Eine kurze, unvollständige Geschichte des Mangels an kulturpolitischen Debatten in Europa
Martina Michels im Buchprojekt des Europäischen Hauses für Kultur in Brüssel und der EFA
Deutschsprachiges Script zum Buch „Beyond Visions“. Der Artikel ist nur hier in einer längeren deutschen Fassung verfügbar. Der gekürzte Beitrag erschien in englischer Sprache im Sammelband Beyond visions, EFS books, Band. 6, April 2016beyond visions, von EFA books, Band 6, siehe dazu auch das vollständige pdf.des Sammelbandes, ab S. 56, Martina Michels: A short and incomplete history of the lack of a cultural-political debate in Europe.
Im stolzen EU-Erweiterungsjahr 2004 firmierte eine Auftaktkonferenz zur Europäischen Kulturpolitik in meiner Heimatstadt Berlin unter Jaques Delors Bonmot „Europa eine Seele geben“.(1) Dort sprach unter anderen der Schriftsteller und Orientalist Navid Kermani. Er verstörte die versammelten Vertreter Europäischer Kulturpolitik mit dem Hinweis: „Sie alle, die Sie hier sitzen, haben Europa doch gar nicht nötig“. Er schilderte, wie bequem es doch sei, wenn die private und politische Existenz nicht von der säkularen Europäischen Idee der Freiheit abhängt. Kermani vermutete, dass der Bedeutung der Europäischen Einigung und Erweiterung ein ernsthafter Druck der Verzweiflung fehle. „Falls es mit Europa nichts werden sollte, dann sind Sie immer noch erfolgreiche Holländer, Engländer oder Franzosen.“, sagte er mit Blick auf die Westeuropäer und setzte hinzu: „Für mich ist die EU eine Verheißung“. Doch als Deutscher bliebe er immer irgendwie Deutsch-Iraner. Alle Eingewanderten gelten immer als Türken, Libanesen, Iraker. nicht als Europäer. So lange derartiges Denken den Alltag beherrscht, scheint eine produktive Europäische Idee und die Identität einer offenen kulturellen Zugehörigkeit offenbar Wunschdenken. Damals beklagte Kermani, dass es nicht einmal einen universitären Austausch zwischen dem Orient und dem Christentum gibt und er forderte eine jüdisch-islamische Akademie für Europa. Wörtlich formulierte er: „ [der]Ausgleich mit dem Orient und Islam wie auch mit dem Judentum braucht Räume – keine Hinterhöfe“.
Das Jahr 2015 begann mit den furchtbaren Anschlägen auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“. Zu diesem Zeitpunkt schien der Terror vom 13. November in Paris unvorstellbar. Nach den Terroranschlägen wurde die Verletzlichkeit der freien, offenen Gesellschaften geschwind mit einer Kampfansage und einer Beteiligung der französischen Luftwaffe in Syrien beantwortet. Doch was hatte dieser Ausbruch der Unmenschlichkeit mit dem ungelösten Drama in Syrien zu tun? Lagen seine unmittelbaren Ursachen nicht näher an der Verschleppung jahrzehntelanger sozialer und kultureller Integration in unseren Städten und Peripherien? Ist der 13. November in Paris nicht auch eine Erzählung unbewältigter Einwanderung und versagter Integration? Dieser Terror ist – auch ohne gewinnbringende Unterstützung seiner militärischen Strukturen – längst ein europäisches Gewächs, wenn er auch seine antizivilisatorischen Motive aus einer radikalisierten Islaminterpretation zieht und diese Interpretation mit den finstersten Herrschaftsauswüchsen patriarchaler Unterdrückung vermischt. Die Radikalisierung und Rekrutierung für den IS findet auch innerhalb Europas statt und dies nicht nur in sozial abgehängten Lebensräumen, wie die perfekt integrierten in Hamburg lebenden Attentäter des 11/9 zeigten. Deshalb wird es nicht funktionieren, unsere eigenen sozialen und kulturellen Konflikte, die in gewisser Weise auch die globalen Verteilungsauseinandersetzungen widerspiegeln, vor eine hochgerüstete Haustür zu verlagern.
