Soziale Mindeststandards statt Sozialdumping

Die Beschäftigungspolitik der Europäischen Union und die Arbeitnehmer-Freizügigkeit – Erschienen in der Zeitschrift „Sozialismus“ 3/2011

 Ab dem 1. Mai 2011 gelten für die Menschen aus acht Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit und die volle Dienstleistungsfreiheit. Sie ist als Teil der Personenfreizügigkeit eine der vier Grundfreiheiten des Binnenmarktes der EU neben der Dienstleistungs-, der Waren- und der Kapitalfreiheit. Jede/r ArbeitnehmerIn soll in jedem Mitgliedsstaat Arbeit suchen und aufnehmen können. Dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit aber nur unter einer begrüßenswerten Erweiterung von Freiheitsrechten zu subsumieren, wäre blauäugig.

Wirkliche Freiheitsrechte erfordern einen Schutzrahmen für die Beschäftigten. Dieser wäre gegeben, wenn gleiche Tarif- und Sozialstandards am gleichen Ort für alle ArbeitnehmerInnen gleichermaßen gelten. Davon kann aber keine Rede sein.

Bisher rangieren in der EU soziale Grundrechte nachrangig hinter den Wettbewerbs- und Kapitalfreiheiten. Das europäische Arbeitsrecht hat sich lediglich »…als Annex des Freizügigkeitsrechts und als Instrument zur Verhinderung von Wettbewerbsverzerrungen entwickelt«.[1] Obwohl die »Charta der Grundrechte« mittlerweile zum Vertrag von Lissabon rechtlich gleichrangig ist, steht eine wirkliche Gleichrangigkeit noch in den Sternen. Eine soziale Schutzklausel gegen Lohn- und Sozialdumping wird wohl auch nach der nun im Eiltempo betriebenen Überarbeitung der europäischen Verträge nicht realisiert werden.

Gewinner und Verlierer

Kern der neuen »EU 2020-Strategie« ist weiterhin die Steigerung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit, verschärfte Liberalisierung des EU-Binnenmarkts und die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte. Ein wesentliches Element ist dabei der Kampf um die besten Köpfe – nicht nur weltweit, sondern auch innerhalb Europas. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit dient in diesem Kontext wohl mehr der bisherigen marktradikalen Strategie.

Gleichzeitig geht es mit einem ausgeprägteren Flexicurity-Konzept auch um die dauerhafte Senkung von Tarif- und Sozialstandards. Im noch nicht veröffentlichten Jahreswirtschaftsbericht der EU heißt es dazu u.a.: »In einigen Mitgliedstaaten haben die Arbeitsschutzvorschriften einen starren Arbeitsmarkt zur Folge und verhindern eine stärkere Beteiligung am Arbeitsmarkt. Derartige Arbeitsschutzvorschriften sollten reformiert werden, um den übermäßigen Schutz von Beschäftigten mit unbefristeten Verträgen zu reduzieren und denjenigen, die außerhalb oder am Rand des Arbeitsmarkts stehen, einen gewissen Schutz zu vermitteln.«

Hinsichtlich der Arbeitnehmerfreizügigkeit hatten die Regierungen in den letzten Jahren wohl doch Bedenken. Befürchtet wurden »schwere Störungen am Arbeitsmarkt«. Nach der so genannten EU-Osterweiterung am 1. Mai 2004 wurden Übergangsregelungen geschaffen. Sie erlaubten es den »alten« Mitgliedstaaten, die Arbeitnehmer-Freizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit einzuschränken. Davon hat die Bundesrepublik Gebrauch gemacht. Bislang durften ArbeitnehmerInnen aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn nur mit einer Genehmigung der Bundes­agentur für Arbeit eine Beschäftigung in Deutschland ausüben. Ab dem 1. Mai entfällt das. Für Rumänien und Bulgarien bleibt die Freizügigkeit bis Januar 2014 eingeschränkt.

