Martin Schirdewan
Martin Schirdewan

Martinas Woche 24_2023: Straßburg in der Sonne – im Plenum viele Schatten

Plenartagung mit: Ukraine nach dem Krieg – GEAS: Asylkompromiss des Rates – Künstliche Intelligenz-Gesetz – Europäische Bürgerinitiative – Wasserknappheit – Europapolitische Sprecher*innen tagten

Der Donnerstagvormittag stand unter anderem im Zeichen der wachsenden Wasserknappheit, die durch die anhaltende Dürre im Süden Europas nicht nur im Alltag der Agrarproduzent*innen erhebliche Mehrkosten und zukünftige Einbußen nach sich zieht. Die Klimakrise ist in Europa noch stärker angekommen, nach den Starkregenkatastrophen vor zwei Jahren. Die Beobachtung der Erhitzung der Meere zeigt schon lange, dass der Anstieg nicht linear verläuft.

Seit einem Monat nun stehen Wissenschaftler*innen weltweit vor einem dramatischen Rätsel. Eigentlich müssten die Ozeane der Südhalbkugel, auf der Herbst ist, kühlen, doch sie erfüllen ihre Pufferzonen-Aufgabe nicht mehr.

„Fachleute berechneten, dass die Meere im Laufe der vergangenen 50 Jahre enorme Mengen an Wärme, die von uns durch die Verbrennung von fossilen Energieträgern und die dadurch emittierten Treibhausgase produziert wurde, aufgenommen haben: mehr als 95 Prozent. ‚Ohne diese Aufnahme wäre es an Land etwa 35 Grad Celsius wärmer, als es gegenwärtig ist‘“.,

so ein Forscher im Gespräch mit dem österreichischen Standard. Die Folgen sind mannigfaltig und eines steht dabei jetzt schon fest: Bisherige tropische Regionen, aber auch die im hohen Norden könnten unbewohnbar werden. Die Menschen werden aus den unbewohnbaren Gebieten flüchten müssen, so dass ein Grund der weltweiten Migration zunehmen wird: Flucht wegen des unbewältigten Klimawandels.

Damit ist das zweite Thema berührt, das am Mittwochvormittag zentral die Plenartagung bestimmte: die Vorbereitung des Europäisches Rates Ende Juni in Brüssel. Einmal mehr wird es um das Asyl-Paket gehen, aber auch um die Klimapolitik der EU, die sich bei jeder weiteren Krise selbst ausbremst, statt die Krisenbewältigung selbst sozialen und ökologischen Kriterien zu unterwerfen und damit einen Teil der Ursachen vieler gesellschaftlicher Krisen endlich anzupacken. Martin Schirdewan sprach deutliche Worte in der Debatte zum Asylkompromiss, der nicht anderes als eine Bankrotterklärung europäischer Werte dokumentiert und die Universalität von Grundwerten außer Kraft setzt.

Auf der Tagesordnung stand am Dienstagvormittag eine Debatte zum Wiederaufbau in der Ukraine nach dem Ende des Angriffskrieges Russlands. Nach langen Debatten wurde außerdem in vielen Ausschüssen die Position zum Künstlichen Intelligenz-Gesetz verabschiedet.

Nicht weniger spannend, doch zu später Stunde gleich am Montag, war die Debatte um die Europäische Bürgerinitiative, eines der wenigen direktdemokratischen Möglichkeiten, um Einfluss auf die EU-Politik zu nehmen. Und hier schließt sich der Kreis: Eine der wenigen erfolgreichen Initiativen zum Recht auf Wasser – „Right2Water“ – begann 2015 und war eng mit der Abgeordneten und Berichterstatterin Lynn Boylan aus unserer Fraktion verbunden, weil diese die Verantwortung für einen kritischen Bericht des Europaparlaments trug, der der Kommission vorwarf, die wesentliche Anliegen der Initiative auszusitzen.

„‚Das öffentliche Eigentum und Management der Wasserversorger gehören klar zu den Hauptanliegen der Verbraucher, und können nicht ignoriert werden“‘

sagte die Berichterstatterin Lynn Boylan (The Left, IE), deren Bericht mit 363 Stimmen bei 96 Gegenstimmen und 261 Enthaltungen angenommen wurde.

‚Es ist bedauerlich, dass die Kommission keine Gesetzesvorschläge vorgelegt hat, mit denen der allgemeine Zugang zu und das Menschenrecht auf Wasser anerkannt und dementsprechende rechtliche Vorgaben für die gesamte EU gemacht werden“, so Boylan, die abschließend hinzufügte: ‚Öffentliche Güter wie Wasser sollten nicht zur Quelle finanzieller Gewinne werden‘.“

Eine der entscheidenden Forderungen damals war, dass die Wasserversorgung von Handelsverträgen ausgenommen werden muss. Darauf warten wir heute noch und werden mit dieser Forderung wieder in den Wahlkampf ziehen. Andererseits wurde die Wasserrahmenrichtlinie dann endlich 2020 überarbeitet und garantiert uns Europäern das sauberste Wasser weltweit.

