Geschlossenes Kino in Ixelles
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Martinas Woche 15_2021: EU-Diplomatie aus der Hölle

Östliche Partnerschaft – Flucht- und Asylpolitik – Hinterm Sofagate geht’s weit – Medienfreiheit – Bezahlbares Wohnen – Kapitalismus

Die diplomatischen Fehltritte Europäischer Institutionen nehmen kein Ende. Kurz nach Ostern wurde Ursula von der Leyen mitten im fortgesetzten Schmusekurs der EU mit der Türkei von Erdoğan kurzerhand aufs Sofa (de-)platziert und Charles Michels, der mit ihr nach Ankara gereist war, nahm neben Erdoğan Platz. Das „Ähm“ der Kommissionschefin ging um die Welt, wobei man sich gewünscht hätte, dass endlich dasselbe zu der unsäglichen EU-Türkei-Politik selbst gesagt würde. Insbesondere seit dem Deal von März 2016 wird die Türkei als Türsteherin Europas von der EU gehätschelt, indem sie neben den vielen Menschen auf der Flucht, die ohnehin in der Türkei leben, einschließlich der eigenen kurdischen Binnenflüchtenden, diese gegen Bezahlung aus der EU daran hindern soll, Asyl in der EU zu suchen.

Doch die Baustellen der Kommission, die neue geopolitische Kapitel aufschlagen wollte und bisher nichts lieferte, sind reichlich gesät. Ursula von der Leyen fehlte selbst massiv, indem ihr Büro eine Absage in die Ukraine schickte, obwohl derartig hochrangige Absagen an Staatschefs nur persönlich erfolgen sollten. Und wieder rückt sich der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, neben der Kommissionschefin Von der Leyen ins Licht, indem er die Einladung Wolodomir Selenskij aus Kiew natürlich persönlich und auch nicht absagend schon längst beantwortet hatte. Diese B-Noten-Debatte sollte jedoch nicht über die echten Schwachstellen der EU-Politik hinwegtäuschen. Warum z. B. gibt es kaum mediale Aufmerksamkeit für die Parlamentarische Versammlung EuroNest? Gerade tagt nämlich diese Versammlung von Abgeordneten der EU und vielen Ländern Osteuropas, in der auch Martina, die in der Südkaukasus-Delegation Mitglied ist, aktiv ist. Seit mehreren Tagen sind alle Abgeordneten mit den Vorbereitungen des ersten Online-Treffens am 19/20. April 2021 beschäftigt. Dieses stellt in dieser neuen Form dann zugleich die 9. Parlamentarische Versammlung des EU-Parlaments und der Östlichen Partnerschaft dar (darunter u. a. die Ukraine, Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldau, aber auch Belarus). Das EuroNest-Treffen wird ab morgen im Lifestream des Europäischen Parlaments übertragen.

Für viele Fragen, von der Friedenssicherung über die Energiepolitik bis zum Kulturaustausch, wird die EU keine nachhaltigen Lösungen entwickeln, wenn sie die östliche Partnerschaft nicht auf Augenhöhe ausbaut. 

In dieser Woche erschütterte das Urteil zum Berliner Mietendeckel diejenigen, die sich für bezahlbares Wohnen einsetzen. Der Rückschlag verlangt sowohl eine soziale Abfederung als auch neue Wege, einen Mietendeckel nun eben bundesweit durchsetzbar zu machen.

In der letzten Woche war Martina, aber auch Jörg Bochmann aus unserem Berliner Büro, in Online-Debatten mit Basisorganisationen, wie es derzeit sinnvoll ist, doch nicht mit weniger Gesprächsbedarf.

 

