Martinas Woche 5_2023 – Vorm Sondergipfel des Europäischen Rates
Asyl- und Migrationspolitik – Politische Werbung – Afghanistan – Europäische Betriebsräte – Plattformarbeit
Eigentlich ist ein Miniplenum nichts Besonderes. Es findet regulär statt zwischen den einwöchigen Plenartagungen im französischen Straßburg, und zwar immer am Mittwoch und Donnerstag in Brüssel. Im Prinzip wird in der Tagesordnung einfach mit Aussprachen und auch Abstimmungen fortgefahren. Vertagtes – wie diesmal die Abstimmung zur Plattformarbeit – kommt dann erneut auf den Plan, Tagungen des Europäischen Rates werden ausgewertet oder vorbereitet, so wie dieses Mal das mehrfach vor sich hergeschobene Treffen der Regierenden aus den Mitgliedstaaten zur Asyl- und Migrationspolitik.
Presseempfang der linken Delegation in Brüssel
Alljährlich zum Jahresauftakt lädt unsere Delegation Journalist*innen und Journalisten ein, um über die kommenden Projekte zu informieren, aber auch deren Interessen, über die Arbeit des Europaparlaments zu berichten, zu erfragen. Dabei geht es zumeist recht individuell zu, nach einer kurzen Vorstellung der Arbeitsschwerpunkte unserer Abgeordneten. Immerhin haben wir hier auch eine Besonderheit für die in Brüssel und Deutschland arbeitenden Journalist*innen zu bieten. Wir besetzen nicht nur interessante Ausschüsse – wie Beschäftigung oder Innenpolitik, Internationaler Handel, Kultur und Medien, Binnenmarkt und Verbraucherschutz, sowie Regional-, Industrie- und Außenpolitik u. a. m. – wir haben auch unter den fünf Europaabgeordneten mit Martin Schirdewan den Fraktionsvorsitzenden von The Left und zugleich den Co-Parteivorsitzenden der Linken aus Deutschland in unserer Delegation. Das ist für Journalist*innen dann doch ein großes Plus für diese Gespräche.
Miniplenum in Brüssel I – Blick auf die Sondertagung des Europäischen Rates
Die Unterstützung der Ukraine sowie Beihilfen für die grüne Wirtschaft werden auch auf dem Sondergipfel weiterverhandelt, doch im Mittelpunkt wird wieder die EU-Migrations- und Asylpolitik liegen, deren Fortschritte seit dem unsäglichen EU-Türkei-Deal vom März 2016 eher dürftig sind, obwohl das Parlament Ende 2017 ein großes Paket vorlegte und Ursula von der Leyen 2019 versprach, es endlich verbindlich aufzuschnüren und in ein neues Dublin IV zu verpacken. Was es gab, war eine Frontex-Aufforstung und, statt einer Wiederherstellung einer funktionierenden Seenotrettung und einer humanen Integrationspolitik, eine sanktionierte Abschreckung und eine Verstrickung von Frontex in Push Backs (Illegale Rückführungen), die zum Rücktritt des Frontex-Chefs und Untersuchungsausschüssen im Parlament führten. Mit dem Krieg in der Ukraine entstand erneut eine Situation veränderter Flüchtlingsströme und erneut die Einteilung Asylsuchender in mehrere Klassen, denn während Ukrainer auf dem Ticket der „Massenzustroms-Richtlinie“ einreisen konnten, standen zum Beispiel Studenten aus Kiew, die aus einem Drittstaat kamen, vor Hürden der Anerkennung, obwohl sie genauso vor einem Krieg flohen, wie Ukrainerinnen und Ukrainer. Im Plenum stellte dann die schwedische Europaministerin Jessika Roswall ihre Schwerpunktsetzung bei der kommenden Asyl- und Migrationspolitik vor. Wir haben es eigentlich kaum anders erwartet: Migration stand wiederum nicht im Zeichen ihrer Bewältigung, des Verständnisses der Ursachen und der Möglichkeiten der Integration, sondern es ging um die Sicherung der Außengrenzen der EU durch eben jene Behörde, die sich Grundrechtsverletzungen zu Schulden kommen ließ. Es ging um die Verhinderung der sogenannten „illegalen Migration“, um eine Anhebung der Zahl der Rückführungen von Migrant*innen, die Bekämpfung von Schleuserbanden und dann noch um ein „Integrationspaket“. Kommissionspräsidentin von der Leyen schlug dann vor, dass Rückführungsbescheide demnächst EU-weit gelten sollen, ging jedoch auch auf die andere Seite der Migrationspolitik ein: die geregelte Einwanderung als Chance, den Fachkräftemangel in den Griff zu bekommen.
