Martinas Woche 25/2024: „Weiter so“ – Rentenkürzung oder Was macht eigentlich der Europäische Rat?
Rutte wird neuer NATO-Generalsekretär – Sondergipfel und mehrere Ratstreffen in Brüssel – Gastbeitrag: Wahlauswertung
Die Brüsseler Melange der Europapolitik ist in Hochform: intransparent, z. T. effizient und jenseits des frisch gewählten Europaparlaments ziemlich undemokratisch. Während sich das neue Parlament allmählich sortiert, Fraktionen bildet und auf die Konstituierung und die Wahl der Kommissionspräsidentin oder des Kommissionspräsidenten Mitte Juli vorbereitet, tagen die anderen gesetzgebenden Gremien in Brüssel, der Rat der Europäischen Union und der Europäische Rat, in denen die Regierungsvertreter*innen und Minister*innen der Mitgliedsländer entscheiden, beinahe täglich. Der Versuch, politische Pflöcke einzuschlagen, wie z. B. bei der grundrechtlich mehr als bedenklichen Chatkontrolle (Wir haben letzte Woche schon berichtet,) oder beim Angriff auf gesetzliche Renten ist schon beinahe in der Zielgeraden. Während der Fußballeuropameisterschaften geht das offensichtlich besonders geräuschlos.
Auch die NATO vollzieht einen Führungswechsel, der es in sich hat.
Am Ende unseres Wochenrückblicks haben wir diesmal einen Gastbeitrag der Co-Präsidentin von Transform! europe, Cornelia Hildebrandt, die nochmals den paneuropäischen Blick auf die Wahlergebnisse aller Parteien wirft, Koalitionen durchdekliniert und Veränderungen in der stabil gebliebenen linken Fraktion „The Left“ genauer unter die Lupe nimmt.
Vom niederländischen Premier zum NATO Generalsekretär: Wer ist Mark Rutte?
Die ebenfalls in Brüssel residierende NATO gibt sich eine neue Führung. Der Niederländer Mark Rutte wird neuer NATO-Generalsekretär. Die konservative, österreichische „Kleine Zeitung“ schreibt:
„Rutte könnte sich dabei aber als Glücksfall für die Allianz weisen. Der Mann mit dem Spitznamen Teflon-Mark gilt nicht nur als wendiger Verhandler, sondern auch als Trump-Flüsterer, dem es schon früher gelungen ist, den gröbsten Unfug des damaligen US-Präsidenten zu verhindern.“.
Mit Blick auf die US-Wahl findet die herrschende Europapolitik Rutte im neuen Amt ganz sicher bestens platziert. Doch zur ganzen Wahrheit, die mit einer „Weiter so!“-NATO ohnehin keinerlei internationale Abrüstungsperspektiven oder wenigstens strukturelle Nichtangriffsfähigkeit strategisch ernst zu nehmen scheint, kommt Rutte politisch aus einer Ecke, die internationale Konflikte und Herausforderungen mit den falschen Rezepten von gestern beantwortet. Rutte war überdies wesentlich am EU-Türkei- und -Tunesien-Deal beteiligt und vertritt ein klares Weltbild, das Europa „stärker“ machen soll. Doch die Mittel dazu sind Abschottung, militärische Aufrüstung und Sparpolitiken. Eine gerechte internationalen Kooperation, ein humaner Umgangs in der Asylpolitik: Fehlanzeige.
Und letztlich gilt seine Version von „europe first“ zuallerletzt einer dringenden Solidarität innerhalb Europas. Aus den Niederlanden kamen gemeinsam mit Deutschland in den vergangenen Jahren ein ums andere mal die alten neoliberalen Kürzungsrezepte, die weder eine moderne europäische Kooperation in der Wirtschafts- und Sozialpolitik anpacken, noch eine gültige Investitionspolitik auf den Weg bringen, um dem Klimawandel durch eine neue – nichtfossile – Produktionsbasis zu trotzen und soziale Abfederungen bei dieser Transformation auf den Weg bringen.
