Für eine offene Gesellschaft!
Ein Artikel von Cornelia Ernst, zuerst erschienen bei „die-zukunft.eu„
Die Europaabgeornete Dr. Cornelia Ernst ist Sprecherin der Delegation der Partei DIE LINKE. im Europäischen Parlament und dort unter anderem Mitglied im Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres (LIBE). Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören Asyl/Migration, Datenschutz und innere Sicherheit. Den Beitrag schrieb sie gemeinsam mit ihrem Mitarbeiter Lorenz Krämer.
Asyl und Einwanderung nicht vermischen
Wir haben einerseits ein „vom Aussterben bedrohtes Asylrecht“ in Europa und zugleich zu wenig Rechte für Menschen, die hierher kommen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben oder darauf, ihre Familien im Ausland mitversorgen zu können. Stichwort Asyl: nach heute geltender Rechtslage ist Asyl nicht gleich Asyl. Asyl ist reserviert für Menschen, die in ihrem Heimatland systematisch von der Regierung verfolgt werden. Flüchtende aus Bürgerkriegsgebieten hingegen erhalten sogenannten temporären Schutz – und der ist zeitlich begrenzt und wird aufgehoben, wenn nach Ansicht der Bundesregierung das Land wieder sicher genug ist. Dafür ist ein gutes Beispiel der Kosovo. Die überwiegende Mehrheit der von dort geflohenen Roma sind mittlerweile dorthin abgeschoben worden, oft mit Kindern, die in Deutschland geboren wurden, bei uns in die Schule gingen und die kein Wort albanisch sprechen. Und: Nur weil die EU Kosovo zum sicheren Herkunftsstaat erklärt hat, wurde die Rundum-Diskriminierung von Roma ja nicht aufgehoben. Wenn sich also doch eine Romafamilie nach Deutschland aufmacht, hat sie z.Z. weder ein Recht auf Asyl noch den Hauch einer Chance, sich legal hier niederzulassen. Oder was geschah nach 2011 mit Arbeitsmigrant*innen aus Bangladesh in Libyen? Sie hatten jahrelang dort gearbeitet, um ihre Familien zu ernähren. Nach dem politischen Umsturz in Libyen wurden sie arbeitslos, in Lager gesteckt, vertrieben und landeten nach einer Odyssee in Lampedusa. Als Geflüchtete.
Asyl und Migration sind zwar per Definition zwei unterschiedliche Paar Schuhe, aber die Grenzen dazwischen sind für die Einzelnen manchmal fließend. Beispiele für erfolgreich integrierte Menschen, die nach Europa geflohen sind und hier jetzt leben, gibt es zuhauf. So sind zahlreiche Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten ansässig geworden. Für diese Perspektive zu kämpfen, ist seit jeher ein Ziel DER LINKEN. Wir brauchen also beides, eine grundlegende humanistische Reform des Asylrechts UND faire rechtliche Grundlagen für Einwanderung – und zwar in Deutschland UND in der EU, wohl wissend, dass damit unterschiedliche gesetzliche Grundlagen und Handlungsspielräume verbunden sind.
Zum Asylrecht
Wir werden uns schnell einig darüber, das Asylrecht auf menschenwürdige Grundlagen stellen zu wollen. Aber dann kommt schon die Frage, wer soll eigentlich Schutz erhalten? Politisch Verfolgte? Wer sind die „Menschen in Not“? Was ist mit der Transfrau aus Iran, die wir im türkischen Abschiebegefängnis getroffen haben? Oder der Algerierin im Abschiebe-Center einer griechischen Insel, die zwangsverheiratet wurde und deshalb aus ihrem Land floh? Wie gehen wir mit Klimaflüchtlingen um? Wir sind der Ansicht, dass es sowohl auf europäischer wie auf bundesdeutscher Ebene zwingend erforderlich ist, die Definition von Flucht- und damit Schutzgründen deutlich zu erweitern. In der Bundesrepublik muss das einhergehen mit der Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Dieser Punkt sollte Konsens sein in der LINKEN. Wichtig ist eine Vereinfachung des Asylrechts im Sinne der Geflüchteten, und nicht, um diese schneller loszuwerden. Humanitäre Visa, die in deutschen Botschaften ausgestellt werden dürfen sind dringend erforderlich, ebenso die Abschaffung des Konzeptes von sicheren Herkunfts- oder Transitländern.