Das vergangene Jahr hat noch mehr demokratische Fehlstellen in Europa offenbart. Das Politikverständnis herrschender Europäischer Politik ist nicht nur in der Eurokrise auf ein plattes Wirtschaftsverständnis geschrumpft, das ausschließlich der Ressourcen- und Absatzmarktsicherung dient. Der demokratische Dialog, der nicht nur in der Integrationspolitik fehlt, wird genauso schnell außer Kraft gesetzt, wenn, wegen der versagenden Sparpolitik linke Regierungen gewählt werden oder wenn Freihandelsabkommen hinter verschlossen Türen verhandelt werden.
Was hat das alles mit der Bedeutung von Europäischer Kulturpolitik zu tun? Die ersten Antworten sind ganz einfach und nicht wirklich neu: Kulturpolitik hat den Rahmen für den demokratischen Dialog in unseren Gesellschaften zu sichern. Nicht allein in Nischen, wie der Kunst. Nicht allein für die nächsten Generationen, wie in einer humanistischen Bildung, die gegen Radikalisierung schützt, Begegnung und Offenheit unserer unterschiedlichen Erfahrungen und Ideen lebt. Nicht allein an den Hochschulen und in der Forschung muss der demokratische Dialog gesichert werden. Soweit sind sich irgendwie alle einig. Die ganz Schlauen setzen schnell hinzu, dass Kulturpolitik nicht die Digitalisierung verschlafen sollte und die neue Medienlandschaft mitgestalten muss, so dass alle Zugang haben und die modernen Kulturtechniken nicht nur Menschen mit höherer Bildung und höherem Einkommen zur Verfügung stehen.
Längst wissen wir auch, dass der Sektor der kulturell Produzierenden wächst. Er ist volkswirtschaftlich von erheblicher Bedeutung. Trotzdem sind vom Eventmanager bis zur Programmiererin von Computerspielen, von der Geigerin bis zum Agentur-Fotografen viele Soloselbständige unter den Beschäftigten. Miese Bezahlung ist typisch, genau wie die hoher Anerkennung und Selbstausbeutung wegen der oft kreativen Arbeitsinhalte. Zu gern werden deshalb Kulturproduzenten zum Vorbild einer neuen Arbeitsklasse gemacht: unternehmerisch, selbstorgansiert und mit wenigen sozialen Absicherungen zufrieden. Doch das ist schlicht der falsche Weg und das falsche Ende, wenn wir an diesen Pionieren für neue Arbeitsplätze – oder auch Arbeitszeitverkürzung für alle – und damit an guten Ideen sparen. Eine Europäische Arbeitslosenversicherung, eine kulturelle und soziale Debatte über ein würdiges und existenzsicherndes Grundeinkommen, Mindesthonorare und Mindestlohn sind Debatten, die wesentlich auch von den Kulturarbeitern geführt werden. Da sollte Politik endlich hinhören, auch wenn es um viel mehr als Kulturpolitik im engeren Sinne geht. Es geht um die Arbeitswelt von morgen, die durch die Digitalisierung schrumpfen kann. Doch dies muss kein Verlust sein, denn mehr freie Zeit für alle, wäre eine andere Reichtumsauffassung, die sich nur durch demokratischen Dialog und den politischen Kampf um eine gerechte Verteilung des Produzierten durchsetzen lässt.
Damit kommen wir zum eigentlichen Problem. Mit den einleitenden Skizzen ist schon eines deutlich geworden. Kulturpolitik – nicht nur in ihrer wirtschaftlichen Reichweite und daran angrenzenden beschäftigungspolitischen Debatten – ist völlig unterschätzt. Dies ist nicht nur in den Mitgliedstaaten, ja selbst in der Kommunalpolitik so, es ist in der Europäischen Politik ebenso. Wir kennen die stumme Einteilung in harte und weiche Politikfelder. Selten wird ein Kulturmensch und Intellektueller, wie der Rumäne Andrej Plesu, dereinst Außenminister. Dabei wäre dies eine sichere Bank gegen den irrsinnigen Kurs im „Krieg gegen den Terror“, auch den in unseren eigenen Städten. Außenpolitisch trieft es in den kulturellen Debatten Europas nur so von Huntingtons „Kampf der Kulturen“, statt zurückzufinden zu einer zweiten Aufklärung, zur Unteilbarkeit der Menschenrechte.