 

Ratsgipfel läutet deutschen Europawahlkampf ein

So kommentierte unser Fraktionsvorsitzender Martin Schirdewan das Umfeld der geplanten Debatten Ende Juni 2023 in Brüssel, in denen die CDU/CSU die eigene Kommissionspräsidentin angreift und Lindner bei jeder Gelegenheit sein Zurück zur europäischen Sparpolitik verkündet, die vor allem viele Länder in Südeuropa in Haushaltskrisen stürzte. Und mindestens ebenso markant schien das Schweigen der Sozialdemokratie zum Bau von Mauern an den EU-Außengrenzen, welches inzwischen von der deutsche Innenministerin Nancy Faeser in einen Verhandlungserfolg umgedeutet wurde. Martin Schirdewan nutzte dann die Plenartagung zurecht, in diesen Wahlkampfauftakt Deutschlands zur Europawahl ein klares Statement der LINKEN im Plenarsaal zu hinterlassen. Er charakterisierte den EU-Asylkompromiss, der jetzt dem Europaparlament vorgelegt werden soll, als Bankrotterklärung vor den Grundwerten des europäischen Zusammenlebens im globalen Maßstab, in denen Menschenrechte, wie auch das Recht auf Asyl, universell und unteilbar sind. Stattdessen hat sich der Europäische Rat unter Beteiligung der deutschen Sozialdemokratie und der deutschen Grünen darauf geeinigt, das Asylrecht schlicht nicht mehr zu garantieren. Hier ist die ganze Rede nachhörbar, in der deutlich wird, dass man dem Rat diese Einigung nicht durchgehen lassen darf und wir jetzt – nicht nur bedingt durch den beginnenden Wahlkampf – den Druck erhöhen müssen, im Sinne der Menschen in Not. Wenn man parallel liest, dass das Ministerium von Baerbock Millionen für die zivile Seenotrettung zurückgehalten hat, so ist diese Zustimmung zum Asylkompromiss alles anderes als ein „Ausrutscher“ oder ein schwer zu ertragender Kompromiss, der auch noch durch die zukünftige Parlamentsposition verbessert werden soll, will man den beiden Ministerinnen Glauben schenken. Das prominente SPD-Mitglied, Andrea Ypsilanti, die sich vor allem in den vergangenen Jahren im linken Cross Over Projekt des Instituts Solidarische Moderne engagierte, trat wegen dieser Zustimmung der SPD-Ministerin am 8. Juni in Brüssel aus der SPD aus.   

 

Europäische Bürgerinitiative: Demokratie verschenkt

Die Europäische Bürgerinitiative (EBI) wurde konzipiert, um Bürger:innen mehr Mitsprache bei der Entscheidungsfindung der Union zu geben. Helmut Scholz hatte untersuchen lassen, wie die Auswirkung auf die EU Gesetzgebung nach zehn Jahren Existenz dieses Instruments aussehen. Das Ergebnis war ernüchternd.

„(D)ie Anzahl erfolgreicher EBIs und deren Auswirkung auf die Gesetzgebung nach über zehn Jahren (ist) jedoch sehr gering.“

Ein Bericht, der Verbesserungen aufzeichnen soll, wurde Montag nach diskutiert. Das Fazit von Helmut Scholz:

„Der beschlossene Bericht enthält zwar viele begrüßenswerte Vorschläge für die Verbesserung der Europäischen Bürgerinitiative, verschenkt aber leider viel Potenzial für eine ernsthafte Reform. Eine von mir in Auftrag gegebene Studie hat sich sehr ausführlich mit den Versäumnissen des letzten Jahrzehnts auseinandergesetzt. Das Ergebnis: Ohne grundlegende Veränderungen werden auch zukünftig nur sehr wenige Initiativen die eine Million nötigen Unterschriften erreichen können – und das trotz hohem Aufwand der jeweiligen Initiator:innen und großem zivilgesellschaftlichem Rückhalt. Und selbst bei Erfolg besteht nur wenig Aussicht auf eine wirkliche Umsetzung ihrer Anliegen – die Kommission ist nicht einmal dazu verpflichtet, die Vorschläge in den legislativen Prozess einzubringen!“

 

Verantwortung der EU für eine Ukraine nach dem Krieg 

Dienstagmorgen wurde in der Plenardebatte ausgelotet, wie die Ukraine zu mehr sichtbaren Sicherheitsgarantien kommt, die ein Nachdenken über den Wiederaufbau nach dem Krieg überhaupt denkbar machen. Während Özlem Demirel in der Debatte vor allem klar machte, dass die NATO eher Teil des Problems, nicht die Lösung ist, weil ihre Anrufung immer wieder den Blick zu einer abrüstungsorientierten Außenpolitik verstellt, argumentierte Helmut Scholz deutlich, was an Solidaritätsleistungen für den Wiederaufbau der Ukraine jetzt schon in Angriff genommen werden muss, denn er wird mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung der Ukraine verschlingen. Und dort muss gelten:

„Nach dem Krieg darf nicht vor dem Ausverkauf sein!“.

