Am Nachmittag des ersten Studientages konnten alle, die sie noch nie persönlich erlebt haben, die engagierte Frauenministerin Spaniens kennenlernen, Irene Montero, die unter anderem beim Sexualstrafrecht Nägel mit Köpfen machte. Über die rein juristischen Veränderungen, hinaus, die einen unbedingten Konsens zu sexuellen Handlungen voraussetzen und die das „Nein heißt Nein!“ nicht mehr zu einer Beweislast für Frauen machen, hat das Auftreten der Ministerin und vieler sie unterstützenden Fraueninitiativen auch viele gesellschaftliche Debatten ausgelöst. Sogar innerhalb der unterschiedlichen Generationen von Feministinnen gab es dabei Unstimmigkeiten und Redebedarf. Es war für uns beeindruckend, wie eine linke Ministerin hier agiert und ernst macht mit Gleichstellung und dem Recht auf weiblicher Selbstbestimmung in allen Lebenslagen. Ebenso konnte man in der Debatte viel von Nerea Barjla, Aktivistin und Schriftstellerin, und von der Journalistin Cristina Fallarás lernen, die den Prozess der politischen Durchsetzung, der Auseinandersetzungen in Justiz, Schulen, bei der Polizei minutiös verfolgten. Denn ein Sensibilisieren für den Umgang mit alltäglichem Sexismus bis hin zu Straftaten gegen Frauen verlangt mehr als neue Gesetzestexte. Deshalb kamen auch Regelungen zur Sprache, die wir zum Beispiel so in Deutschland gar nicht kennen, wo wir auf den Schutzraum Frauenhaus setzen. In Spanien – auch wenn dies nicht für jeden Einzelfall passend ist – wird auch ein umgekehrter Weg versucht. Männer, die häusliche Gewalt ausübten, werden von diesen Orten entfernt, so dass Frauen, zum Beispiel mit mehreren Kindern, nicht das komplette soziale Umfeld verlassen müssen. Leider war, wie auch bei den anderen Gesprächsrunden, die Debattenzeit viel zu knapp.
Klimapolitik ist Querschnittsarbeit
Der Mittwochvormittag stellte die Klimapolitik in den Mittelpunkt. Alberto Garzón, Spaniens Minister für Verbraucherfragen, Agnès Delage, Klimapolitikforscherin, Unai Sordo, Generalsekretär der CCOO Gewerkschaft, und Alberto Coronel, Wissenschaftler, bestritten die Debatte und einmal mehr fragte man sich, wenn alle Fakten auf dem Tisch liegen, wenn diverse ökologische Kipppunkte überschritten sind: Warum handelt Politik so langsam? Allein Verbraucherinnen und Verbraucher werden die anstehenden Herausforderungen nicht lösen, auch wenn wir alle dazugehören. Doch zu dieser individuellen Perspektive gehören riesige Änderungen der Art zu produzieren oder zu transportieren. Sicher kann man in Vielem lokal beginnen, doch – und das war ein entscheidender Teil der Debatte – benötigt man dafür die Zustimmung der Menschen, muss also eine entsprechende, offene und demokratische Debatte führen über die Veränderungen, die uns alle betreffen. Ohne diese Akzeptanz kommen wir keinen Schritt weiter, denn gerade ärmere Haushalte haben oft nicht die Möglichkeiten, teure Klimatechnik zu nutzen, zu kaufen und anzuwenden. Hier muss es Schutz und Unterstützung geben und in gewisser Hinsicht war Spanien hier vorbildlich in der Krise, denn es hat – staatlich gestützt – die niedrigsten Energiepreise innerhalb der EU-Mitgliedstaaten.
