Was Merkel, Tusk und Timmermans in der Türkei nicht gesehen haben

Bericht von der GUE/NGL-Delegationsreise in die Türkei vom 2. bis 4. Mai 2016, von Cornelia Ernst   

Als Teil einer Delegation von drei Europaparlamentariern konnte ich vom 2.-4. Mai 2016 die Türkei besuchen, um mir dort ein Bild von der Situation von Flüchtlingen nach dem EU-Türkei-Deal zu machen. An der Reise nahmen auch Marina Albiol Guzmán (Izquierda Plural) und Iosu Juaristi (EH Bildu) teil.

 

Ziel der Reise war es, Zugang zu Abschiebeeinrichtungen zu bekommen und aus erster Hand die Situation von Flüchtlingen, die aus Griechenland abgeschoben worden waren zu untersuchen. Dazu interessierte uns auch die Situation von syrischen Flüchtlingen an der syrisch-türkischen Grenze. Neben Ortsbesuchen standen daher auch Treffen mit verschiedenen Stakeholdern auf dem Programm, wie Vertreter europäischer Regierungen, internationaler Organisation und Nichtregierungsorganisationen.
Die Treffen mit verschiedenen Organisationen fanden in Istanbul und Gaziantep statt, in Edirne und Kırklareli (nahe der bulgarischen Grenze) konnten wir zwei Abschiebeeinrichtungen besuchen und mit Behörden und Flüchtlingen sprechen. In Gaziantep kamen wir zudem mit syrischen Flüchtlingen ins Gespräch, die nicht in einem der regierungsgeführten Camps leben und in dem Ort Kilis direkt an der syrischen Grenze stand ein Besuch in einem solchen staatlichen Lager auf dem Programm.

Abschiebungen nach dem Prinzip „alles, was nicht-syrisch ist, fliegt raus“

Das Bild, das sich ergibt aus dem, was wir gesehen und gehört haben, ist durch die Bank weg erschreckend und eines voller Widersprüche zwischen Anspruch und Realität, zwischen geltenden Gesetzen und der Umsetzung vor Ort. Für Türkeikenner ist diese Diskrepanz keine Neuigkeit und ein jahrzehntealtes Problem. Als Politikerin, die sich für Menschenrechte und insbesondere ein wirksames Recht auf Asyl einsetzt, kann ich ein „Das war da schon immer so“ allerdings nicht akzeptieren. Abschiebungen nach dem Prinzip „alles, was nicht-syrisch ist, fliegt raus“ hat mit der Einhaltung der einschlägigen UN-Konventionen nichts zu tun. Das ist schlicht ein Bruch mit dem internationalen Menschenrecht. Die Abschiebung an einen Ort, wo unmenschliche oder herabwürdigende Behandlung droht, ist nach der Europäischen Menschenrechtskonvention verboten, die Verantwortung dafür trägt der Staat, der abschiebt und der ist in der Pflicht, das auch zu prüfen.

Alle Flüchtlinge, die wir in den Abschiebeeinrichtungen in Edirne und Kırklareli gesprochen haben, gaben gleichlautend an, dass sie, teils trotz mehrfacher Versuche, keine Gelegenheit hatten, einen Asylantrag zu stellen, weder in Griechenland, noch in der Türkei. Sie kamen vorwiegend aus Pakistan, Afghanistan, Irak, Iran, aber auch von der Westbank und dem Gazastreifen als Palästinenser. In Kırklareli sitzen derzeit acht Personen ein, die ein Asylverfahren laufen haben. Jedoch sind diese Personen von den Behördenmitarbeitern in das Verfahren gebracht worden, nicht auf eigene Initiative. De facto steht damit das Asylverfahren in diesen Einrichtungen nicht allen offen, sondern nur denjenigen offensichtlichen Fällen, die im Voraus von der Behörde als berechtigt angesehen werden. Unter dem Strich ist der Zugang zu Asyl damit nicht gesichert.