EU-Migrations- und Grundrechtspolitik: Verräterische Sprache – Inhumane Politik

Es gibt einen UN-Welttag gegen Straflosigkeit für Verbrechen an Journalist*innen und seit 2016 veröffentlicht Reporter ohne Grenzen eine Liste der „Feinde der Pressefreiheit“. „Inzwischen umfasst sie 35 Staats- und Regierungschefs, Extremisten- und Verbrecherorganisationen sowie Geheimdienste. Diese verkörpern in besonders drastischer Weise die rücksichtslose Unterdrückung der Pressefreiheit durch Zensur, willkürliche Verhaftungen, Folter und Mord. Neu auf der Liste stehen unter anderem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der ägyptische Präsident Abdelfattah al-Sisi und Thailands Junta-Chef Prayut Chan-o-cha. Zu den weiteren Neuzugängen gehören etwa der burundische Präsident Pierre Nkurunziza, Saudi-Arabiens König Salman und Venezuelas Präsident Nicolas Maduro, außerdem die Huthi-Rebellen im Jemen, die Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ und die Islamistengruppe Ansarullah Bangla Team in Bangladesch.“ Dies sollte zum kurzen Umreißen, wohin die Spitzen der EU-Institutionen, Von der Leyen und Michel, fuhren, um ihre inhumane Asyl- und Migrationspolitik weiter fortzusetzen. Doch sind wir ehrlich. Auch wenn aus dem Parlament heraus schon seit 2017 ein Vorschlag zu Neuregelungen der Migrationspolitik und des Grenzmanagements an den EU-Außengrenzen existiert, der besser ist als alles, was bisher vorgelegt wurde und offenbar deshalb von der Kommission seit Jahren unbeantwortet ausgesessen wurde, sind manch Veröffentlichungen auch auf Seiten des Parlaments keinen Deut besser. Nun gibt es auch inzwischen neue Ansätze der Kommission, doch an den Besuchen in Ankara sieht man, dass hier auf ausgefahren Gleisen agiert wird. Nun hat vorgestern die Parlaments-Homepage ihre Übersicht zur Migrationspolitik erneuert, wartet aber mit Sprachregelungen auf, die nur wütend machen: „In 2015 and 2016, more than 2.3 million illegal crossings were detected. The total number of illegal crossings in January-November 2020 dropped to 114,300, the lowest level in the last six years and a decrease of 10 % compared to the same period in 2019. Despite a 55 % drop, Afghanistan remains one of the main countries of origin of people detected making an irregular border crossing, along with Syria, Tunisia and Algeria.“ (In den Jahren 2015 und 2016 wurden mehr als 2,3 Millionen illegale Grenzübertritte festgestellt. Die Gesamtzahl der illegalen Übertritte von Januar bis November 2020 ging auf 114.300 zurück, den niedrigsten Stand seit sechs Jahren und einen Rückgang von 10 % gegenüber dem gleichen Zeitraum des Jahres 2019. Trotz eines Rückgangs von 55 % bleibt Afghanistan eines der Hauptländer.… Syrien, Tunesien und Algerien…“) Ehrlich, manchmal zieht es einer die Schuhe aus, wenn man so etwas liest. Wenn jeder Mensch das Recht auf einen Asylantrag hat, und das dürften Menschen aus Syrien und Afghanistan weiterhin problemlos geltend machen, egal wie politische Einstufungen der Herkunftskonfliktländer sind, dann kann man nicht von illegalen Grenzübertritten reden. Grund- und völkerrechtlich bedenklich ist einzig, dass diese Menschen keinen geordneten Asylantrag stellen können, weil sie durch EU-Türkei-Deals und Pushbacks unter den Augen der Grenzschutzagentur Frontex gar nicht erst bis zum Stellen eines Asylantrags kommen. Deshalb erinnern wir an dieser Stelle daran, dass im EU-Parlament jetzt eine Arbeitsgruppe eingesetzt wurde, die die Hinweise auf Vergehen von Frontex untersucht, denn Pushbacks, das Zurückstoßen von strandenden Booten aufs Meer hinaus, sind illegal. Punkt. Aus. Ende.

 

EuroNest: Was ist das und was ist neu?

Martina ist Mitglied der Parlamentarischen Versammlung EuroNest (DEPA) und dies als Mitglied der Delegation EU-Südkaukasus (DSCA). Noch kurz vor Beginn der Corona-Pandemie in Europa tagte EuroNest im Dezember 2019 in Tbilisi. Es war das 8. Treffen der Parlamentarierinnen und Parlamentarier aus der EU und aus den Mitgliedstaaten der östlichen Partnerschaft. Seither kämpfen nicht nur alle Seiten mit den Folgen der Pandemie, seither erschütterte ein kurzer bitterer Krieg um Bergkarabach, den seit den End-80er-Jahre erneut aufgeflammten Konflikt und er wurde, wie wie wissen, durch einen von Russland vermittelten Waffenstillstand, beendet. Bis heute ist vieles ungeklärt, die politische Lage Armeniens ist nachhaltig destabilisiert und ausgerechnet u. a. einige CDU-Abgeordnete aus dem Deutschen Bundestag fielen damit auf, sich vom aserbaidschanischen Despoten Alijew schmieren zu lassen und im Europarat Gut-Wetter-Reden für Aserbaidschan zu halten. Die EU-Politik zu Belarus und zur Ukraine, ein ebenso weites Feld zwischen Berechnung und Einmischung, schwelt ebenfalls durch alle Debatten in der Parlamentarischen Versammlung. Geht es doch auch immer wieder um – das oft ungenannte – Russland, auch bisweilen den Iran, die zum Verständnis und bei strategischen Überlegungen zu einer Politik mit der östlichen Partnerschaft auf Augenhöhe nicht ausgeklammert bleiben können. Seltsamerweise muss man da oft feststellen, dass die schärften Kritiker*innen Russlands – und wir stehen bei weitem nicht abseits, wenn Grund- und Freiheitsrechte in Russland gegenüber Journalistinnen und Oppositionellen geschliffen werden, ebenso wie in Belarus – völlig schweigsam bleiben, wenn es um das Erdgas aus Aserbaidschan geht. Da reden manche dann kein Wort mehr über Menschenrechte oder den Green Deal.