Von der Leyen sprach von der Notwendigkeit, den Grenzschutz zu verstärken, insbesondere zur Türkei und einer Intensivierung der Zusammenarbeit mit dem UNHCR und den am Mittelmeer gelegenen Drittstaaten. Die EVP befand dann schon mal, dass Grenzzäume in Ausnahmefällen kein Tabu mehr sein dürften und Renew pflichtete dieser Stoßrichtung, die das Recht auf Asyl weiter aushöhlt, auch noch zu. Die S&D-Fraktion zeigte hier, wo der Riss mitten durch das Parlament geht, und verlangte nach einem solidarischen Europa für Schutzsuchende. Eine Rückkehr in die Herkunftsländer bedinge, dass man die Lebensverhältnisse in diesen Staaten verbessere. Grüne und Linke stärkten diese Position.
Miniplenum in Brüssel II – Transparenz und Zielgenauigkeit der politischen Werbung
Die Europawahlen 2024 bestimmen bisweilen schon den parlamentarischen Alltag. Spätestens seit dem Skandal um Cambridge analytica wissen wir, dass personalisierte Werbung nicht nur bei Produktbewerbung eingesetzt wird, sondern auch in Wahlkämpfen mitentscheiden kann, weshalb die Transparenz-Regeln politischer Werbung seit Monaten in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren auf den Prüfstand gestellt wurden. Nutzer*innen von sozialen Netzwerken müssen sicher sein, dass sie wissen, wenn sie in politische Werbung eingebunden werden. Das sogenannte Micro-Targeting, das intransparente Desinformation von Werbediensten praktiziert, sollte verboten werden. Wie immer geht es bei solchen Gesetzesvorschläge auch um die Umsetzbarkeit und Kontrolle, damit am Ende alle Verbraucher*innen wissen, ob sie Ziel einer Werbekampagne in Wahlen sind und wer diese finanziert hat. Dabei muss auch geklärt sein, wie dieses Verbot für Einrichtungen, die ihren Sitz außerhalb der EU haben, durchgesetzt wird. Damit diese wichtigen Entscheidungen schon zu den nächsten Europa-Wahlen 2024 greifen, gehen nun das Parlament mit der Kommission und dem Europäischen Rat zurück in die Verhandlungen, darauf hoffend, am Ende der schwedischen Ratspräsidentschaft ein gültiges Ergebnis zu haben.
Miniplenum in Brüssel III – Lage der Frauen in Afghanistan
Im Dezember 2022 verboten die Taliban afghanischen Frauen den Zugang zu Universitäten, nachdem sie zuvor schon den Besuch weiterführender Schulen für Mädchen untersagt hatten. Die extreme Diskriminierung beim Recht auf Bildung zieht zugleich die massive Verdrängung von berufstätigen Frauen nach sich. Dies trifft, so wurde in der Parlamentsdebatte herausgearbeitet, insbesondere auch die Arbeit vieler Organisatoren, die sich in der humanitären Hilfe engagieren und deren Frauenanteil bisher immer besonders hoch war. Manche Organisationen mussten deshalb schon ihre Arbeit einstellen.
Miniplenum in Brüssel IV – Rat und Kommission bereiten sich auf den Ukraine-Gipfel vor
Mehrheitlich unterstützen die Abgeordneten des Europaparlament die EU-Mitgliedschaft der Ukraine und einen schnellen Beitrittsprozess, wie sie in einer Resolution zusammenfassen. Sie richteten sich damit auch an ukrainische Behörden, substanzielle Reformen einzuleiten, um die EU-Beitrittskriterien so bald wie möglich zu erfüllen.
