Martinas Woche 43_2020: Plenum verballert 387 Milliarden Euro vorbei am Klimawandel
Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) – Digital Service Act & Urheberrecht – Brexit – Covid19 & Bildung & Rechtsstaatsprinzip – Abrüstung
In der vergangenen Woche entschied sich eine Mehrheit aus Konservativen, Liberalen und der Europäischen Sozialdemokratie, in diesem Falle ohne die deutsche sozialdemokratische Delegation, für eine Agrarreform, die den Namen nicht verdient hat. Auch unsere Fraktion hat bis zum Ende der unzähligen Abstimmungen mit vielen Vorschlägen um mehr Nachhaltigkeit und soziale Lösungen in den Landwirtschaftlichen Betrieben gekämpft. Wieder einmal stand auch der Brexit im Fokus der Parlamentsdebatten. Doch die Aussichten auf eine vertraglich gesicherte Ausstiegslösung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich schwinden rapide. Das Plenum entschied mehrere Berichte zur Regulierung von Plattformen und ihre Position zur Bildung in Zeiten der Corona-Pandemie. Wir haben unseren Blog zum Urheberrecht weitergeschrieben, denn Deutschland hat neue Vorschläge unterbreitet und noch einmal über einen befreundeten Blog „die-zukunft.eu“ zur gemeinsamen Debatte eingeladen.
Gemeinsame Agrarpolitik: Statt Klima- und Naturschutz hat sich die Agrarindustrie durchgesetzt
Seit zwei Wochen schon wurden die E-Mail-Fächer der Abgeordneten geflutet und so sehr das nervt, weil man dazwischen oft die tagesaktuellen Links für die virtuellen Meetings wie die berühmte Stecknadel im Heuhaufen suchen muss, haben viele der Clicktivism-Briefeschreiber, die auf Aufrufe von engagierten NGOs reagieren, völlig recht: Was die EU da mit ihrem halben Haushalt veranstaltet, ist eine Gefahr fürs Klima, hält das Artensterben nicht auf und ist auch nur bedingt sozial. Denn trotz der vielen Direktzuwendungen, von denen in diesem Falle sogar einer der Berichterstatter des Europaparlaments, der deutsche CDU-Abgeordnete Peter Jahr unmittelbar profitiert, wurde hier nur die Agrarindustrie mehrheitlich bedacht und kaum die Saisonarbeiter*innen, Wanderarbeiter*innen und kleinen nachhaltigen Betriebe oder junge Landwirt*innen. Im Interview, dass der SPIEGEL mit Harriet Bradley, von Birdlife International führte, sind die allergrößten Fallstricke der jetzt verabschiedeten Position zusammengefasst. Letztlich ist hier, wie die Umweltaktivistin es begründet, der Begriff „Öko“ gekapert worden und steht sogar für absurden Pestizideinsatz und Praktiken, die an keiner Stelle die landwirtschaftliche Produktion nachhaltiger machen. Wenn auch der eine oder andere sinnvolle Änderungsantrag unserer Fraktion zur Bekämpfung des Landraubs, zu sozialen Konditionalitäten noch im Text verblieben ist, hat unsere Fraktion weitgehend der Reform in ihren beiden größten Paketen nicht zugestimmt.
Das Parlament macht Ansagen: Digital Service Act
Die neue EU-Kommission hat angekündigt, bald umfassende Regulierungen, die vor allem den Big Five (Amazon, Apple, Facebook, Google und Microsoft) gelten sollen, vorzulegen. Das Parlament hat dazu unterschiedliche Initiativberichte vorgelegt, aus der Perspektive des Binnenmarktes, des Verbraucherschutzes (IMCO), des Rechtsauschusses (ITRE) und des Grundrechte-Ausschusses (LIBE), mit vielen Kommentaren aus anderen Ausschüssen, wie z. B. Internationaler Handel, Beschäftigung und Kultur und ihre Positionen in dieser Woche entschieden. Unsere Fraktion hat sich dabei vor allem weitgehend hinter den Bericht von Tiemo Wölken aus dem Rechtsausschuss (ITRE), hier nochmal fokussiert in einer Gesamtbetrachtung von Digital Pioniers, gestellt. Ingesamt geht es jedoch in allen Berichten sowohl um die Bewältigen und Transparenz bei der Entwicklung der Künstlichen Intelligenz bis zur Wahrung der Grundrechte. netzpolitik.org hat erneut eine grobe Zusammenfassung der Parlamentsposition nach den Abstimmungen vorgelegt. Nun sind alle Blicke auf die Vorschläge der Kommission gerichtet und wir können davon ausgehen, dass die politische Auseinandersetzung damit bestimmt zwei Jahre in Anspruch nehmen wird, obwohl die technologische und vor allem kartellartige Entwicklung der Plattformen so rasant ist, dass man sich hier ein schnelleres konzentriertes Arbeit wünscht. We auch immer, wir können davon ausgehen, dass wir hier in Zukunft regelmäßiger berichten, wenn die gesetzlichen Ideen der Kommission vorliegen.
Da erinnern wir doch gern daran, dass sich so eine Art „Vorläuferdebatte“ schon mit der EU-Urheberrechtsreform abspielte, dort schon die Plattformregulierung z. T. im Fokus war, wenn auch unter anderen Vorzeichen und diese Reform gerade in den Mitgliedstaaten umgesetzt wird, was wir begleiten und wozu wir gern zur Debatte einladen.
„Anarchy in the UK“?