Abschiebeeinrichtungen werden wie Gefängnisse geführt

Aus Sicht der türkischen Behörden handeln sie dabei ganz im Geiste des EU-Türkei Abkommens. Man gehe davon aus, dass alle Flüchtlinge, die von Griechenland in die Türkei abgeschoben würden, die Gelegenheit gehabt hätten, Asyl zu beantragen. Folglich ziele man darauf ab, 100% der aus Griechenland abgeschobenen Flüchtlinge in ihre Heimatländer weiter abzuschieben, soweit möglich. Sie seien schließlich keine schutzbedürftigen Flüchtlinge, sondern Migranten.

Die Abschiebeeinrichtungen werden wie Gefängnisse geführt. Neben den beiden, die wir besuchten, existieren noch 16 weitere, mit einer Kapazität von 6.000 Plätzen insgesamt. Viele von diesen Einrichtungen sind wie die in Kirklareli als offene Empfangseinrichtung gebaut und mit EU-Mitteln finanziert, und nun als geschlossene Einrichtungen in Betrieb. Da allen Insassen die Smartphones weggenommen werden, besteht effektiv kein Kontakt zur Außenwelt und kaum eine Möglichkeit zu sinnvoller Beschäftigung. Um den Flüchtlingen den Zugang zu einem Anwalt zu garantieren, müsste ihnen nach türkischem Recht zumindest der Kontakt zur lokalen Anwaltsvereinigung zur Verfügung gestellt werden. Davon hörten allerdings alle Flüchtlinge, mit denen wir sprachen, zum ersten Mal. Schockiert waren wir darüber, dass keiner der Flüchtlinge wusste, wie lange sie eingesperrt bleiben würden und was dann geschehen sollte. Die meisten äußerten den Wunsch, lieber sofort nach Hause abgeschoben zu werden, als nur einen Tag länger in der Türkei zu bleiben.

Entsprechend krass war der Widerspruch zwischen dem, was uns die Flüchtlinge berichteten und dem, was wir in den Vorträgen der Behördenvertreter hörten. Sehr besorgt waren wir über den Umstand, dass wir in beiden Einrichtungen in einer Zelle jeweils einen unbegleiteten minderjährigen Insassen antrafen, der dort zusammen mit Erwachsenen eingesperrt war. Damit werden gleich zwei Grundregeln für den Umgang mit Minderjährigen verletzt, indem sie einfach unter den Erwachsenen belassen werden und indem sie wie im Gefängnis eingesperrt werden. Eine Schule existiert dort natürlich auch nicht.
Zusammengenommen ergeben sich schwere Zweifel, ob das persönliche Interview, das jeder Flüchtling bei der Aufnahme in die Einrichtung haben sollte, überhaupt stattfindet. Ebenso ergeben sich schwere Zweifel, ob den Einrichtungen überhaupt Dolmetscher zur Verfügung stehen. Nur die Einrichtung in Edirne schien überhaupt einen Dolmetscher zu haben, für Arabisch, nicht aber für die oft nachgefragten Sprachen Farsi und Urdu. Auch Handzettel mit Information existieren zum Teil nur auf Türkisch.

Im Abschiebezentrum Edirne traf ich auf eine afghanische Frau mit ihrer Tochter, die mir erzählte dass ihr Ehemann in Deutschland sei, als Flüchtling anerkannt und man auf die Familienzusammenführung hoffe. Leider habe sie keinen Kontakt mit ihm, da sie in Edirne keinen Zugang zu ihrem Handy habe. Mit viel Aufwand war es dann möglich, dass Telefon der Frau von den Sicherheitsleuten bringen zu lassen, damit sie mir die Nummer des Ehemannes geben konnte. Ich hoffe, so den Kontakt zwischen den beiden wiederherstellen zu können, und so die erhoffte Familienvereinigung zu erleichtern.