In vielen europäischen Ländern sehen Rechtspopulisten ein ethnisch homogenisiertes Abendland bedroht, dass es nie gegeben hat. Dieses erfundene Abendland ist allerdings nicht nur islamophob oder auch wahlweise antisemitisch. Dieses differenzfreie, ahistorische „Abendland“ ist zugleich auch frauenfeindlich und homophob. An dieser Stelle können sich die Verteidiger eines tendenziell rassisch verstandenen Europas mit radikalisierten Islamisten die Hand reichen. Bildung, Medien, kultureller Austausch, Stadtpolitik – hier ist eine weitreichende Verantwortung, nicht nur für Kulturpolitiker, den Rahmen für einen demokratischen Dialog um globale unteilbare Grund- und Freiheitsrechte zu stabilisieren. Der Schauspieler und Theaterleiter Sewan Latchinian, lange in der ostdeutschen Provinz tätig, sagte einmal: „Kultur kostet, aber Unkultur kosten mehr.“
Im ersten Plenum des Europäischen Parlaments 2016 wurde der Bericht der britischen Sozialdemokratin, Julie Ward, zum Interkulturellen Dialog vorgestellt und abgestimmt. Seiner Erarbeitung ging eine Anhörung im September voraus, die das schrumpfende Wissen um die Europäische Geschichte und den Holocaust offenbarte. Weiterhin wurde durch eine Studie ermittelt, dass Bildungsinstitutionen europaweit den interkulturellen Dialog eigentlich kaum führen können. In der Bildung und Ausbildung werden Lehrer und Erzieher mit interkulturellen Kompetenzen und Mehrsprachigkeit kaum eingestellt. Dafür gibt es keinerlei Sensibilität. Entsprechend geben die Lehrer an, den Debatten in der Schule und in den Ausbildungsstätten gar nicht gewachsen zu sein. Innerhalb des Ausschusses wurde dann viel diskutiert, denn die Aufgabenstellungen des Berichtes gingen bis in die Auswärtige Kulturpolitik. Mit der Erfahrung der terroristischen Anschläge im Herzen Europas vor Augen wurde – wie einleitend schon angedeutet – sehr kritisch auf die Fehlstellen von jahrzehntelangen Integrationsprozessen verwiesen. Dies allein kann keinen Aufschluss zu den furchtbaren Verbrechen liefern. Doch die Debatte um die Bedeutung des „Interkulturellen Dialogs“ ist näher an der Wahrheitssuche nach den Ursachen solchen Terrors als die kurzschlüssige Verkopplungen dieser Anschläge mit der Flüchtlingspolitik oder die Reaktion mit einer repressiven Innenpolitik oder gar einer kopflosen interventionistischen Außenpolitik. Die Debatte gehört demnach genauso in die Innen- und Außenpolitik. Doch bisher leisten wir uns den Luxus und verhandeln Wertedebatten wie Nischenthemen und geben ihnen letztlich viel zu wenig Öffentlichkeit.
Die unterschätzte Wertedimension unserer wirtschafts- und finanzpolitisch fokussierten europäischen Politik fällt uns nicht nur beim demokratischen und interkulturellen Dialog auf die Füße. Auch bürgerrechtlich gibt der Kulturausschuss, geben Kulturpolitiker immer wieder Anstöße die verfestigten Weltsichten manch politischer Großprojekte zu sprengen. Das beste Beispiel dafür ist eine Debatte, die uns im kommenden Jahr immer mehr beschäftigen wird. Es geht um die Akte für einen Digitalen Binnenmarkt, eines der großen Projektes aus Junkers 10 Punkte Plan.