Die Angst, viele Menschen aus Mittel- und Osteuropa würden die Arbeitnehmer-Freizügigkeit wegen des Wohlstands- und Lohngefälles nutzen, ist im Vorfeld dieses Termins stark gestiegen. Mit der Dimension der künftigen Arbeitsmigration beschäftigt sich eine jüngst veröffentliche Studie des IAB. Das mittlere von drei Szenarien erwartet eine jährliche Migration nach Deutschland von zunächst 101.000 Personen (netto) jährlich mit danach fallender Tendenz.[2] Zuvor waren durchschnittlich 120.000 Menschen pro Jahr nach Großbritannien und 30.000 Menschen nach Irland gereist, die ihre Arbeitsmärkte unmittelbar nach dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Länder geöffnet hatten.[3] Möglicherweise könnten wegen der veränderten wirtschaftlichen Situation künftig mehr Menschen in Deutschland Arbeit aufnehmen wollen und weniger in Großbritannien und Irland.[4]

Die IAB-Modelle gehen von einem Gewinn der Einwanderungsländer durch Zuwanderung aus; sie räumen aber ein, dass einzelne Arbeitnehmergruppen dadurch verlieren könnten.[5] Zu den »Gewinnern« werden Gruppen mit hohem Einkommen und hohen Qualifikationen gerechnet: hier steige die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und diese Gruppen könnten überproportional von Preissenkungen (resultierend aus Lohnsenkungen) für spezifische Güter und Dienstleistungen etwa in der Altenpflege oder im Hotel- und Gaststättengewerbe profitieren. Demgegenüber führe die Zuwanderung Geringqualifizierter mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verlusten für die einheimische Bevölkerung mit niedrigen Einkommen, weil diese stärker mit den Zuwanderern auf dem Arbeitsmarkt konkurrierten.[6]

»Flickenteppich« Entsende-
Richtlinie

Bei ArbeitnehmerInnen, die im Rahmen der Freizügigkeit z.B. nach Deutschland kommen, richten sich die Arbeitbedingungen nach den Tarifverträgen (sofern solche im anheuernden Betrieb gelten), gesetzlichen Regelungen und Arbeitsverträgen hierzulande. Es handelt sich dabei nicht um grenzüberschreitende Tätigkeiten.

Eine echte Form der grenzüberschreitenden Tätigkeit ist die Entsendung von Arbeitnehmern. Die Dienstleistungsfreiheit gestattet es Unternehmern, Dienstleistungen in anderen Ländern zu erbringen und hierfür Beschäftigte vorübergehend in diese Länder zu entsenden. Die Arbeitsbedingungen für entsandte Arbeitnehmer richten sich grundsätzlich nach den Regelungen des Herkunftslandes. Anlässlich der Situation im Baugewerbe wurde die Europäische Entsende-Richtlinie (RL 96/71/EG) verabschiedet. In Deutschland wurde diese Richtlinie als Arbeitnehmer-Entsendegesetz (AEntG) umgesetzt. Sie sieht eine Reihe von Bedingungen vor, die bei der Entsendung eingehalten werden müssen, wie Mindestlohnsätze und Mindestarbeitsbedingungen wie Arbeitsschutz, Arbeitssicherheit, Nicht-Diskriminierung, Mindesturlaub, Höchstarbeitszeiten und Mindestruhezeiten.

Mindestlohnsätze müssen allerdings durch Tarifverträge oder Rechtsverordnungen im Einsatzland für allgemeinverbindlich erklärt worden sein. In das Entsende-Gesetz wurden das Bauhaupt- und -nebengewerbe, die Gebäudereinigung, Briefdienstleistungen, Sicherheitsdienstleistungen, Bergbauspezialarbeiten auf Steinkohlebergwerken, Wäschereidienstleistungen im Objektkundengeschäft, Abfallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst und Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen nach dem SGB II und III aufgenommen. Das Entsende-Gesetz enthält auch Regelungen für die Pflegebranche (Alten- und Krankenpflege).

Die Richtlinie bzw. das Entsende-Gesetz bergen Probleme: Zum einen gelten sie nicht für alle Branchen. Zum anderen sind die Hürden für die Geltung von Mindestbedingungen relativ hoch: Es muss Tarifverträge geben und diese müssen auf Antrag oder durch Rechtsverordnung allgemeinverbindlich erklärt werden – in Deutschland stößt dies auf hohe und komplizierte Hürden.[7] Die Entsende-Richtlinie für grenzüberschreitende Arbeitnehmer garantiert damit keine umfassenden Mindestbedingungen, sondern stellt eher einen »Flickenteppich« dar.

Viele Wissenschaftler und Praktiker sehen im Bereich der Dienstleistungen ein viel größeres Problemfeld als in der Arbeitsmigration per Arbeitnehmer-Freizügigkeit. Für Arbeitgeber stellt die vollständige Gewährung der Dienstleistungs-Freiheit und die lückenhafte Regelung des Entsende-Gesetzes geradezu eine Einladung zum Lohn- und Sozialdumping dar: Statt inländische Arbeitnehmer anzustellen oder Aufträge an einheimische Firmen zu vergeben, ist es lukrativer, Aufträge an mittel- und osteuropäische Firmen zu vergeben, die dann ihre Beschäftigten nach den niedrigen Lohnsätzen ihrer Herkunftsländer bezahlen. Firmen könnten extra zu diesem Zwecke in diesen Ländern gegründet werden.

