Schulz & Avramopoulos in der Türkei: Zuckerbrot und Peitsche
Gestern gab es den ersten offiziellen politischen Besuch höheren Ranges von Seiten der EU seit dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei vor sieben Wochen. Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) traf bei seiner Reise mit dem türkischen Premierminister Binali Yildirim sowie mit Präsident Erdoğan zusammen. EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos sprach mit den türkischen Ministern für Außen- sowie für Europapolitik, Mevlüt Çavuşoğlu und Ömer Çelik. Die Agenda der beiden EU-Politiker ist erkennbar: Sie sollen ausloten und sicherstellen, was es kosten wird, damit sich die Türkei an die schäbige Abmachung hält, den EU-Mitgliedstaaten weiterhin Flüchtende vom Hals zu halten. Dazu Martina Michels, stellvertretendes Mitglied der EU-Türkei-Delegation und kulturpolitische Sprecherin der Delegation DIE LINKE. im Europaparlament:
„Schulz hat bei seinen Gesprächen festgehalten, dass eine Visaliberalisierung für die Türkei ausgeschlossen ist, so lange die Anforderungen von Seiten der Türkei nicht erfüllt werden, allen voran die Gesetzgebung zur Terrorbekämpfung und, so möchte ich nochmals festhalten, ein gesetzlich verankerter Datenschutz. So weit, so gut. Trotz manch kritischer Worte von Schulz jedoch, bleibt erst einmal abzuwarten, ob die Mitgliedstaaten der EU diesen Grundsatz ernsthaft beibehalten.“
Martina Michels ergänzt: „Die Mitgliedstaaten der EU handeln wie in einer selbstgewählten Sackgasse, wenn sie es weiterhin versäumen, eine eigenständige humane Flüchtlingspolitik auf den Weg zu bringen. Dabei gerät das diplomatische Verhältnis zwischen der EU und Ankara langfristig immer mehr zu einem unwürdigen Drahtseilakt: Die Spitzen der EU versuchen ihr Gesicht zu wahren, indem hier der Abbruch der Beitrittsverhandlungen und dort die Anpassung der Terrorgesetzgebung gefordert wird, doch letztlich geht es einzig darum, den EU-Türkei-Deal – die Spitze der europäischen Abschottungspolitik – um offenbar jeden Preis zu erhalten. Das ist ein moralischer Ausverkauf und ein historischer Tiefpunkt für die europäische Idee und das politische Projekt der EU!“
Zum Hintergrund
Ein heißgestrickter Verrat an Menschenrechten
Erdoğan steht spätestens seit der „Causa Böhmermann“ insbesondere in Deutschland am öffentlichen Pranger, und das zu Recht. Doch genau an dieser Stelle endet die Diskussion. Die grundsätzliche Frage danach, inwieweit die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten mit einem autokratischen Machthaber in Form des EU-Türkei-Deals gemeinsame Sache machen, bleibt hinter der Drohkulisse, die Beitrittsverhandlungen abbrechen zu wollen, weiterhin verborgen: Die Türkei bleibt Premiumpartner der EU und ihrer Mitgliedstaaten, scheinbar: komme was wolle.
„Nichts von den Entwicklungen des letzten Jahres – sei es der Krieg gegen die kurdische Bevölkerung in der Südosttürkei oder die skrupellose Verfolgung von RichterInnen, AnwältInnen, AktivistInnen oder JournalistInnen – hat die EU und ihre Mitgliedstaaten daran gehindert, Erdoğan als Verbündeten zu pflegen. Statt endlich eine wirksame Politik gegen die mannigfaltigen Fluchtursachen und einen humanen Umgang mit Flüchtenden sowohl rund um Syrien als auch in Europa in Angriff zu nehmen, verbündeten sich die EU-Mitgliedstaaten mit Erdoğans Türkei für ihre skrupellose Abschottungspolitik.
Mitte März wurde der EU-Türkei-Deal vom Europäischen Rat verabschiedet. Wäre er ein Abkommen, hätte dies die Mitbestimmung des Parlaments zur Folge gehabt. Aus diesem Grund blieb er eine ‚Erklärung‘, ein heißgestrickter Verrat an Menschenrechten.“
Beitrittsverhandlungen – Abbruch als Druckmittel?
„Die Debatte um das Ende der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist scheinheilig. Der Beitritt steht aktuell ohnehin nicht auf der politischen Agenda. Noch 2004 gestaltete Angela Merkels CDU ihren Europawahlkampf mit dem Einsatz für einen christlichen Gottesbezug in einer Europäischen Verfassung und leitete daraus ab, dass eine Türkei nicht in die EU gehöre. Eine säkulare Türkei gab es bei CDU/CSU offenbar gar nicht.
Diesmal ist die Ablehnung des Beitritts eine Reaktion auf Erdoğans „Säuberungswellen“ in Justiz, Polizei, Bildung und Medien nach dem gescheiterten Putsch und der etwaigen Einführung der Todesstrafe. Doch die Türkei ist Mitglied des Europarates und hat die Grundwertecharta unterzeichnet, die sich nicht mal kurzzeitig aussetzen lässt.“
Die Beitrittsverhandlungen aus menschenrechtlichen Gründen abbrechen zu wollen, aber einen Anti-Flüchtlingsdeal, in dem Menschenrechte geschliffen werden, mit der Türkei aufrecht zu erhalten, ist keine überzeugende Politik!
„Dass die EU weiterhin diesen Prozess der autokratischen Herrschaftsübernahme durch Fortsetzung und Bekräftigung des Deals stützt, ist mit Blick auch auf andere Regime nicht neu. Allerdings ist die Verflechtung der türkischen Gesellschaft innerhalb vieler europäischer Mitgliedsländer – insbesondere auch in Deutschland – ungleich größer, als zum Beispiel mit den Golfstaaten. Insofern hat die Nachbarschaftspolitik mit der Türkei nicht nur geopolitisch eine besondere Bedeutung und hier sind nicht nur Merkel, Schulz, Mogherini und Tusk gefragt, sondern auch der Kommissar für Nachbarschaftspolitik, Johannes Hahn, der bisher doch allzu ungeschoren davonkommt. Die Türkei ist geografisch, historisch und kulturell ein Teil Europas.
Die Traditionen der auf Laizismus setzenden Staatsgründung durch Atatürk, stehen derzeit auch ideologisch in der Türkei zur Debatte. Das tief gespaltene Land, in dem an einem Tag eine kurdische Hochzeit angegriffen wird, an einem anderen Tag Schwule verfolgt und getötet werden und radikalisierte AKP-Anhänger aller politischen Opposition den Tod wünschen, ist zuerst für syrische Flüchtlinge aus der Hölle von Aleppo ein Problem und ebenso für die kurdische Opposition in Syrien und im Irak.“
Martina Michels abschließend: „Letztlich beteiligt sich die EU mit der Beibehaltung des Flüchtlingsdeals am Aufstieg eines islamistisch-geprägten Herrschaftsregimes, das sie andererseits vorgibt, im Innern zu bekämpfen. Nicht einmal die Bezichtigung der Terrorismus-Unterstützung Erdoğans, immerhin aus dem Innenministerium von Herrn De Maizière, konnte die enge Kooperation zwischen den EU-Mitgliedstaaten und der Türkei Erdoğans infrage stellen. Man wird derzeit das Gefühl nicht los, dass sich die EU-Mitgliedstaaten vor den Wahlen 2017 in Frankreich, den Niederlanden und Deutschland keinen Millimeter bewegen wollen. Bei der Flüchtlingsfrage gilt offenbar nur noch „aus den Augen aus dem Sinn“.