Martinas Woche 25_2020: Das heißeste Büro Brüssels
Plenum – Ergebnisloser Regierungsgipfel – Israel – Brexit – Zukunftskonferenz der EU – Antifa – Rassismus
In dieser Woche tagte das Plenum in Brüssel und Martina sowie fast alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter waren fast vollständig im Parlament, wenn, ja wenn da nicht die Temperaturmessungen den Sicherheitscheck ergänzt hätten. Am Mittwoch, kurz bevor die Plenartagung begann, wurde eine kleine Mittagspause eingelegt und die meisten schwärmten in die Mittagssonne auf den Platz Luxemburg zu einer Kleinigkeit und einem Kaffee. Doch dies hatte ziemlich ungewöhnliche Folgen. Als alle den Eingang zum Parlament durchquert hatten, zeigte die Temperaturmessung irgendetwas über 37.4 Grad und einer wie die andere bekamen keinen Einlass. „Ich muss doch abstimmen“, sagte Martina, „Mein Auto steht doch in der Garage“, meinte André… Doch es gab kein Erbarmen. Auch Özlem und Nora hatte es erwischt. Alle mussten sich ein Plätzchen zum Abkühlen suchen, um erneut den Einlass ins Parlamentsgebäude zu versuchen. Irgendwann konnten alle die Arbeit fortsetzen und davon gab es in dieser Woche einmal wieder reichlich. Neben dem Parlament tagte dann am Freitag auch der Europäische Rat, einmal mehr ohne Ergebnisse, als ob die Regionen bis zum Sankt Nimmerleinstag auf die Corona-Hilfen warten können. Da einigten sich einmal mehr die Staats- und Regierungschefs nicht auf das Herangehen an die Hilfsinstrumente, auf Fragen des zukünftigen Mehrjährigen Finanzrahmens (MFR), der gänzlich umgestaltetet werden muss, wenn aus der Corona-Krise nicht ein ganzes Krisenbündel erwachsen soll.
Im Plenum: Brexit – ein politischer Alptraum
„Die Linksfraktion im EP wird sich weiterhin für die Sicherung der sozialen Rechte der Europäer*innen und gegen einen Dumpingwettbewerb mit Großbritannien einsetzen. Das Brexit-Ergebnis darf keine Abwärtsspirale bei sozialen, Umwelt- und Verbraucherschutzstandards sein. Auch ein drohender Steuerdumpingwettbewerb muss unbedingt vermieden werden. Wir fordern zudem Transparenz beim Austausch von persönlichen Daten zwischen den Behörden und umfassenden Datenschutz. Durch die Absage Großbritanniens an eine Verlängerung der Übergangsphase müssen wir uns jedoch ernsthaft auf einen harten wirtschaftlichen Brexit am Ende des Jahres einstellen. Deshalb brauchen wir einen Notfallplan für die betroffenen Beschäftigten und Unternehmen.“, sagte Martin Schirdewan vor Beginn der Plenartagung. An einer Resolution des Parlaments zu den zukünftigen Verträgen und Beziehungen haben wir entsprechend mitgearbeitet, doch am Ende konnten wir uns im Text nicht wiederfinden und haben uns enthalten. Helmut Scholz sagt uns en detail warum.
Im Plenum: Israel und seine Annexionspläne
„Ich kann kaum glauben“, kommentierte Martina Michels, „dass die israelische Regierung ernsthaft plant, besetzte Gebiete zu annektieren. Damit würde sie jahrzehntelange Arbeit für eine friedliche Lösung über den Haufen werfen. Auch sie muss Verantwortung für einen echten Friedensprozess übernehmen, auch sie muss Menschenrechte schützen und das Völkerrecht einhalten. Eine Annexion wäre genau das Gegenteil. Der Hohe Vertreter für die EU-Außenpolitik hat diesen Plan schon verurteilt. Doch auch alle EU-Mitgliedstaaten müssen dahinterstehen und Konsequenzen für ihre Beziehungen zu Israel ziehen. Diese Position sollte auch die deutsche Ratspräsidentschaft verfolgen. Ein Mittel wäre dann, das Assoziierungsabkommen zeitweise einzufrieren.” Auch wenn Martina in der Debatte am Donnerstag Vormittag im Parlament nicht zu Wort kam, bewertete sie die neuesten Pläne der Israelischen Regierung, angefeuert von Trumps Nah-Ost-Politik, als Spiel mit dem Feuer. Nach drei Wahlen mit instabilen Regierungsbildungen will nun Netanyahu „Stärke“ zeigen. Doch er tut damit weder seinem eigenen Land eine Gefallen noch den arabischen Nachbarn.
Im Plenum: Zukunftskonferenz zur EU
Vor über sieben Monaten kündigte die EU-Kommission eine Konferenz zur Zukunft der EU an. Das Parlament und die Kommission haben ihre jeweiligen Standpunkte zum Format und zur Organisation der Konferenz, bei der vor allem viele Bürgerinnen und Bürger einbezogen werden sollen, bereits im Januar 2020 verabschiedet. Doch einmal mehr warten alle auf die Position des Rates, dem es offenbar schnuppe ist, wie die Zukunftsfragen sowohl langfristig als auch kurzfristig angegangen werden. Helmut Scholz erinnert deshalb an den 2007 gescheiterten Verfassungsprozess und warnt vor einer Wiederholung derartigen Versagens demokratischer Auseinandersetzungen.