In der Eurokrise entwickelte Rutte sich gar zum härtesten Sachwalter des Stabilitäts- und Wachstumspakt, zum Anführer der „Sparsamen Vier“ und verhinderte einen Corona-Krisen-Haushalt, der wesentlich auf Zuschüssen basiert. Thomas Kirchner schrieb seinerzeit im Juli 2020 in der Süddeutschen Zeitung:
„Im Februar las der Hobby-Klavierspieler Rutte während Verhandlungen über das neue EU-Budget eine Chopin-Biografie, weil es seiner Ansicht nach offenbar wenig zu verteilen und nichts zu verhandeln gab. Sein Finanzminister Wopke Hoekstra forderte auf dem Höhepunkt der italienischen Corona-Krise ostentativ die Reformanstrengungen aller Mitgliedstaaten überprüfen zu lassen. Das wurde reihum als Ausdruck von Arroganz oder, schlimmer, Gefühllosigkeit empfunden. Hinzu kam eine ungeschickte Kommunikation aus Den Haag.“
Das erinnerte viele Menschen im Süden Europas, die wie im norditalienischen Bergamo damals um eine Bewältigung der Krisenfolgen durch die Pandemie rangen, an den Niederländer und Eurogruppenchef Dijsselbloem, der 2017 mit üblen und patriachalen Klischees Menschen in den südeuropäischen Staaten beleidigte, die „ihr Geld nur für Schnaps und Frauen verplempern“. Auch wenn sich Dijsselbloem später entschuldigte, bedient die neoliberale Sachpolitik der Niederlande im Europäischen Rat diese permanente Entsolidarisierung in der EU. Rutte ist davon keinen Deut entfernt, sondern bester Vertreter dieses Kurses, der vielen EU-Staaten eine Haushaltspolitik verpasst, die notwendige Investitionen in ökologische Pfade stranguliert und dabei auch die soziale Wohlfahrt angreift.
Martin Schirdewan spitzt die Kritik an der europäischen Kürzungspolitik, die Rutte wie kein zweiter streng vertritt, nach der Ankündigung mehrerer Defizit-Verfahren gegen EU-Mitgliedstaaten nochmals zu und nennt die anhaltende EU-Kürzungspolitik einen historischen Fehler.
Zurück zur NATO selbst, der Rutte nun vorstehen soll: In der vergangenen Woche wurden Zahlen zur weltweit massiven Aufrüstung veröffentlicht. Özlem Demirel fasst nach einer detaillierten Darstellung durch ernüchternde Zahlen zusammen:
„Die NATO-Militärausgaben liegen auch ein Vielfaches über dem, was das Stockholmer Friedensinstitut SIPRI für China mit 296 Milliarden Dollar in 2023 und Russland, 109 Milliarden Dollar im gleichen Jahr, errechnet hat. Sicherer hat uns das alles jedoch nicht gemacht – im Gegenteil. Auch nach dem Schweizer ‚Friedensgipfel‘ sind wir von Frieden weiter weg denn je – und diese völlig aus dem Ruder geratene Rüstungsspirale ist wesentlich mitverantwortlich hierfür!“
Um es kurz zu machen: Von Rutte wird keine Kursänderung bei der abenteuerlichen Aufrüstung ausgehen. Um so lauter müssen die Stimmen der Vernunft, der Abrüstung, der friedlichen internationalen Kooperation werden, die die Abrüstung von Massenvernichtungswaffen und eine strukturelle Nichtangriffsfähigkeit wieder auf die Agenda setzen und einfordern, dass die internationalen Organisationen, die UNO, die OSZE u. a. das Völkerrecht mit Nachdruck verteidigen.
17. Juni – Sondergipfel des Hinterzimmers: Europas Regierungen feilschen um die EU-Top-Jobs
Ursula von der Leyen soll, geht es nach der Europäischen Volkspartei, zum zweiten Mal als EU-Kommissionspräsidenten gewählt werden.