„Es geht nicht um eine Epoche des Wandels, sondern um einen Epochenwandel“ (Yolanda Díaz Pérez)
Die Herausforderungen, wie die Bewältigung des Klimawandels, das Verständnis für die planetaren Grenzen, stehen ganz unmittelbar mit jeder Beschäftigungs- und Sozialpolitik im Zusammenhang. Dies vermittelte eindrucksvoll der Nachmittag, der mit einer Debatte um Arbeitskämpfe in Spanien begann. Mit dabei waren Arbeiter*innen von Amazon, von der Gewerkschaft für Haushaltsarbeiten, Vertreter*innen der Metallverarbeitung aus dem Baskenland und von Zara aus Madrid. Alle zusammen warteten dann, genau wie die Fraktionsmitarbeiter*innen und Abgeordneten, auf Spaniens Sozialministerin Yolanda Díaz, die wie ein Popstar empfangen wurde.
„Wir waren in der Regierung während der Pandemie und des Krieges in der Ukraine und haben sozial gehandelt: Es gab eine Mietenbremse, Strom- und Ölpreise sind die niedrigsten in Europa und wir haben den ÖPNV billiger gemacht und den Mindestlohn um 50 Prozent erhöht.“ Das alles, so betonte die Ministerin, schaffte eine Koalition, die auch für Frauenrechte, Transrechte und Queers einsteht. Dass diese Regierung wirklich ein sozialer Motor war, das war Diaz wichtig zu sagen, lag daran, dass sie auch konsequent feministisch war. Das war tatsächlich ein Grund der Erfolge, denn so konnte das linke Bündnis einer sozialdemokratischen Partei diese Maßnahmen aufzwängen. Sie ging darauf ein, was ebenfalls für den Erfolg unumgänglich war. „Wir haben nicht geschwiegen, sondern im Detail erläutert, als öffentliche Debatte, was wir wollen. Wir haben die Regierung als Spielfeld des ideologischen Kampfes verstanden. Die Medien haben es erst als Lärm bezeichnet.“, zum Beispiel beim Gesetz: „Nur ein Jahr ist ein Jahr“ und beim Ukraine-Gesetz, denn Spanien hat sich gegen Waffenlieferungen ausgesprochen als Ausnahme in Europa. Dass jetzt die Chance zu einer zweiten Regierungsbildung dieser Art besteht, sah Diaz als wichtig für Europawahlen gegen ein Europa von Meloni und Orban an. „Wir kommen aus einer linken Partei, haben auch Fehler, aber wir müssen mehr Rechte durchsetzen, auch für Migranten, müssen unsere Fortschritte erläutern und internationale Allianzen schmieden.“, so Diaz Fazit aus der Regierungserfahrung.
Picassos Guernica: Kunst und Antifaschismus in Spanien
Am Mittwochnachmittag brachen wir zu einer Tour in das Reina Sofia Museum in Madrid auf. In diesem Museum ist eine einzigartige Sammlung spanischer Malerinnen und Maler und seit zwei Wochen darf man auch Picassos Guernica-Wandbild fotografieren. Dieses Gemälde gegen Krieg und Faschismus, mit seinem historischen Hintergrund aus dem spanischen Bürgerkrieg, ist von zeitloser Tiefe. Dereinst im Pariser Exil in wenigen Wochen gemalt, diente es als „Wanderpokal“, um Geld im Kampf gegen den Faschismus zu sammeln, und wurde schon zu seiner Entstehungszeit weltweit ausgestellt. Nun hat es nach umfangreicher Restaurierung einen festen Platz und das Museum hat es geschafft, dass es nicht das Schicksal der Mona Lisa im Louvre teilen muss. Alle Besucher*innen haben die Möglichkeit beinahe in Tuchfühlung zu diesem großartigen Werk zu stehen, sich Zeit zu nehmen für die vielen Allegorien von Schmerz, Friedenssehnsucht und Fürsorge in dunkelsten Zeiten. Viele weitere Bilder, die in dieser Zeit entstanden, wurden in einfachen Zeitschriften oder auf Plakaten veröffentlicht. Wir erfuhren auch, dass die Künstler im spanischen Bürgerkrieg nicht in die erste Reihe geschickt wurden, sondern sogar angehalten waren, mit ihrem besonderen Können den antifaschistischen Kampf zu unterstützen.