Das Herangehen der Kommission ist wirtschaftspolitisch geprägt. Das wäre kein Problem, wenn die Wirtschaftspolitik selbst nicht nur das Wohlergehen Europäischer Unternehmen vor Augen hätte, sondern dieses mit diversen gesellschaftlichen Herausforderungen wie soziale Wohlfahrt, demokratischer-globaler Dialog und Klimawandel zusammendenken könnte. Aber es herrscht munter die Sparideologie, wenn es um öffentliche Haushalte geht, um Bildung und Kulturinstitutionen, um Forschung und Wissensspeicher, die uns allerhand verraten könnten, wohin die digitale Reise geht. In den vollmundigen Ankündigen und Aufgabenstellungen der Kommission zum digitalen Wandel kommen wir Menschen vorwiegend nur als verängstigte Käufer und Konsumenten vor. Wir trauen uns zu wenig über Ländergrenzen hinweg online zu kaufen. Und damit ist der Problemkatalog der politischen Aufgabenstellungen fast schon wieder abgehakt.
Immerhin geht auch die Kommission davon aus, dass wir Schutz und Rechte brauchen, wenn wir munter online einkaufen wollen. Dass wir aber auch beabsichtigen, über alle Grenzen hinweg, Film auszuleihen, dass wir selbst Produzenten der digitalen Welt sind und ein Recht auf Zugänglichkeit zu Kultur und Wissen haben, das scheint irgendwie nur noch wie ein Anhang verhandelt zu werden. Bildung, große Bibliotheken, Universitäten bewegen sich nicht außerhalb des digitalen Wandels. Immerhin wurde dem Kulturausschuss eine Art Debattenhoheit bei den Audio-visuellen Medien gegeben. Doch es ist an der Zeit, auch grundsätzlich die Frage stellen, ob der digitalen Wandel im Industrie- und im Verbraucherschutzausschuss eigentlich richtig angesiedelt ist. Hier geht es wahrlich nicht nur ums gute Geldverdienen. Warum geht es nur um den digitalen Binnenmarkt und nicht um die digitale Gesellschaft? Das mag zugegebenermaßen ein zugespitzter Standpunkt sein. Doch so grundlegende Fragen wie der Erhalt der Netzneutralität oder die Entwicklung eines modernen Urheberrechts oder der spezifische Umgang mit der Sprachenvielfalt Europas in der digitalen Welt müssen wir politisch beantworten, letztlich kulturpolitisch.
Eigentlich wissen es alle: Digitalisierung hat nicht nur die Arbeits- und Geschäftswelt, sondern die Produktion europäischer Öffentlichkeit, die Übertragungswege, die Art des Austausches, das Lernen kultureller, politischer und ethischer Wertorientierungen verändert. Die gesellschaftliche und kulturelle Kommunikation entsteht auf der Basis globaler Reichweiten, großer Wissensspeicher, sowie neuer Kommunikationsformen in Echtzeit. Deshalb geht es bei der Digitalen Binnenmarkt (DSM)-Strategie, die die Kommission vorgeschlagen hat, nicht allein um Technologien und wirtschaftliche Möglichkeiten, um Geschäftsmodelle, neue Arbeitsplätze und Verbraucherrechte. Es geht um die um die Art, wie wir lernen, uns Wissen und Weltanschauung im wahrsten Sinne des Wortes anzueignen. Es geht darum, wie wir kommunale Aufgaben verwalten, wie wir uns regieren, Kulturaustausch und Integration bewältigen, ob wir uns diskriminierungsfrei in vielerlei Hinsicht auch im digitalen Netz verhalten.
Es dürfte deutlich geworden sein, dass wir politische Zukunftsdebatten ohne eine kulturelle Dimension gar nicht erst anfangen brauchen. Tuen wir also etwas dafür, dass kulturpolitische Schattendasein in der Europäischen Politik zu beenden.