Spätestens hier befinden wir uns in einem europarechtlichen Rahmen, der Anwendungsvorrang hat. Asylpolitik und übrigens auch Einwanderungspolitik kann nie nur national gedacht und umgesetzt werden, erst recht nicht in einem Schengen-Europa. Mit Blick auf das Asylrecht: Humanitäre Visa sind seit langem eine Forderung des Europaparlamentes, die Einführung scheitert regelmäßig am Rat der EU, in dem die Innenminister schalten und walten. Oder nehmen wir das Asylpaket (Verfahrens-RL, Qualifikations-RL, Dublin-VO, Aufnahme-RL), das gegenwärtig komplett reformiert wird. Bis auf die Aufnahme-Richtlinie werden alle bisherigen Richtlinien künftig EU-Verordnungsrang haben und den Regierungen nur wenig Spielraum lassen. Schon deshalb ist es geboten, sich in den Mitgliedsstaaten dazu wahrnehmbar zu äußern und auch die Bundesregierung mit klaren Aufträgen auszustatten. Das Mandat des Europaparlamentes zur Dublin-Verordnung sieht zwar leider immer noch keine freie Auswahl des Ziellandes vor, würde aber dennoch faktisch die Abschaffung des bisherigen Dublin-Systems bedeuten, demzufolge meistens die Menschen dort bleiben müssen, wo sie zum ersten Mal die EU betreten haben. Das EP schlägt eine Mischung aus objektiven Kriterien vor, gepaart mit einem, wenn auch begrenzten, Auswahlelement für die Antragsteller*innen. Zudem enthält es die bislang größten Fortschritte zur Humanisierung des Asylrechtes seit sehr vielen Jahren. Der Kommissionsentwurf zur Dublin-Reform, der die de facto Abschaffung des Asylrechtes beinhaltete, wurde gekippt. Es gibt Regelungsvorschläge im Mandat, die der dringenden Unterstützung bedürfen, wie die Abschaffung einer Zulässigkeitsprüfung vor dem eigentlichen Asylverfahren als Filter unter Anwendung des Sichere-Staaten-Konzeptes. Denn mit einem solchen Filter würde das Asylrecht aus Europa ausgelagert. Das Parlamentsmandat umfasst weitreichende Regelungen für unbegleitete Minderjährige, einen für Antragsteller unentgeltlichen Rechtsbehelf in allen Verfahrensphasen und einen Kriterienkatalog, der dem Dublin-Verfahren vorgeschaltet ist. Zu diesen Kriterien gehören das Recht auf Familienzusammenführung unabhängig vom Schutzstatus, die Anerkennung von Diplomen, Qualifikationen, die möglicherweise in einem Mitgliedsstaat (MS) erworben wurden, auch persönliche Bürgschaften und humanitäre Gründe, kulturelle, soziale Bindungen zu einem MS, Sprachkenntnisse. Trifft ein Kriterium zu, ist automatisch der MS für den Antragsteller zuständig, zu dem es eine solche Anbindung gibt. Vor allem diese Kriterien, die, wie unschwer zu erkennen ist, nicht nur asylrechtlich begründbar sind, müssen in den Verhandlungen mit dem Rat verteidigt werden.
