Erdoğans AKP gewinnt die Wahlen mit zweifelhafter Unterstützung – HDP verlangt Neuauszählung
Martina Michels, Mitglied der Wahlbeobachtungsdelegation der GUE/NGL kommentiert aus Diyarbakır den Wahlausgang:
Bei den gestrigen Parlamentswahlen in der Türkei erreichte Erdoğans AKP die Mehrheit mit 49,4 % lt. der staatlichen Nachrichtenagentur. Die vollständige Auszählung stand beinahe zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale fest. Die Oppositionsparteien CHP, MHP und die HDP erreichten 25,4 bzw. 11,9 und 10,7 Prozent.
Zu Ergebnissen und Erfahrungen der Wahlbeobachtung im Einzelnen, ergänzt Martina Michels, Stellvertretendes Mitglied der Delegation EU-Türkei:
„Mit rund 400.000 Sicherheitskräften betrieb die türkische Regierung seit Öffnung der Wahllokale die Fortführung ihrer massiven Repression gegenüber Menschen, die freie und geheime Wahlen wollen. Nachdem sie in den vergangenen Tagen kritische Medienhäuser vor laufender Kamera erstürmte, die Medienpräsenz von Minderheiten und Opposition auf wenige Minuten eingrenzte, wurde ein massives Polizeiaufgebot am Wahltag aufgefahren. Bewaffnete und zum Teil maskierte Kräfte machten Fotos in den Wahllokalen und nahmen Berichten zufolge sogar internationale Wahlbeobachter fest.
Von meinem baskischen Kollegen Josu Juaristi und mir verlangten Sicherheitskräfte die Herausgabe von Fotos und Videomaterial. Wir verwiesen darauf, dass sie in dieser Form nicht berechtigt sind, die Wahlen zu sichern und ihr Agieren vor den Wahllokalen in dieser Form nicht zulässig ist.
Die wieder errungene deutliche Mehrheit der AKP ist auf Grund vieler dieser Vorfälle äußerst kritisch zu hinterfragen. Unsere Genossen und Genossinnen der HDP haben ihre Parlamentssitze ganz knapp und mit großem Einsatz verteidigen können. Der Wiedereinzug der HDP ist nach diesem Wahltag wohl das einzige, was den Sieg Erdoğans trübt. Denn ansonsten scheint er seine Ziele auf ganzer Linie erreicht zu haben: Die vermutlich ausschlaggebende militärische Einschüchterung und fragwürdigen Ergebnisse der Wählerwanderung haben auch die HDP veranlasst, eine erneute Auszählung zu fordern.
Wir müssen deutlich infrage stellen, ob die EU und ihre Mitgliedstaaten die Lösung der Flüchtlingssituation tatsächlich auf den repressiven Machthaber am Bosporus aufbauen wollen, ohne dabei ihre Gesichter vollends zu verlieren. Wenn sie zur Wahl und zu deren Umständen weiter schweigen oder nur Glückwünsche schicken, machen sie sich zu Komplizen eines neuen autoritären Herrschers in ihrer Nachbarschaft.“
Wir gratulieren der HDP für ihren erneuten Einzug ins türkische Parlament und können nur hoffen, dass es zügig seine Arbeit aufnimmt. Davutoğlu hat heute Morgen schon Verfassungsänderungen angekündigt, obwohl der AKP dafür die Verfassungsgebende Mehrheit fehlt.
Die Wahlen und der Wahltag spiegeln die Einschüchterungen der vergangenen Wochen wider und sind auch das Ergebnis von Kriminalisierung der linken Opposition, der unaufgeklärten Bombenattentate in Diyarbakır, Suruç und Ankara und eines Regierungshandelns, das seit Monaten nicht mehr parlamentarisch kontrolliert wird. Das traurige Fazit lautet, dass man mit der Verantwortung für diese Atmosphäre der Gewalt in der Türkei Wahlen gewinnt. Überdies hat die EU in den vergangenen Wochen mit ihrer planlosen und inhumanen Flüchtlingspolitik Erdoğan im Wahlkampf als anerkanntes Regierungsoberhaupt unterstützt. Das Wahlergebnis in der Türkei und insbesondere die Umstände seines Zustandekommens sind somit auch ein schwarzer Tag für die EU, für die Garantie von Menschenrechten und demokratischer, politischer Auseinandersetzung.“