Martinas finale Woche 27_2024: Großbritannien und Frankreich wählen – Fraktionen im Europaparlament konstituieren sich
Wahlen in Großbritannien – Wahlen in Frankreich – Linke Delegation aus Deutschland und Fraktion The Left konstituiert sich – Martina Michels politischer Schwerpunkt ist ab dem 17. Juli 2024 wieder in Berlin
Dies ist die letzte Ausgabe von Martinas Woche.
Martina verabschiedet sich mit der Konstitution des Europaparlaments in der kommenden Woche in Straßburg aus der aktiven Politik als Parlamentarierin in Berlin und Brüssel. Doch ganz klar: Das wird kein Abschied aus der Politik.
Die Labour Party schickte die Tories am amerikanischen Unabhängigkeitstag, d. 4. Juli 2024, sehr deutlich in die Opposition und startet mit einer entkernten Sozialdemokratie in eine absolute Mehrheit, die zwar mit viel Wandel assoziiert wurde, wobei jedoch unklar bleibt, worin dieser eigentlich bestehen wird.
Auch Frankreichs durchaus viel kritisiertes Wahlsystem machte es möglich: Das linke Bündnis aus Sozialdemokratie, Grünen und linken Kräften überrascht als Sieger in den Stichwahlen am Sonntagabend.
In Brüssel trafen sich Fraktionen und Delegationen. Unsere linke Delegation hat den Staffelstab übergeben. Martina war die Delegationssprecherin während der 9. Legislatur. Am vergangenen Mittwoch wurde Özlem Demirel Delegationssprecherin der deutschen Linken. Am gleichen Tag konstituierte sich die Fraktion The Left und erhielt überdies überraschend einen Antrag der Moviemento 5 Stelle (M5S), der italienischen 5-Sterne-Bewegung, die in der The Left-Fraktion mitarbeiten wollen.
Aufatmen nach dem grandiosen Wahlsieg des linken Bündnisses in Frankreich, aber…
Eine Hollande 2.0 Regierung braucht das Land ebenso wenig wie ein Macron light.
Das vorläufige amtliche Endergebnis des Ministère de l’interieurs sieht die Linkskoalition NFP mit 182 Sitze vorn, gefolgt von Macrons Ensemble mit 168 Sitzen und erst auf Platz 3 läuft der rechtsradikale RN mit 143 Sitzen ein. Obwohl auch das ein Plus für Le Pen bedeutet, ist das Aufatmen in den Medien nicht zu überlesen: „Die Brandmauer stoppt Le Pen“ (SZ), „In Frankreich hat es nicht Le Peng gemacht“ (Bild), „Enthusiasmus in Paris, Enttäuschung in Moskau“ (Welt), „Erleichtert? Das ist gar kein Ausdruck“ (Zeit) und last not least bedient der Spiegel den Tenor mit „Die republikanische Front wackelt, aber sie hält“. Doch Le Pen wird nicht müde, einen kommenden Sieg schon herbeizureden.
Dem großen Aufatmen folgt ein beinahe noch größeres ABER auf dem Fuße, denn die Frage der Regierungsbildung ist alles andere als einfach. Wieviel mehr eint die Linkskoalition NFP als der entschiedene Kampf gegen Rechtsaußen? Wieviel Porzellan zerschlägt Macron, wenn er Koalitionen mit der LFI ablehnt, obwohl sie die größte Gruppe im neuen Linksbündnis stellt und mit den ewigen Etiketten „euroskeptisch“ und „antisemitisch“ schlichtweg falsch beschrieben ist, bei aller Pluralität innerhalb der Mitgliedschaft und der Anhänger*innen. Das LFI ist in jedem Fall grün, sozial und im Migrationsdiskurs differenziert. Es liegt am Ende am ganzen Bündnis, ob sie sich auf einen Regierungschef einigen können.