Europäischer Rat lässt die Regionen weiter am ausgestreckten Arm verhungern
Und auch in der anderen Frage: „Wie geht es mit den Corona-Hilfen und dem Mehrjährigen Finanzrahmen weiter?“ vertagen sich die Regierungsvertreterinnen und Vertreter einmal mehr auf den nächsten Monat und Merkel sprach von den großen Brücken, die noch zu überwinden sind. Im Juli 2020 dann soll das Gipfeltreffen nicht mehr als Videokonferenz stattfinden. Unser Fraktionsvorsitzender, Martin Schirdewan, formuliert es kurz und knapp: „Die Bewohner*innen der EU brauchen endlich Entscheidungen und keine ergebnislosen Gipfeltreffen. Dennoch lassen die Regierungen ihre Bevölkerung warten…“ Das Problem daran ist, es leiden nicht nur die Regionen, die die Hilfen zum Wiederaufbau der Wirtschaft und des gesellschaftlichen Lebens jetzt und nicht irgendwann dringend brauchen, ob es nun Kurzarbeitergeld, Kredite oder Zuschüsse sind. Und obendrauf ist dieses ganze Gerangel Wasser auf die Mühlen der Nationalistinnen und Nationalisten, denn die zeigen dann wieder mit spitzem Finger auf die EU-Politik, dabei waren es die Mitgliedstaaten selbst, die hier herumeiern und ihre Bürgerinnen und Bürger im Regen stehen lassen.
Rechtsaußen dreht frei und fordert ANTIFA-Verbot
Jaak Madison aus Estland hat eine ganz absurde Idee. Er ist Mitglied der Fraktion Identität und Demokratie (ID), dort wo sich auch die AfD aus Deutschland, die Lega aus Italien, der französische Rassemblement National oder Vlaams Belang organisieren. Er will die ANTIFA auf die Terrorliste setzen lassen. Mal abgesehen, dass ziemlich unklar ist, wer „die“ ANTIFA sein soll, ist auch die ganze Stoßrichtung seiner Unternehmung übel. Doch dieses Unterfangen reiht sich in einen rauen Ton ein, der seit der neuen Legislaturperiode im Parlament oft angeschlagen wird. Schon zur Inauguration des Parlaments drehten viele der rechten Abgeordneten bei der Europahymne dem Saal den Rücken zu, eine entsetzliche Szene in der ersten feierlichen Sitzung im Juli 2019. Martina Michels wurde vom ND nach der Einordnung derartiger Anträge gefragt und sie antwortet deutlich: „,Die Debattenkultur hier im Haus hat sich spürbar verändert’, sagt die linke EU-Abgeordnete Martina Michels. ‚Die Rechten grölen, schimpfen und lügen, verachten andere Meinungen und damit die Demokratie. Dass Nazi-Kollaborateure im Baltikum von ihnen zu Befreiern stilisiert werden und Russland zum ‚Reich des Bösen‘ wird, wundert mich da nicht‘, so die Sprecherin der Linkspartei-Delegation in Brüssel gegenüber ‚nd‘.“
Rassismus: Brüssel fast im Normalbetrieb?
Die Stadt lebt wieder auf. Immerhin wurde Brüssel sehr hart von der ersten Corona-Welle getroffen und entsprechend streng gestaltete sich der Lockdown. Nun können die Menschen wieder draußen sitzen, in der Mittags- oder Abendsonne verweilen. Die ersten Schulbusse fahren wieder. Ein Hauch von Normalität ist zurückgekehrt, wenn auch noch recht wenige Touristinnen und Besucher in der Stadt sind.
Doch zugleich herrscht Unruhe in der Stadt. Der Tod von George Floyd ist auch in Brüssel ein Thema. Im afrikanischen Viertel, in Ixelles, das gleich neben dem Parlament beginnt, gab es vor einer Woche große Unruhen nach Demonstrationen. Diese Unruhen verweisen nicht allein auf strukturellen Rassismus und seine Gegenwehr. Die Erlanger Europaabgeordnete Pierrette Herzberger-Fofana von den Grünen wurde bei ihrer Ankunft am Dienstag in Brüssel ebenfalls von der Polizei unzulässig attackiert. Sie schilderte in einem Interview den Vorfall: „Ich kam Dienstagnachmittag mit dem Zug aus Erlangen in Brüssel an. Am Bahnhof sah ich neun Polizisten, die zwei junge schwarze Männer belästigten. Ich schoss ein Foto, was legal ist. Die Beamten haben das gesehen, kamen dann zu neunt auf mich zu und entwendeten sofort mein Handy. Daraufhin verlangten sie meine Ausweisdokumente. Ich zeigte Ihnen vier verschiedene, inklusive meinen Abgeordnetenausweis. Aber sie glaubten mir trotz meinem Abgeordnetenausweises nicht, dass ich Europaabgeordnete bin, und befahlen mir, die Arme zu heben und drückten mich dann zu viert an die Wand. Und erst als der Fahrer des Parlaments kam und intervenierte, ließen sie von mir ab.“ Die schwarze Abgeordnete schilderte, dass sie viel Solidarität im Parlament erfahren hatte, doch sie fand auch klare Worte gegen die Polizeigewalt, die ihr widerfuhr, und sieht Ansätze von der Aufarbeitung des Kolonialismus bis zur Beendigung, bei Polizeigewalt über „Einzelfälle“ zu sprechen und hier endlich zu handeln und zwar in allen Mitgliedstaaten.