Neben den wirtschaftlichen Aspekten setzte Scholz auf Demokratisierung, auf junge Leute, die statt in Scharen das Land zu verlassen, gemeinsam mit der Zivilgesellschaft an den wesentlichen Entscheidungen beteiligt werden müssen.

 

Was lange währt, wird nicht unbedingt gut: Gesetz über Künstliche Intelligenz

„Die fortschrittlichen Kräfte im Europäischen Parlament haben heute das Verbot von Gesichtserkennung im öffentlichen Raum erfolgreich verteidigt. Die Massenüberwachung der EU-Bürger:innen, wie von der EVP – insbesondere CDU/CSU – gewollt, ist jetzt erstmal vom Tisch.“,

verkündete Cornelia Ernst, die im LIBE-Ausschuss für die Positionierung zum Gesetz verantwortlich für unsere Fraktion war. Zuvor hatte Martina engagiert und gemeinsam mit dem tschechischen Piraten Marcel Kojala für dieselbe Position im Kulturausschuss gestritten. Wegen der EVP sollte der Artikel dann dort nicht abstimmt werden, weil er angeblich nicht direkt relevant für den Ausschuss sei. Dies sahen Martina und Marcel Kojala völlig anders, denn auch Journalist*innen arbeiten im öffentlichen Raum und wären von diesen Zumutungen betroffen. Bei der Entscheidung im Plenum haben wir uns daher auch nochmals dezidiert eingebracht, damit dieser Erfolg zustande kommt.

Doch wo Licht ist, ist auch Schatten, so dass Cornelia Ernst feststellen musste:

„Der risikobasierte Regulierungsansatz wurde in den Verhandlungen extrem abgeschwächt und die Messlatte, um ein KI-System als Risiko für Grundrechte, Sicherheit oder Gesundheit einzustufen, hängt deshalb leider sehr hoch. Das ist für eine Position des EU-Parlaments definitiv nicht ehrgeizig genug, um Menschen vor den unvorhersehbaren Gefahren der KI zu schützen.“

Trotzdem können wir aus der Perspektive des Kulturausschusses anfügen, dass es uns gelungen ist, die Bildung überhaupt als risikobehafteten Bereich in die Regulierung aufzunehmen. Immerhin. Daran war zum Zeitpunkt der Vorstellung des Gesetzes noch nicht zu denken.

 

Europapolitische Sprecher*innen tagten in Berlin

Am Freitag tagten die linken Europapolitischen Sprecherinnen und Sprecher aus Bundestag, den Land- und Kreistagen, Vertreter der Stiftungen sowie drei der fünf Europaabgeordneten erstmals nach der Pandemie wieder in Berlin. Neben vielen anderen Themen ging es Martina, Conny Ernst, Helmut Scholz sowie Wulf Gallert und vielen anderen z. B. in der Diskussion zu den industriepolitischen Zielen der EU darum, einen gemeinsamen Standpunkt zu finden darüber, wie sich die EU effektiv gegen den von der Biden-Regierung ausgerufenen Inflation Reduction Act (IRA) positionieren kann, ohne ökologische und soziale Aspekte aus den Augen zu verlieren, wie dabei gerade mittelständische, aber auch Großunternehmen in Europa gehalten werden können und welche Rolle dabei die verschiedensten EU-Programme wie der EU-Chips-Act (Europäisches Chip-Gesetz) spielen (können). Eine Diskussion, die umso mehr verdeutlichte, dass EU-Politik bis in die kleinsten Kommunen Folgen hat, aber auch die kleinsten Kommunen von Entscheidungen auf EU-Ebene profitieren können. Und das gilt nicht nur für Verordnungen und Richtlinien sondern auch für viele EU-Mittel, die sinnvoll eingesetzt werden können und müssen. Gerade bei Richtlinien ist es wichtig, deren Umsetzung durch die Länder und Kommunen genau zu beobachten, ob deren inhaltlichen Intentionen eingehalten und die Ziele auch erreicht werden.

Helmut Scholz und Canan Kus (RLS) informierten die Runde in hochinteressanten Vorträgen zu der Stellung Europas in dem Spannungsfeld zwischen USA und China/Russland und gaben Prognosen zu künftigen Entwicklungen.

Vorm Plenarsaal des Europäischen Parlaments
Konstanze Kriese

Auch Vertragsänderungen stehen diese Woche wieder auf der Tagesordnung
CC-BY-4.0: © European Union 2022 – Source: EP

© European Union 2023 - Source : EP
Philippe STIRNWEISS

Europapolitische Sprecher*innen, Berlin, 16.6.2023
Jörg Bochmann