„Anstatt ernsthaft zu verhandeln, scheint die britische Regierung sogar noch hinter die platten Forderungen des Brexit-Wahlkampfes zurückzufallen. Großbritannien betreibt Rosinenpicken und scheint von der EU zu erwarten, dass sie den starrköpfigen Forderungen der britischen Regierung willfährig Folge leistet. Die Regierung Johnson nimmt dabei keine Rücksicht auf den wirtschaftlichen Schaden und die Arbeitsplätze in Großbritannien und der EU. Boris Johnson steuert gezielt auf einen No Deal zu. Das ist unverantwortlich. Natürlich wäre ein gutes Abkommen für alle Beteiligten wünschenswert, doch rückt es mit jedem neuen Tag in immer weitere Ferne.“, kommentierte unser Co-Fraktionsvorsitzender, Martin Schirdewan, die Lage um den ausstehenden EU-UK-Vertrag. In der Debatte sprach auch unser Abgeordneter, Helmut Scholz, in einer Corona bedingten Premiere, denn er war erstmalig aus Berlin zugeschaltet, was seit dieser Plenarwoche, die erneut in Brüssel stattfand, erstmalig möglich war. Kurz und knapp kritisierte er die abenteuerliche Situation, in die Johnson sowohl Brit*innen als auch EU-Bürgerinnen und Bürger bringt, die in Großbritannien arbeiten und leben. Überdies steht das Karfreitag-Abkommen auf dem Spiel, dass eine gesicherte Grenzsituation zu Irland prägte. Inzwischen wird wieder weiterverhandelt.
EU-Bildungspolitik & Covid19: kritische Bestandsaufnahme
„Das Europaparlament hat heute einhellig einen kritischen Bericht zur Zukunft der Bildung vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie angenommen. Niemand hatte etwas anderes erwartet, doch die Zustimmung darf nicht über zwei Umstände hinwegtäuschen: Erstens sind die Mitgliedstaaten für Bildungsreformen zuständig. Und wenn zweitens, die EU eine sozial-integrative und tiefgreifende digitale Bildung unterstützen will, ist es absurd, ausgerechnet bei den Flaggschiffen europäischer Programme wie Erasmus+, bei Digital Europe u. a. zu kürzen.“, leitete Martina ihre Pressemeldung zur Abstimmung des Berichts ein. Nicht nur die sozialen Spaltungen wurden durch die Pandemie vertieft, es wurde auch deutlich, dass digitale Bildung bei allen enormen Bemühungen noch immer in den Kinderschuhen steckt und dies oft weniger, weil Kinder nicht mit Computern umgehen können, sondern weil auch viele Lehrerinnen und Lehrer zu den 43 % Menschen in Europa gehören, die nur mangelhafte digitale Kompetenzen haben. Darüber hinaus sind viele Infrastrukturprobleme bei den digitalen Netzen nicht überwunden und all das kommt zu den sozialen Verwerfungen hinzu, die auch viele Kinder und Jugendliche durch die Pandemie verstärkt zu spüren bekommen. Was angesichts dieser Lage jedenfalls gar nicht geht, ist die weitere Kürzung bei der Bildung, doch genau das hat die Kommission gerade vorgeschlagen. Nun sind die Abgeordneten gespannt, was die Kommission auf ihren kritischen Bericht hin antworten wird..
Atomwaffen-Verbot ohne Atommächte?
In 90 Tagen kann ein Verbotsvertrag für Atomwaffen, den die UN 2017 verabschiedet und den inzwischen 50 Länder ratifiziert haben, in Kraft treten. 122 Länder hatten damals zugestimmt und 84 Länder sind dem Vertrag bisher beigetreten. Doch, so wird eingeschätzt, ist dieser dringliche Vertrag eher symbolisch, denn die führenden Atommächte, darunter auch Deutschland, sind nicht dabei. Deshalb forderte Özlem Demirel noch einmal in der Plenardebatte am Mittwoch, dass ein Internationaler Atomwaffensperrvertrag endlich für alle gelten muss und die EU-Staaten diesem unverzüglich beitreten sollten.
Corona-Pandemie in Europa und Rechtsstaatsprinzip
Das Reisen, auch der Europaparlamentarier*innen und Berufspendler*innen, ist weitgehend eingestellt. Das Plenum, die Ausschüsse und andere Treffen tagen inzwischen beinahe vollständig im Remote-Modus. Die Unruhe wächst, die Zahlen der bei den vervielfachten Testungen gefundenen Infizierten wachsen sprunghaft. Viele Pflegekräfte sind wieder am Limit. Berichte aus der „Europäischen“ Hauptstadt Brüssel sind schlicht beunruhigend und verweisen jetzt schon auf mehr grenzüberschreitenden Zusammenarbeit.
Jetzt ist überall politische Vernunft angesagt, für jede*n einzelne*n und man möchte der nächsten Ratstagung zurufen: Regierungschefs reißt euch zusammen, stellt die Zusammenarbeit in den Vordergrund und handelt bei der Verabschiedung der Corona-Hilfspakete auf der Stelle und ohne jede Verschiebung! Der politische Flurschaden, wenn „die EU“, was dann meist die uneinigen Mitgliedstaaten im Europäischen Rat sind, schadet nicht nur jeder Bürgerin und jedem Bürger von Zypern bis Schweden, von Amsterdam bis Warschau. Die Akzeptanz europäischer Lösungsfähigkeit gerät erneut unter Druck, die Zustimmung und das Vertrauen in Europäische Politik sind schnell verspielt und wir konnten bisher davon ausgehen, dass die mit den einfachen „nationalen Lösungen“ oft davon profitieren, ohne das es den Menschen damit in Zukunft besser gehen wird. Doch derzeit steht diese Strategie, die Polens Regierung sehr offensiv verfolgte, auch auf der Kippe, denn der heimtückische Virus hat auch Polen und Ungarn, die ein ums andere Mal Blockaden gegen den Rechtsstaats-Mechanismus bei der Mittelvergabe anmeldeten, erwischt.