Push-Backs

Alle Insassen in den beiden Einrichtungen waren entweder aus Griechenland abgeschoben worden, oder von der türkischen Polizei bei dem Versuch, die griechische oder bulgarische Grenze zu überqueren, festgenommen worden. Die türkischen Vertreter berichteten in dem Zusammenhang davon, dass es immer wieder zu sogenannten Push-backs käme, dass also die griechische oder bulgarische Polizei immer wieder Flüchtlinge direkt und ohne Verfahren in die Türkei zurückdrängten. Das Geschehe allerdings nicht systematisch. Besonders schlimme Berichte hörten wir von Push-backs aus Bulgarien, wobei auch Hunde eingesetzt wurden, die zu Schwerverletzten und Toten unter den Flüchtlingen führten. In dieser Sache habe die türkische Regierung Klage gegen Bulgarien erhoben.

Besonders schwierig ist die Lage von Pakistani. Sowohl in Edirne als auch in Kırklareli saßen diese in den Abschiebegefängnissen schon über viele Wochen ein. Ihre Lage ist deshalb so prekär, weil sie von Pakistan nicht wieder aufgenommen werden, zumindest in den allermeisten Fällen. Daher werden sie in diesen Gefängnissen „geparkt“ und je nach Gutdünken der türkischen Provinzialbehörde freigelassen. Was mit ihnen wird, weiß niemand.

Unter etwas glücklicheren Umständen geht es syrischen Flüchtlingen in der Türkei etwas besser. Sie werden allgemein als Flüchtling anerkannt, und haben damit prinzipiell Zugang zu Gesundheitsversorgung und Bildung, und auf eine geringe Unterstützung. Lokal unterschiedlich machen Flüchtlinge dabei aber immer wieder Diskriminierungserfahrungen im Gesundheitssystem, indem die Behandlung verweigert wird oder plötzlich Geld kosten soll, und Kinder werden in der Regel nicht in die türkische Schule aufgenommen. Daher existieren derzeit in der Türkei eine Anzahl grundsätzlich illegaler, aber tolerierter syrischer Kliniken, die von geflohenen syrischen Ärzten betrieben werden, und eine noch größere Zahl an syrischen Schulen, deren Abschlüsse aber nicht anerkannt werden. Gerade durch die Schulen wird aber so eine Integration der Syrer verhindert, die so auf Abstand vom türkischen System gehalten werden.

Die allermeisten Flüchtlinge haben ein gravierendes ökonomisches Problem. Trotz fehlender Arbeitserlaubnis sind sie gezwungen, einen wesentlichen Teil ihres Unterhalts selbst zu erwirtschaften. Neben der zu erwartenden Schwarzarbeit mit all ihren negativen Folgen führt dies in der Realität zu einem deutlichen Anstieg der Kinderarbeit in der Türkei. Davon sind nicht nur Branchen wie Gastronomie und Bau betroffen. Immer wieder hörten wir davon, dass syrische Kinder mittlerweile einen deutlichen Anteil der Arbeitskraft in der Industrie stellen, wo sie in Textilfabriken schuften müssen, für einen Bruchteil des Lohnes, den ein einheimischer erwachsener Arbeiter bekäme.

Einer der Hauptgründe für die prekäre wirtschaftliche Situation der Flüchtlinge ist die mangelnde Arbeitserlaubnis in der Türkei. Selbst wenn sie als Flüchtlinge anerkannt sind, haben Syrer nur sehr geringe Ansprüche und nicht-Syrer gar keine. Zwar ist vor kurzem ein Gesetz in Kraft getreten, dass den Zugang zum legalen Arbeitsmarkt für Flüchtlinge regelt, seitdem ist aber nur an etwa 3.000 Personen solch eine Erlaubnis vergeben worden.