Martin Schirdewan heftet der erneut als Kommissionspräsidentin gehandelten Ursula von der Leyen das rundum passende Prädikat der „Weiter-So!“-Kandidatin an und konstatiert:
„Von der Leyen war nicht nur jahrelang unangefochtene Ankündigungsweltmeisterin, ihr ‚Man on the Moon‘ ist nie gestartet, gegen sie laufen Verfahren wegen Amtsmissbrauchs und Dokumentenvernichtung. Gerade behindert sie auch noch einen Bericht zur Pressefreiheit in Italien, der aufzeigt, wie Meloni seit ihrem Amtsantritt die Medienfreiheit in Italien geschleift hat. So biedern sich die Konservativen weiter Melonis postfaschistischer Partei an, um sich von deren Abgeordneten im Parlament wählen zu lassen. Die Linke im EU-Parlament wird sie nicht unterstützen und fordert stattdessen ein transparentes Verfahren für die Vergabe von Topjobs in der EU.“
Während Portugals Konservative gespalten ist, wie sie die Nominierung des Sozialdemokraten António Costa als Ratspräsident finden soll, wird die estnische Premierministerin Kaja Kallas als EU-Außenbeauftragte ziemlich einhellig im konservativen Flügel für gut befunden, als neue Chefdiplomatin die EU-Außenbeziehungen zu managen, obwohl insgesamt gänzlich unklar ist, wie sich die EU-Außen- und Sicherheitspolitik jenseits von Aufrüstungsstrategien wirklich weiterentwickeln soll. Deshalb kommentiert Martin Schirdewan aus linker Perspektive:
„Die estnische Präsidentin ist eine lautstarke Befürworterin für immer mehr Waffenlieferungen in das ukrainische Kriegsgebiet und die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine. Mit diesem Symbol torkelt die EU auf eine weitere Eskalation im Ukraine-Krieg zu. Ich würde mir stattdessen einen diplomatischen Profi wünschen, der endlich genug Verbündete organisiert, um den diplomatischen und wirtschaftlichen Druck auf Putin für einen sofortigen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen zu erhöhen.“
Der intransparente Gipfel am vergangenen Montag traf keine abschließenden Entscheidungen, doch schon in der kommenden Woche tritt der Rat erneut zusammen und die Agenda umfasst dann noch einiges mehr als die Top-Jobs in den europäischen Institutionen, u. a. soll es um nicht weniger gehen als um mehr Verbindlichkeit für die Säule sozialer Rechte.
Ukraine-Krieg: Friedensgipfel in der Schweiz
Gleich auf drei Gipfeltreffen der vergangenen Woche hagelte es diverse symbolische Botschaften an Putin. Auf dem Berliner Wiederaufbaugipfel, dem G-7-Gipfel bei Bari und dem Gipfel von 92 Staatsvertreter*innen in der Schweiz, der medial die Bezeichnung „Friedensgipfel“ davontrug. Auf diesen Treffen stand immerhin der strategische Grundgedanke vom Ende des Ukraine-Krieges im Mittelpunkt, ohne echte Fahrpläne mit allen Beteiligten für eine sofortige Waffenruhe und den Einstieg in einen Friedensvertrag zu verhandeln. Wie auch, Russland saß nicht wirklich mit an den Tischen.
Der österreichische „Standard“ versuchte sich in der landesspezifisch-neutralen Berichterstattung, sofern es um die Ukraine geht, und fasste das Schweizer Treffen folgendermaßen zusammen:
„In der Abschlusserklärung der Friedenskonferenz im schweizerischen Luxusresort Bürgenstock bekennen sich die Teilnehmer mehrheitlich zur territorialen Unversehrtheit der Ukraine: 84 von 92 anwesenden Staatsvertretern unterschrieben. Umrissen wurden auch Maßnahmen zur Ernährungs- und Energiesicherheit des Landes. Über eine Folgeveranstaltung, möglicherweise in Saudi-Arabien oder der Türkei, wird noch verhandelt.“
Neben den Golfstaaten und der Türkei, die in einem noch ausstehenden Friedensprozess eine größere Rolle einnehmen sollen, war Indien auch erstmalig klar einbezogen. Vereinbart wurde, jetzt mit Russland über Ernährungssicherheit, die Sicherheit von Atomkraftwerken, den Austausch von Kriegsgefangenen und über eine Rückführung entführter Kinder zu sprechen. Zu letzterem hatte auch das Europaparlament, gemeinsam mit Abgeordneten der östlichen Nachbarschaft in der 11. Parlamentarischen Versammlung EuroNest einen umfassenden und detailreichen Bericht vorgelegt, bei dem Martina Michels und die armenische Abgeordnete Maria Karapetyian die Berichterstatter*innen waren. Sie nahmen insbesondere die Lage der Kinder in diesem Krieg unter die Lupe, sowohl derer, die – zumeist mit ihren Müttern – aus der Ukraine oder innerhalb der Ukraine vor den Bomben geflüchtet sind, als auch derer, die von russischen Besatzern verschleppt und zwangsadoptiert wurden.
Viele Regierungschefs erklärten vergangene Woche in der Schweiz, dass es so nicht weitergehen könne, und orientierten auf eine Folgekonferenz.