Nach Einschätzung des IAB würden die Zeitarbeitsbranche und generell solche Firmen, die überwiegend einheimische Arbeitskräfte mit geringer Qualifikation einsetzen, betroffen sein. Damit würde die Dienstleistungsfreiheit die Situation im Niedriglohnbereich – und zwar für inländische Arbeitgeber und Arbeitnehmer – gravierend verschärfen.[8]

Nach dem Vermittlungsverfahren zwischen Bundestag und Bundesrat wurden nun Mindestlohnregelungen für die Leiharbeitsbranche, das Wach- und Sicherheitsgewerbe und die Aus- und Weiterbildungsbranche vereinbart. Während die Leiharbeitsbranche jubelt, dem Grundsatz »Equal Pay« entgangen zu sein, ist das Ergebnis für DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach ein »enttäuschender politischer Kompromiss«. Weder schafft die Einigung armutsfeste Mindestlöhne, noch schließt sie den »Flickenteppich«, sondern kann weiter als Subventionsprogramm für Dumpinglöhne missbraucht werden. Lediglich 3,6 Mio. bislang besonders gefährdete Arbeitnehmer in Deutschland werden nun leidlich geschützt.

Mindestlohn: Nein – Sozialabbau: Ja

Nicht nur die IG BAU geht von einer weiteren Zunahme der Arbeitslosigkeit insbesondere in den Staaten aus, die besonders schwer unter der Wirtschaftskrise zu leiden haben. Die Menschen dort fallen besonders leicht denjenigen zum Opfer, die ihnen tolle Jobs versprechen. Allerdings stünden weniger die Migranten im Fokus, die individuell nach Deutschland kommen, sondern »grenzüberschreitende Geschäftsmodelle«. Die Erfahrung im Baugewerbe in Großbritannien zeigt, dass Mindeststandards dort durch massenhafte Schein-Selbständigkeit unterlaufen werden.[9]

In Deutschland hat sich mittlerweile die Forderung nach einem branchen­übergreifenden gesetzlichen Mindestlohn durchgesetzt. Lediglich bei der Höhe unterscheiden sich die Forderungen. Große Teile der Wirtschaft lamentieren lautstark über den »Untergang der deutschen Wirtschaft« bei Einführung eines solchen Mindestlohnes. Dem widersprechen die Erfahrungen in 20 von 27 EU-Staaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen bzw. in den nordeuropäischen Staaten und Österreich mit strikten tariflichen Regelungen und Kammerregelungen. Selbst die USA verfügen über Mindestlohnregelungen, und in der Schweiz gibt es je nach Branche Mindestlöhne in einer Höhe von ca. Euro 2.000-2.800,- monatlich per allgemeinverbindlichen Tarifverträgen. Diese Ökonomien gibt es immer noch.

Ohne eine verbindliche Lohnuntergrenze durch gesetzliche Mindestlöhne bleibt der soziale Flickenteppich nicht nur in Deutschland, sondern auch in Europa erhalten.

Im Gegensatz zu den Anstrengungen, die zur Durchsetzung der wirtschaftlichen Grundfreiheiten in Europa unternommen werden, erscheinen die Maßnahmen zur Durchsetzung eines wirksamen Arbeitnehmerschutzes nicht nur in dieser Hinsicht mehr als mäßig. Zwar formulieren die Beschäftigungspolitischen Leitlinien der EU bis 2020 auch das Ziel des Abbaus der Arbeitslosigkeit und die Erhöhung der Erwerbsquote, insbesondere von Frauen und Älteren. Mehr als Rhetorik bleibt aber nicht angesichts des Festhaltens am Flexicurity-Ansatz. »Hauptsache Arbeit – zu welchen Konditionen auch immer«, so Lazlo Andor in einem Hearing zu den Europäischen Beschäftigungsleitlinien 2020.