Schüsse auf Schutzsuchende

In einer furchtbaren Lage finden sich diejenigen syrischen Flüchtlinge, die, vor allem aus der Gegend um Aleppo, sich erst in der letzten Zeit zur Flucht entschieden haben. Sie berichten von ihrer Flucht vor den Bomben in Syrien und von den Schüssen auf sie an der türkischen Grenze. In Kilis leben viele von ihnen im staatlich geführten Flüchtlingslager, das unmittelbar an der Grenze zu Syrien liegt. In dem Ort sind nicht nur die Kämpfe in Syrien zu hören, sondern der Ort wird derzeit etwa zweimal täglich das Ziel von Raketen, die von DAESH abgefeuert werden. In den letzten Monaten ist es dabei zu etwa 20 Toten gekommen. Anders als die lokale türkische Bevölkerung brauchen die Flüchtlinge allerdings eine behördliche Erlaubnis, um den Ort verlassen zu dürfen. Diese wird aber nur für medizinische Behandlungen und Familienzusammenführungen erteilt. Damit sind diese Menschen, die auf der Flucht vor dem Krieg in Syrien sind, nun gefangen in einem Flüchtlingslager, indem nicht nur Kampfhandlungen zu hören sind, sondern in dem auch noch Raketen einschlagen.

Gerade in Gaziantep und Kilis betonten die Syrer mit denen wir sprachen, dass sie gar nicht nach Europa wollten, und auch in der Türkei keine Zukunft für sich sähen. Stattdessen planten sie, in der Nähe zu Syrien auf das Ende des Krieges zu warten und zurück zu kehren. Sie alle hoffen auf eine Zukunft in Syrien und für Syrien, gleichzeitig war in allen unseren Gesprächen präsent, dass diese Aussicht immer düsterer wird. Mit jedem Tag, den der Krieg länger andauert und der Zerstörung, die er bringt und mit jedem Tag, den die Kinder von Millionen Syrern nicht in der Schule sind und an dem schon 12-jährige in der Fabrik arbeiten wird die Hypothek auf ihrer Zukunft größer.

Als ich im Oktober 2015 in Jordanien mit syrischen Flüchtlingen sprach, warnte man mich eindringlich vor der Gefahr einer verlorenen Generation von Syrern, die in prekären Verhältnissen, auf der Flucht, ohne Zugang zu Bildung aufwächst und die vor allem Stacheldraht und Gewalt kennt. Nun ist es sechs Monate später und die europäische Politik hat die Lage noch einmal verschärft. Der Deal mit der Türkei ist ein Spiel mit dem Feuer und es wird höchste Zeit, dass die europäische Politik das anerkennt. Die Türkei ist für Flüchtlinge kein sicheres Land und wir dürfen dorthin keine Menschen abschieben. Stattdessen müssen wir endlich einen brauchbaren legalen Weg für Flüchtlinge nach Europa schaffen und dafür sorgen, dass die Kinder in die Schule gehen und Kranke einen Arzt bekommen.

 

Was werden wir als Abgeordnete nun tun?

Wir werden darüber in unserer GUENGL-Fraktion und im Parlament sprechen, mit dem Ziel, dass diese katastrophalen Verhältnisse abgestellt werden. Unsere Berichte haben wir den Kolleg/innen der anderen Fraktionen zur Verfügung gestellt. Die elementaren Grundrechte von Flüchtlingen, egal wie ihr Begehr entscheiden wird, müssen gewährt sein.

Wir werden geschlossen gegen die so genannte gemeinsame EU-Liste sicherer Herkunfts- und Drittstaaten ankämpfen und diese komplett ablehnen. Wenn es dafür keine Mehrheiten gibt, dann setzen wir alles daran, neben weiteren Änderungen die Türkei zu streichen. Denn die Türkei ist kein sicherer Drittstaat (so wie der Kosovo kein sicherer Herkunftsstaat ist).

Wir werden uns dafür einsetzen, dass es keine Visa-Liberalisierung für die Türkei gibt, solange nicht alle 72 Kriterien erfüllt sind, zu denen auch die Abänderung des türkischen Terrorbegriffes und-gesetzes gehört.

Nicht zuletzt strengen wir Klagen im Falle betroffener Flüchtlinge vor dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof an.