Wie ist der Gipfel in der Schweiz dann zu werten, dem Russland aus der Ferne diktierte: Wir wollen die Krim, den Abzug aus östlichen Teilen der Ukraine und keinen NATO-Beitritt? Gerhard Mangott von der Universität Innsbruck kommentierte die gesamte Konstellation des Treffens im WDR:
„Man sollte die Konferenz eigentlich „Unterstützungskonferenz für die Ukraine“ nennen und nicht „Friedenskonferenz“. Es geht darum, zu dokumentieren, dass sehr viele Staaten dieser Welt hinter der Ukraine stehen. Man muss auch beachten, was die Agenda dieses Treffens ist. Man spricht eben nicht über die wirklich zentralen Friedensbedingungen – Territorium oder Entmilitarisierung oder Ähnliches –, sondern man spricht über zwar wichtige, aber nachrangige Themen…“
Auf die Frage nach der Verhandlungsbereitschaft Putins gab der Politologie eine überraschende Antwort, die die Funktionsweise von nachhaltigen Friedenskonferenzen nochmals aufrief:
„Nein, weder Russland will verhandeln, noch die Ukraine möchte verhandeln. Beide Kriegsparteien setzen noch immer auf einen militärischen Erfolg. Sie glauben, diesen Krieg gewinnen zu können und dann die Bedingungen für eine Friedenslösung diktieren zu können. Die Ukraine möchte, dass Russland das gesamte Gebiet der Ukraine verlässt – inklusive der Krim.
Russland will Territorium der Ukraine für sich reklamieren, will einen Regierungswechsel in Kiew, einen Verzicht auf den NATO-Beitritt und verlangt eine Demilitarisierung – all das sind Forderungen, die natürlich niemals Grundlage für einen Verhandlungskompromiss werden können.“
Einen Friedensplan gibt es also noch immer nicht. Und sinnvoll wäre es durchaus, dieser wende sich an Russlands wirtschaftlichen Entwicklungspfad, denn der fossile Kapitalismus Russlands ist selbst Putins imperialen Vorstellungen der ärgste Feind. Sanktionslockerungen gegen ökologischen Wirtschaftsumbau, entsprechender Technologietransfer gegen eine Verhandlungsbereitschaft wären ernsthafte nachhaltige Angebote aus der EU, die allerdings auch mit der Gewissheit einhergehen müssen, dass Ukraine-Solidarität mit Schuldenschnitt und Wiederaufbau nicht zum Nulltarif zu haben sind. Die EU-Realpolitik sieht leider gänzlich anders aus. Dort wird die Ukraine-Unterstützung noch immer beinahe ausschließlich militärisch gesehen und von einem Friedensplan fehlt jede Spur. Sanktionspakete werden geschnürt ohne je ernsthaft zu prüfen, was sie für einen Verhandlungsbeginn bringen könnten und ob deren Wirkung wirklich den militär-industriellen Komplex trifft.
20. Juni – Treffen der Europäischen Arbeitsminister*innen
Europäische Betriebsräte, ein wichtiges Instrument in einem vernetzten Binnenmarkt und in internationalen Lieferketten, brauchen mehr Durchgriff bei der Garantie von Kollektivrechten. Deshalb kommentierte Özlem Demirel unter der Überschrift „Eurobetriebsräte sind keine Deko!“
„Mit Blick auf den heutigen Rat ist es deshalb wichtig, dass Mitbestimmung und Demokratie nicht am Werkstor enden und die auf der Agenda stehende Revision der Richtlinie der Europäischen Betriebsräte zu einem zügigen und guten Abschluss kommt. Denn obwohl das Anhörungs- und Konsultationsrecht die zentrale Kompetenz der Eurobetriebsräte ist, beklagen immer wieder Gewerkschafter*innen und Eurobetriebsräte, dass dieses Recht von den Unternehmen missachtet wird.“
21. Juni – EU-Rat „Wirtschaft und Finanzen“ packt die Axt gegen gesetzliche Renten aus
Und auch an derer Stelle wurde vergangene Woche sozialpolitisches Porzellan zerdeppert. Einmal mehr wurde von der EU-Kommission, diesmal auch auf dem Treffen der Wirtschafts- und Finanzminister der EU-Mitgliedstaaten, die gesetzlichen Renten angegriffen. Die Kommission stellte ihr „Frühjahrspaket“ des Europäischen Semesters vor. Martin Schirdewan kommentierte:
„Wer 40 Jahre und mehr gearbeitet und geleistet hat, hat es auch verdient, früher in Rente zu gehen. Die EU-Kommission soll die Finger vom Renteneintrittsalter lassen!“
Wahlauswertungen – diesmal mit Cornelia Hildebrand
In einem Gastbeitrag präsentiert uns diesmal die Co-Vorsitzende der europäischen Stiftung Tranform! europe einen Rundumschlag zu den Wahlergebnissen vom 9. Juni 2024, auch zu den Möglichkeiten, wie Linke weiter Politik machen und dabei gesellschaftliche Verankerungen zurückgewinnen. Hier ist der Gastbeitrag nachlesbar.