Die relative Mehrheit des breiten Linksbündnisses gibt sich erst einmal selbstbewusst und will ganz ohne Macron in die Regierungsbildung. Mélenchon erklärte gestern Abend als erster: „Die Neue Volksfront ist bereit zum Regieren“ und genau wie er sprach sich Faure (PS) gegen eine mögliche Koalition mit dem Macron-Lager aus und verlangte, dass die NFP „diese neue Seite unserer Geschichte in die Hand nehmen“ muss. Glucksmann forderte alle zum Dialog auf und Tondelier (Grüne) komplettierte: „Wir haben gewonnen und jetzt werden wir regieren. Heute Abend hat die soziale Gerechtigkeit gewonnen, heute Abend hat die ökologische Gerechtigkeit gewonnen und heute Abend hat das Volk gewonnen und jetzt geht es erst los.“
Das neu gewählte Parlament tritt am 18. Juli 2024 zusammen, um die Parlamentspräsidentschaft zu wählen. Das tief gespaltete Land bei der Regierungsbildung und danach mitzunehmen, bleibt die eigentliche Aufgabe der gewählten Repräsentant*innen.
Labour entert das britische Unterhaus
Mit Spitzenkandidat Keir Starmer, so fasst die Bundeszentrale für politische Bildung zusammen:
„gewann [Labour] 209 Mandate hinzu und kam nun auf 411 Sitze. Die bisher regierende Konservative Partei büßte hingegen deutlich an Zuspruch ein. Sie konnte 121 Mandate erringen, ein Verlust von 244 Sitzen verglichen mit der letzten Wahl. Starke Zugewinne verbuchten auch die Liberaldemokraten, die mit 72 Sitzen (+61) nun drittstärkste Kraft im Parlament sind und damit die separatistische Schottische Nationalpartei ablösten, welche von 48 auf 9 Abgeordnete zusammenschrumpfte. Mit fünf Sitzen erstmals durch eine Wahl ins Parlament eingezogen ist die rechtspopulistische Partei Reform. Die Grünen konnten ihr Ergebnis mit künftig vier Parlamentssitzen ebenfalls steigern (+3). In Nordirland wurde die irisch-nationalistische Sinn Féin erstmals stärkste Kraft bei nationalen Wahlen in diesem Landesteil. In Wales hielt die nationalistische Plaid Cymru ihre Sitze und stellt weiterhin vier Abgeordnete.“
Das marode Gesundheitssystem und die Migration, sowie die Infrastruktur in den Kommunen standen im Fokus der Wahlauseinandersetzungen. Gegen die gruselige Abschiebelösung nach Ruanda, die in Deutschland auch die AfD im letzten Sommerinterview am 7. Juli 2024 nochmals favorisierte, wird noch immer vor dem Obersten Gerichtshof geklagt, da die Tories zur Durchsetzung dieser Praxis Ruanda kurzerhand zu einem sicheren Drittstaat erklärten. Hier dürfte von Labour weniger Restriktion zu erwarten und sein und für die Wirtschaftsentwicklung weniger Steuergeschenke, sondern eher eine keynesianische Rückbesinnung bei den Staatsfinanzen.
Linke Fraktion konstituiert sich – 5 Sterne-Bewegung erhalten Beobachterstatus
Am Mittwochvormittag traf sich die Fraktion The Left und bestätigte, dass Manon Aubry und Martin Schirdewan erneut die Co-Chairs der Fraktion sein werden. Martin amtiert für 2,5 Jahre und wird dann von Konstantinos Arvanitis (Syriza) abgelöst. Martin und Konstantinos sind jeweils als Stellvertreter im Vorstand vertreten.