Noch ein Wort zum Thema Fluchtursachen bekämpfen: dazu bekennt sich ja nunmehr fast jede und jeder, selbst die Kanzlerin. Selbstverständlich finden auch wir, dass hier vielmehr getan werden muss. Das fängt beim Verbot von Waffenexporten u.ä. an. Dazu gehört eine faire Handels- und Wirtschaftspolitik gegenüber weniger entwickelten Drittstaaten. So etwas wie einen Marshall-Plan für größere Regionen, um nachhaltige Entwicklung zu fördern, ist dafür absolut zwingend. Wir brauchen ein völliges Umdenken und neue Strategien im Verständnis von Handel und Wandel mit Drittstaaten in benachteiligten Regionen der Welt, basierend auf Fairness, Augenhöhe, Nachhaltigkeit. Das war übrigens eine Erfahrung, die wir in Jordanien machten. Dort haben uns die Behörden immer wieder gesagt, dass Geflüchtete als Chance wahrgenommen werden, die Infrastruktur des Landes zu entwickeln. „Wir brauchen gezielte Förderung zur Entwicklung des Landes, damit Jordanien ein Land der Beschäftigung, auch für Geflüchtete, werden kann“, so der O-Ton des Infrastrukturministers eines kleinen Königreiches. Solche Vorschläge müssen ernsthaft geprüft werden. Dennoch reicht das eben nicht aus, wenn ganz konkrete Menschen an der EU- Außengrenze ankommen und um Aufnahme und Schutz bitten. Dann mit den Defiziten des Weltkapitalismus zu argumentieren, ist zynisch und Zeichen einer Denkweise, die Ideologie über die Bedürfnisse von Menschen stellt. Stattdessen müssen wir uns pragmatisch entscheiden, ob und wie wir Unterstützung gewähren.
Zu Grenzen und Grenzkontrollen
Das Leitbild einer offenen Gesellschaft dürfen wir nicht in die Zukunft verschieben. Der Offenheit für Waren und Beziehungen des Kapitals müssen wenigstens wir – und gerade heute – offene Grenzen und die Grundrechte der Bürger*innen entgegenhalten. Dass wir bei der Umsetzung dieses Zieles schrittweise vorgehen müssen, dürfte klar sein. Im Thesenpapier heißt es, dass Grenzkontrollen nicht per se gewaltsam oder menschenfeindlich seien. Das halten wir für eine idealistische und naive Sichtweise, die so tut, als ob die staatliche Sicherheitsarchitektur ein neutrales Gebilde frei von Machtdynamik sei. Es lohnt auch die Wirksamkeit von Grenzkontrollen zu hinterfragen. Sehr wirksam gegen Terroristen oder Spione sind sie ohnehin nie gewesen, und „erfolgreich“ nur, wenn z.B. am Brenner möglichst kein Geflüchteter durchkommt. Wir haben das monatelang an der deutsch-französischen Grenze erlebt, wo wir als Europaparlamentarier durchgewinkt wurden, und Autos, in denen Menschen mit dunklerer Hautfarbe saßen, rausgeholt und kontrolliert wurden. Ethnisches Profiling nennt man das und es ist eine rassistische Praxis. Grenzkontrollen zwischen den Beitrittskandidatenländern und der EU dienen übrigens auch dazu, Einwanderer und Flüchtende zu stoppen, Roma-Familien nimmt man dabei gern den Pass ab. Insofern sind Grenzkontrollen nicht neutral. Und was die EU-Außengrenze angeht: Niemand hat Einwände dagegen, dass diese Grenze gegen Überfälle o.ä. geschützt wird. Die jetzt geplanten 10.000 Frontex-Grenzbeamten allerdings, die sich künftig an den Außengrenzen herumtummeln sollen, sehen ihr Hauptziel ganz klar in der „Flüchtlingsabwehr“. Ihre zweite Priorität ist der Kampf gegen Schmuggel – von Menschen, nicht von gefälschtem Parfüm, wohlgemerkt. Und dafür werden entsprechende Instrumente bereitgestellt. Noch etwas zum Datenaustausch: Schengeninformationssystem II, Eurosur, das elektronische Einreise- und Ausreisesystem, das Visainformationssystem, die kommende Reiseautorisierung ETIAS – all das sind Datenkonvolute, die Milliarden Datensätze sammeln und die Grundsätze von Privatsphäre und Rechtsstaatlichkeit für die Bürger*innen systematisch untergraben. Das nächste Projekt ist die sogenannte Interoperabilität – all die genannten Datenbanken werden zusammengeschlossen mit dem Ziel, eine Datenbank aller nicht-EU-Bürger*innen zu errichten. Das ist nicht nur symbolisch eine Festung, sondern faktisch. Wir als LINKE müssen uns unsere gesunde Skepsis gegenüber solchen Praktiken erhalten, deren Ziele offenlegen und das Recht der Bürger*innen auf Freizügigkeit verteidigen…
Der vollständige Artikel findet sich online bei „die-zukunft.eu„