Der Ruf „Reißt die Mauer nieder!“ sollte auch heute gelten

„Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es ist auch wichtig, anlässlich des 9. Novembers 1989, unseres Gedenkens an diesen Tag, zu sagen, was letztendlich dazu geführt hat, dass es ein geteiltes Europa, ein gespaltenes Deutschland gegeben hat. Es gab einen Krieg, der von Hitler-Deutschland, vom faschistischen Deutschland ausgegangen ist und der Millionen von Menschen das Leben gekostet hat. Es sollte also nicht so getan werden, als sei die Existenz zweier deutscher Staaten, die Spaltung Europas, einfach zufällig entstanden. Ich finde, wir sollten auch darüber nachdenken.

Ich bin in der DDR geboren und aufgewachsen. Für mich ist die Zeit der DDR eine Zeit voller Widersprüche gewesen. Sie ist für mich eine wichtige Zeit gewesen, und ich beschäftige mich noch heute damit, warum die DDR, warum der Staatssozialismus gescheitert ist. All die Widersprüche sind für mich wichtig. Ich male kein Schwarz-Weiß-Bild, wie gern das andere auch immer tun mögen. Für mich ist der Mut jener, die sich ihren Traum von einer freien, solidarischen, gerechten Gesellschaft nicht nehmen lassen wollten, das Vorbild. Die friedlichen und dennoch machtvollen Proteste von Leipzig, aber auch vom 4. November 1989 in Berlin auf dem Alexanderplatz: Das ist für mich der Weg gewesen, warum die Mauer gefallen ist. Ohne diese Proteste hätte es den 9. November in dieser Form nicht gegeben.

Es gehört aber auch der 17. Januar 1988 dazu, als Menschen am Rande der Rosa- Luxemburg-/Karl-Liebknecht-Demonstration in Berlin ein Transparent aufgerollt haben, auf dem stand: „Die Freiheit ist auch immer Freiheit der Andersdenkenden“, als das DDR-Regime, nicht akzeptierend, dass es andere Auffassungen gibt und dass das zu einem Leben und zu einer freien Gesellschaft dazugehört, diese Demonstranten verhaftete. Das ist für viele Bürgerinnen und Bürger – auch für mich selber – das Signal gewesen, dass die Zukunft der DDR im Argen liegt und dass es so nicht weitergehen kann.

Ich will nicht mit Ihnen darüber reden, wer wann was begriffen hat in seinem Leben.

Die Zeit reicht aber auch nicht, um festzuhalten, mit welchen Hoffnungen und Illusionen viele Bürgerinnen und Bürger der DDR den Fall der Mauer und die Öffnung der Grenze zwischen der DDR und der BRD verbanden – einer Grenze, an der sich beide Lager, NATO und Warschauer Pakt, schwer bewaffnet gegenüberstanden, einer Grenze, die auf DDR-Seite eine Doppelfunktion hatte, weil sie sich nach innen richtete und die Menschen vor allem an der Ausreise aus dem eigenen Land hinderte. Die Zeit reicht aber, um Folgendes klar zu sagen: Der 9. November ist längst nicht mehr nur ein deutscher Schicksalstag. Spätestens mit der Kristallnacht, der Reichspogromnacht 1938, und dem Fall der Mauer 1989 hat der 9. November eine weit über Europa hinausgehende Bedeutung erreicht.

Der 9. November bleibt für mich ein Tag des Gedenkens und der Freude – des Gedenkens an das dunkelste Kapitel deutscher und europäischer Geschichte, aber auch der Freude darüber, dass mit dem Fall der Mauer ein unvergleichlicher Widerspruch deutlich wurde: Man kann keine bessere Gesellschaft aufbauen, in der die Freiheit aller, des Kollektivs, gegen die Freiheit des Individuums gerichtet wird. Das gilt im Übrigen umgekehrt genauso. Man kann keine bessere Gesellschaft aufbauen, in der soziale Freiheiten, soziale Grundrechte ohne Demokratie und persönliche Freiheitsrechte erkämpft werden. Dem 9. November folgte allerdings bald der Ruf: Freiheit statt Sozialismus. Das ist genauso falsch wie der Gedanke, dass Sozialismus ohne Freiheit möglich wäre.

Die Wende und der Fall der Mauer wurden in erster Linie durch die Menschen ermöglicht, die sich nicht mehr damit abfinden wollten, dass Veränderungen nicht möglich seien. Der Kalte Krieg wurde nicht von den Politikern beendet. Wenn es nach den Herrschenden von NATO und Warschauer Vertrag gegangen wäre, würden sie sich im Kampf um Macht und Einfluss noch heute feindlich gegenüberstehen. Wie schnell alte Bilder wieder hochgeholt werden und alte Konfrontationen wiederbelebt werden, zeigen die aktuellen Auseinandersetzungen zwischen NATO und Russland. Politische und wirtschaftliche Strukturen sind von Menschen gemacht. Menschen können sie verändern. So, wie sich die Regierenden damals in der DDR und in anderen Ländern des Staatssozialismus täuschten, als sie meinten, den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf, so täuschen sich auch heute viele, die die politische, ökonomische Macht in den Händen halten und meinen, dass es zu ihrer Politik keine Alternative gäbe, die zum Beispiel meinen, die Macht der Finanzmärkte sei allumfassend, sie meinen, die Schulden der Banken könnten immer weiter der Bevölkerung aufgebürdet werden.

Was ich abschließend sagen möchte: Der Ruf „Reißt die Mauern nieder!“ sollte auch heute gelten. Er sollte für uns Verantwortung sein, europäische Verantwortung sein, dass die Mauern um die Europäische Union niedergerissen werden, damit alle mit gleichen Rechten hier auch leben können.“