Schon im April ging das BSW aus Deutschland mit einer wahrscheinlichen Fraktionsgründung an die Öffentlichkeit und viele nahmen an, dass die M5S fester Bestandteil dieser Fraktionsbildung sein werden. Umso überraschender war der Antrag der M5S, Mitglied der linken Fraktion zu werden. Der lange Weg von der EKR-Fraktion, der eigenen Mit-Regierungszeit in Italien und eigener Spaltungen gipfelte schon länger in Ankündigungen, wieder radikaler und visionärer zu sein. Und natürlich fragen Linke, wie diese Formation zu den GEAS-Reformen, der Europäischen Flüchtlingspolitik mit ihrer Abschottung, steht. Noch ist für einige offen, wie sich die M5S jetzt aufstellen, doch ihr Sprecher, Pasquale Tridico, hat in und nach den Gesprächen mit dem Fraktionsvorstand kundgetan:
„Wir danken der Fraktion ‚The Left‘ und allen ihren Mitgliedern für den produktiven Dialog während der Präsidiumssitzung und für den herzlichen Empfang. In den nächsten fünf Jahren wollen wir mit unseren neuen Kollegen zusammenarbeiten, um uns für ein sozialbewussteres Europa einzusetzen und uns gegen Armut und Sparpolitik einzusetzen. Darüber hinaus werden wir in allen Kriegsgebieten aktiv eine diplomatische Lösung anstreben und uns der dringenden Notwendigkeit eines Friedens in Europa und der Welt bewusst sein.“ (Übersetzung – die Red.)
Martina Michels beendet die Arbeit als Abgeordnete in Brüssel
Über ein Jahrzehnt war Martina Abgeordnete im Europaparlament. Europäische Regionalpolitik war einer ihrer politischen Schwerpunkte schon vor der Zeit in Brüssel. Diesen Fokus hatte sie in der Kultur-, Medien- und Bildungspolitik vertieft, da die Sicherung einer widerständigen europäischen Demokratie und die Teilhabe aller an Bildung und Information zwar gern in Sonntagsreden auftaucht, doch wenn es ernst wird, braucht man wirklich einen langen Atem. Ob Urheberrecht, Plattformregulierung, Künstliche Intelligenz oder digitale Bildung, ob Europäische Nachtzüge oder das energiepolitisch wichtige Fitfor55-Paket, in all diesen Regulationen hat Martina linke Positionen vertreten, wovon einige auch mehrheitsfähig geworden sind. Und weil wir uns ebenso als Menschenrechtspartei verstehen, hat Martina, gemeinsam mit den Kollegen in der linken Fraktion in Brüssel, aber auch darüber hinaus, ob beim Datenschutz oder der Asylgesetzgebung genauso intensiv die individuellen Freiheitsrechte in Brüssel verteidigt.
Martina ärgert wie viele, die seit Jahren linke Politik auch vor Ort machen, dass viele populistische Antworten, die keinen Stresstest der Realität überstehen würden, in einer Zeit multipler Krisen so viel Gehör bei Wählerinnen und Wählern finden. Oft sind die, die Wut und Angst noch verstärken, derzeit Gewinner im politischen Wettbewerb, während die leiseren Stimmen der Vernunft und auch der Argumente überhört werden. Doch machen wir uns nichts vor, die LINKE hat nicht nur ein Kommunikationsproblem, sondern muss u. a. konkrete politische Projekte vorschlagen, Projekte, die Mut machen und Menschen zum Mitmachen einladen. Daran wird sich Martina auch in Zukunft beteiligen.
Martina bedankt sich natürlich bei Weggefährtinnen und Weggefährten für die lange Zusammenarbeit. Wichtig war ihr immer, dass sie auch in den vergangenen fünf Jahren auf ihr Team zählen konnte: Nora Schüttpelz, Konstanze Kriese, André Seubert, Peter Cichorius und Peter Schmidt sowie Jörg Bochmann, Martin Herberg und viele andere, dass die Zusammenarbeit mit den Abgeordneten und natürlich mit Berlinerinnen und Berlinern, sowie den Sachsen-Anhalterinnen gut funktionierte, denn ohne eine engagierte Basis hätte es die Chance nie gegeben, als Mitglied des Europaparlaments linke Politik zu vertreten. Der Austausch geht weiter, denn wir werden alles daran setzen, gemeinsam Möglichkeiten zu finden, linke Ideen und politische Projekte wieder aufregend und erfolgreich zu machen.