Dazu der Jahreswirtschaftsbericht der EU für 2011 im Teil Beschäftigung: »Gleichzeitig sehen sich viele Mitgliedstaaten dort, wo der Arbeitsmarkt von Rigidität und relativ geringer Fluktuation zur Bewältigung veränderter Nachfragemuster geprägt ist, mit dem Problem unzureichender oder schlecht ausgebildeter Arbeitsmarkt­übergänge konfrontiert. Die Ursache dafür sind, neben unangemessenen Regelungen für den Kündigungsschutz, rigide Arbeits(zeit)regelungen, d.h. mangelnde interne Flexibilität. Diese Faktoren wirken sich unmittelbar negativ auf die Wirtschaftsaktivität aus, indem sie die effiziente Zuteilung von Arbeitskräfte­ressourcen behindern. Hindernisse für die geografische Mobilität von Arbeitskräften können das problemlose Funktionieren des Arbeitsmarktes ebenfalls verhindern.« Dazu wird auch die »eingeschränkte Übertragbarkeit von Renten- bzw. Pensions- und sonstigen Sozialleistungsansprüchen« gerechnet.

Nun kann die EU lediglich Empfehlungen für die Beschäftigungs- und Sozialpolitik der Mitgliedstaaten formulieren. Mit dem »Trick« der »Offenen Methode der Koordinierung« werden aber Verabredungen über einen Gleichschritt der nationalen Politiken getroffen, die dann in den Mitgliedstaaten jeweils getrennt durchgesetzt werden. Grundlage für Mindestlöhne: Nein. Absprache zum Sozialabbau: Ja. Getrennt marschieren, vereint schlagen ist das Handlungsprinzip. Die EU-Kommission und ihre jeweiligen Dienste liefern dazu die Begleitmusik; das Parlament, mit seinen in wesentlichen Fragen rechten Mehrheiten, leistet dann ein Übriges.

Scheindebatten: Demografie und Facharbeitermangel

Ein klassisches Beispiel aus den letzten Wochen ist die Debatte über die Zukunft der Alterssicherung. Bereits 2009 verkündete die Kommission die angebliche Notwendigkeit zur Erhöhung des Rentenalters – zur Haushaltssanierung. Untermauert wurde dies mit einem Grünbuch im August 2010. Unter den Stichworten »demographischer Wandel« und »Bewältigung der Krisenfolgen« sollen nach dem vom Europäischen Parlament am 16.2.2011 zugestimmten Bericht über die Renten- und Pensionssysteme Arbeitnehmer künftig länger arbeiten und betrieblich und privat selbst für die Rente vorsorgen. Der erste Vorstoß der »offenen Koordinierung« liegt schon auf dem Tisch: In Dänemark will die konservative Regierung ein Renteneintrittsalter mit 71 Jahren durchsetzen.

Die möglichst lange und intensive Nutzung von (bereits qualifizierten) Menschen bekommt nun auf europäischer Ebene mit dem »Schreckgespenst« eines künftigen Fachkräftemangels zusätzliche Dynamik. Dazu legte die Kommission zwei neue Richtlinien-Entwürfe vor, die den Aufenthalt und die Arbeitserlaubnis von SaisonarbeitnehmerInnen und konzerninterner Leihe aus Drittstaaten (Nicht-EU-Mitgliedstaaten) regeln sollen. Beide Entwürfe sehen vor, dass Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gelten, die in dem Mitgliedstaat gesetzlich durch Rechtsvorschriften und/oder allgemeinverbindliche Tarifverträge garantiert sind. Nur wenn es ein solches System nicht gibt, können sich die Mitgliedstaaten an den in der jeweiligen Branche üblichen Tarifverträgen orientieren. Hier treten die bereits beschriebenen Probleme zur Entsende-Richtlinie wieder auf: Sollten die Richtlinien so umgesetzt werden, werden die betroffenen Arbeitnehmer in Deutschland wieder nur in einzelnen Branchen vergleichbare Mindestlöhne bekommen. Sofern kein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag existiert, ist zu befürchten, dass gar die Tarifkonditionen des »EU-Erstbeschäftigungslandes« gelten. Arbeitet dann ein Entwickler aus Indien zu estnischen Löhnen in den Entwicklungszentralen von Siemens und Bosch? Hat der Betriebsrat dann noch ein Mitbestimmungsrecht? Integration sieht anders aus!

Bei aller Kritik geht es nicht darum, ArbeitnehmerInnen aus andern EU-Ländern oder Drittstaaten fern zu halten, sondern um anständige Arbeitsbedingungen für alle und gute soziale Absicherung. Wettbewerbsvorteile einzig zu Lasten der ArbeitnehmerInnen in Form von Arbeitsplatz-Konkurrenz, Lohn- und Sozialdumping, Ausländerfeindlichkeit und Abschottungstendenzen wären die krasse Folge. Wie nicht nur in Ungarn bereits zu besichtigen.

