Brexit: Geht die Hängepartie noch weiter?
Kommentar von Helmut Scholz zu den laufenden Verhandlungen mit der britischen Regierung:
Es ist Freitag, früh am Morgen und Brüssel wartet darauf, dass auch London wach wird. Der 15. Oktober ist verstrichen. Wird sich Boris Johnson heute an die von ihm selbst gesetzte Deadline halten? Der Mann liebt den großen Theaterauftritt und könnte heute mit der Verkündung des Endes der Verhandlungen das Bild erschaffen, das als Symbol für den Brexit in die Geschichtsbücher eingeht.
Die Chefinnen und Chefs der EU27 haben angedeutet, dass es noch nicht die letzte Runde gewesen sein muss und man sich nach vier Wochen, am 12./13. November noch ein weiteres letztes Mal in Brüssel versammeln könne. Die vereinbarte Kommunikationslinie des offiziellen Brüssels lautet, man sei sich schon fast einig und nur beim Fischfang oder bei der Sicherstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen seien noch Details zu klären.
Doch laut dem, was einigen wenigen von uns Europaabgeordneten hinter verschlossenen Türen und unter dem Siegel der Verschwiegenheit über den Verhandlungsstand berichtet wird, sind die Differenzen erheblich. Und so steht die Frage im Raum: Bleiben die vom Parlament verlangten Haltelinien erhalten: Umsetzung des Withdrawal Abkommens inkl. des irischen Protokolls, level playing field, also auch die Bürger*innenrechte? Würden die offensichtlich doch noch großen Differenzen zwingen, bestenfalls ein gemeinsames Täuschungsverfahren zu verabreden? Eine so genannte „politische Einigung“ würde erklärt und die Klärung der noch offenen Details werden der technischen Ebene zur weiteren Verhandlung überlassen – vielleicht über Jahre?
Sie sind geprägt von transparenter Intransparenz, diese Verhandlungen. Unternehmen, Gewerkschaften, Bürger*innen und ihre Organisationen haben kaum Einblick in die Details. Aber die Hauptstädte und die Parlamentsspitzen im Europaparlament werden relativ eng einbezogen. Man wird dadurch auch etwas zum Komplizen, was im Fall der Linken durch den Zweck geheiligt wird, den irischen Frieden und das Karfreitagsabkommen vor den Folgen des Brexit zu schützen, sowie die individuellen Rechte der vielen tausend Bürger*innen, die jeweils jenseits der zukünftigen Grenze zwischen unserer EU und Britannien leben und arbeiten. Doch ist schon jetzt so viel Zeit vergangen, dass ein Verhandlungsergebnis mit so viel Tempo durchs Europaparlament geprügelt werden müsste, dass die meisten Abgeordneten wohl über Worte abstimmen müssten, die sie nicht gelesen haben. Das spottet der parlamentarischen Aufgaben.
Mir erscheinen die Streitfragen, wie unter anderem ob auch künftig in Brüssel beschlossene Standards von Brit*innen beachtet werden müssen, ob der Europäische Gerichtshof darüber wachen darf, ob britische Unternehmen und Dienstleistungsanbieter frei durch die EU reisen dürfen, ob die Londoner Finanzwelt von Downing Street 10 dereguliert werden darf, ja und auch ob die Fischkutter von Spanien, Frankreich, Belgien, Holland und Deutschland den Fisch weiter dort fangen dürfen, wo er nun mal schwimmt, alle noch so weit offen, dass sie bis Ende Oktober nicht geklärt werden können. Boris Johnson und David Frost, aber auch Angela Merkel, Charles Michel, Ursula von der Leyen und Michel Barnier kommen aus der Nummer nicht mehr ohne Gesichtsverlust raus, wenn es eine Einigung geben soll. Die Beschäftigten bräuchten diese Einigung. Wahrscheinlicher aber ist und wird es immer mehr: No Deal.