Dies allein schon macht die Debatten in der EuroNest-Versammlung kompliziert, aber nicht weniger nötig. Klar ist, sie verlangen Kenntnis der Länder der osteuropäischen Nachbarschaft, Wissen um ihre Geschichte, ihre politischen Kräfte. Martina ist Mitglied im Sozialausschuss der Parlamentarischen Versammlung, der in der vergangenen Woche einen gemeinsamen Bericht angenommen hat. Mit diesen Vereinbarungen geht sie jetzt auch in die morgen und übermorgen stattfindende Parlamentarische Versammlung und in der kommenden Woche können wir dann über den Stand der Dinge ausführlicher berichten. 

 

Medienfreiheit: Kulturausschuss bereitet neuen Bericht vor

Morgen trifft sich der Kulturausschuss im Europäischen Parlament und einmal mehr wird der Kommissar Thierry Breton erwartet. Über den Austausch mit dem Medienkommissar hinaus werden sich die Abgeordneten über einen neuen Bericht verständigen „Europäische Medien in der digitalen Ära: Ein Aktionsplan um Erholung und Transformation zu unterstützen“. Die Pandemie ging an den Informationsmedien natürlich nicht spurlos vorüber und hat, wie in anderen Bereichen auch, bekannte Problemlagen verschärft. Das beginnt bei der schlechten Bezahlung vieler freischaffender Journalist*innen und reicht bis zum massenhaften Produzieren von Fake news (auch im Zusammenhang mit der Pandemie selbst), zu Angriffen auf Journalist*innen und noch immer komplizierten rechtlichen Lagen für Whistleblower*innen. Die Medienlandschaft ist einerseits sehr vielfältig, was ihre Produktionsarten betrifft, doch damit ist noch lange keine Medienvielfalt gesichert, in der Interessen ausgewogen repräsentiert sind, Medienkompetenz wächst, wenn Bürgerinnen und Bürger gut informiert und in demokratische Debatten immer einbezogen sind. Morgen ist also die erste Debatte zum neuen Bericht und wir werden ab dann regelmäßig über den Fortgang berichten.

 

Berliner Mietendeckel vom Bundesverfassungsgericht gekippt

Der Schock der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes in Deutschland sitzt tief. Der Berliner Mietendeckel, der die unwirksame Mietpreisbremse ergänzen sollte, wurde vom BVerfG zwar nicht als Instrument für null und nichtig erklärt, doch seine Durchsetzung darf nicht von einem Bundesland beschlossen werden. Hier wäre der Bund gefordert. Auch wenn Jurist*innen, die den Berliner Mietendeckel begleiteten, dies anders sahen, müssen sie sich nun vor dem Respekt der Institution beugen und neue Wege – zusammen mit den Mieterinitiativen – beschreiten. CDU und FDP hatte gegen den Berliner Mietendeckel geklagt. Zuerst und ganz pragmatisch, eröffnet die Abwahl der Anti-Mieter*innen_Parteien, die überdies allerhand Großspenden von Immobiliengesellschaften einsammeln, bei der Bundestagswahl 2021 politisch die Perspektive, einen wirksamen Mietendeckel im Bund durchzusetzen. Und ja, man darf das Bundesverfassungsgericht, trotz Respekt vor der Institution kritisieren für diese Entscheidung, wie der – wie immer sehr sachlich argumentierende – Verfassungsblog beweist. Maximian Steinbeiß begründet, warum wir das Gericht nicht schonen sollten. Der Berliner Bausenator Scheel bleibt dabei, dass wir Marktregelungen für den Wohnmarkt brauchen und Fakt ist, bezahlbares Wohnen ist auch ein bundespolitisches und letztlich auch ein europäisches Thema.

 

Lesetipp: Das 3. Magazin der „Grenzgängerin“ analysiert moderne Kapitalismen

Warum die Mehrzahl von Kapitalismus? Stecken wir nicht alle, wie Heiner Müller mal sagte, tief im Kapitalismus, wie die Folgen des gescheiterten Mietendeckels, die schleppenden Corona-Hilfen vor allem für die Pflegeberufe, aber auch die Lage der Kreativen aus der Kulturbranche europaweit zeigen? Im neuen Heft der „Grenzgängerin“, erscheinen gleich nach dem Osterfest, dass Ihr herunterladen und dann online lesen könnt, hat u. a. die feministische Wirtschaftswissenschaftlerin Christa Wichterich die Kipppunkte einer der Reproduktionssphäre des Kapitalismus beschrieben, die mit der Pandemie noch deutlicher sichtbar wurden. Georg Seelen schaut sich die Filmproduktion genauer an und Konstanze Kriese geht über den aktuellen Notstand hinaus der Frage nach, wie eigentlich Kreative im modernen Kapitalismus behandelt werden und warum das Urheberrecht nicht der Ausweg aus den vielen Konfliktlagen, wie z. B. den schlechten Verdiensten im Internet, sein kann. Markus Baum verrät uns, was wir eigentlich von der Digitalisierung wissen. Andreas Wölke klärt uns über den destabilisierenden Exportismus Deutschlands auf und Simone Claar schaut nach Afrika und diskutiert, inwieweit dort kapitalistisches Produzieren greift.  

Graffito in Ixelles
Konstanze Kriese

Brüssel: Atomium
Konstanze Kriese

Brüssel: Europaparlament mit Blick zum Ausschuss der Regionen
Konstanze Kriese

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