Druck von links

Dringend notwendig ist mehr politischer Druck von links – insbesondere aus Deutschland –, um ein soziales Europa durchzusetzen. Doch meist kommt die Auseinandersetzung mit der europäischen Politik über »Europa-Bashing« kaum hinaus. Auch Linke neigen oft zu einer Rhetorik nach dem Motto: alles Schlechte aus Brüssel.

Vergessen wird dabei das Votum vieler Arbeitsrechtler. Nach ihrer Überzeugung wären wir in Deutschland in der Substanz von Arbeits- und Sozialrechten längst erheblich schlechter gestellt, gäbe es europäische Richtlinien und – in einigen Fragen – auch den EuGH nicht. Aktuellstes Bespiel: In Sachen Leiharbeit ist Deutschland die »Wildsau« unter allen europäischen Nationen. Ziel muss die Durchsetzung von »gleichem Lohn für gleiche Arbeit«, die Abschaffung der Aufweichung durch »gelbe« Tarifverträge für Leiharbeitnehmer, die Verhinderung von Scheinselbständigkeit und des Ausweichens auf Werkverträge in Deutschland sein. Dringend nötig ist die Durchsetzung eines gesetzlichen Mindestlohns und die generelle Anwendung von günstigeren Tarifverträgen in allen Branchen. Im Europäischen Parlament konnten wir vereinzelt die Forderung für ein europäisches Mindestlohnniveau durchsetzen. 60% des nationalen Durchschnittsverdienstes wären eine gute Meßlatte. Ein Tariftreuegesetz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge ist längst überfällig. Die bevorstehende Überarbeitung der europäischen Entsende-Richtlinie muss wieder Mindestbedingungen definieren. Die Einführung einer »Sozialen Fortschrittsklausel« in die Europäischen Verträge, wie sie der Europäische Gewerkschaftsbund zur Sicherung von sozialen Rechten vor den wirtschaftlichen Freiheiten fordert, wäre eine gute europäische Hauptforderung der deutschen gesellschaftlichen Linken.

Von alleine wird sich nichts zum Besseren wenden. Die Mehrheit der Regierungen in Europa steht rechts. Im Europäischen Parlament haben Konservativen, Liberale, Ultra-Konservative, Nicht-Fraktionsgebundene und Faschisten im Zweifel eine stabile Mehrheit. Nur selten und mit großen Anstrengungen gelingt es, eine »linke« Mehrheit zu organisieren.

Eine Verteidigung der zweifellos noch rudimentär vorhandenen sozialen Substanz Europas erreichen wir kurzfristig nur mit einer breiten Unterstützung und Druck von Gewerkschaften und außerparlamentarischer Opposition.

Ein Europa mit guter Arbeit, von der man eigenständig leben kann, qualifizierten Arbeitsplätzen, Arbeit, die die Gesundheit erhält, mit Löhnen, die mehr sind als die bloße Existenzsicherung, mit guter sozialen Sicherung und dem Schutz und der Sicherung von kollektiven sozialen Rechten ist mittelfristig nur mit anderen Mehrheiten in den Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament erreichbar.

Karola Boger ist Parlamentarische Assistentin von Thomas Händel im Europäischen Parlament, zuvor war sie Gewerkschaftssekretärin der IG Metall in Schweinfurt; Thomas Händel ist Mitglied des Europäischen Parlaments (für DIE LINKE) und Erster Bevollmächtigter der IG Metall in Fürth.

 

[1] Fuchs, Maximilian/Marhold, Franz: Europäisches Arbeitsrecht, 3. Auflage, Wien 2010.

[2] Baas, Timo, Mehr oder minder. Wer kommt nach Öffnung der Arbeitsmärkte, in: IAB-Forum 2/2010, S. 13.

[3] Ebenda, S. 14.

[4] Ebenda, S. 14ff.

[5] Brückner, Herbert, Brain Gain oder Brain Drain, Deutsland und Europa fallen im Wettbewerb um die besten Köpfe zurück, in: IAB-Forum 2/2010, S. 4.

[6] Ebenda, S. 7f.

[7] http://www.bmas.de/portal/38140/property=pdf/arbeitsrecht_verzeichnis_allgemeinverbindlicher_tarifvertraege.pdf

[8] Möller, Joachim, Standpunkt: Mindestlohn muss die Dienstleistungsfreiheit in der EU absichern, in: IAB-Forum 2/2010, S. 24ff.

[9] Doelfs, Guntram, Gefährliche Grauzone, Interview mit Frank Schmitt-Hullmann, Leiter der Abteilung Internationales bei der IG Bau, in: Mitbestimmung 12/2010, S. 24ff.