In der Entschließung des Parlaments ist die Forderung festgehalten, dass eingefrorene Vermögen der russischen Zentralbank sowie Vermögen von russischen Oligarchen zur Finanzierung des Wiederaufbaus nach dem Krieg verwendet werden sollen. Im Zuge dieser Forderung setzt das Parlament auch auf ein zehntes Sanktionspaket gegen Russland, das auch Unternehmen wie Lukoil und Rosatom treffen soll. EU-Importe fossiler Brennstoffe und Uran sollen sofort gestoppt werden, ebenso sieht das Parlament für Nord Stream 1 und 2 keine Zukunft. Nun bleibt abzuwarten, wie einig sich hier die Mitgliedstaaten sind. Zu Ukraine-Politik äußerte sich unsere Abgeordnete Özlem Demirel verbunden mit der Hoffnung, mit dem politischen Instrumentenkasten endlich aus der Kriegslogik auszusteigen. Ähnlich äußerte sich Martin Schirdewan dann am Wochenende umfassend in einem Interview in der Zeitschrift „Der Spiegel“, ohne die realen Schwierigkeiten, für eine konsequente Friedenspolitik einzutreten, kleinzureden.
Miniplenum in Brüssel V – Abstimmung zur Richtlinie über die Europäischen Betriebsräte
Im der Januartagung gab es einen leidenschaftliche Debatte zur Stärkung europäischer Betriebsräte. Doch die Abstimmung fiel dem Streik der französischen Verkehrsunternehmen zum Opfer und wurde deshalb in der vergangenen Woche nachgeholt. Viele Forderungen des Parlaments gehen weit über die Kommissionsvorschläge hinaus. Die Sicherstellung rechtzeitiger und aussagekräftiger Anhörungen, die Stärkung subsidiärer Vorschriften, eine Präzisierung des Geltungsbereichs der Vertraulichkeit sowie die Verbesserung der Streitbeilegung und die Einführung wirksamer, abschreckender und verhältnismäßiger Sanktionen standen hier ganz oben auf der Liste und folgten einer Resolution des Parlaments vom 16.12.2021.
Miniplenum in Brüssel VI – Arbeitsbedingungen bei der Plattformarbeit
Ebenfalls aus dem Dezember 2021 stammt der Kommissionsvorschlag für eine Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit. Das Europäische Parlament bestätigte am vergangenen Donnerstag das Verhandlungsmandat für die Trilog-Verhandlungen zum Richtlinienvorschlag. Die Berichterstatterin Elisabetta Gualmini (S&D) buchstabierte den Arbeitnehmer*innenschutz durch und verlangte Regularien zur korrekten Ermittlung des Beschäftigungsstatus‘ von Plattformarbeiter*innen. Die EVP sträubte sich mit einem Antrag gegen diesen Ansatz und wollte das Verfahren in den Ausschuss zurückverweisen. Doch die starke Ausschussposition konnte sich im ganzen Parlament durchsetzen. Nun sind die Mitgliedstaaten an der Reihe, dem schwachen Kommissionsvorschlag oder der starken Parlamentsposition zu folgen. Auch hier hat die schwedische Ratspräsidentschaft Versprechen abgegeben, die wir im Juli einfordern müssen. Wohin die Reise gehen soll, erklärte unsere arbeitsmarktpolitische Sprecherin, Özlem Demirel, nach der Abstimmung. „Es ist höchste Zeit, dass wir nicht nur in Fragen der Digitalisierung und des technischen Fortschritts, sondern auch bei den Rechten und Absicherungen der Arbeiter:innen im 21. Jahrhundert ankommen. Wir sprechen aktuell über circa 28 Millionen Menschen, 2025 werden es circa 43 Millionen sein, die auf Plattformen arbeiten, beziehungsweise sich für die Profite von Uber, Lieferando und Co. ausbeuten lassen.“, so verdeutlichte sie das ständig wachsende Spektrum, das von vernünftigen Arbeitsschutzgarantien betroffen wäre.