Mission nach Lesbos. 18./19. September 2020. Cornelia Ernst und Leo Lentz

In der Nacht vom 8. auf den 9. September brach im völlig überfüllten Geflüchtetenlager in Moria auf der griechischen Insel Lesbos ein Feuer aus. Fast das komplette Lager wurde zerstört und tausende Geflüchtete standen auf der Straße. Die Bilder, die wir von der Nacht und den folgenden Tagen sehen konnten, waren erschreckend. Menschen die panisch versuchen vor den Flammen zu fliehen, überfüllte Straßen, Berichte von Straßenblockaden und gewalttätigen Polizist*innen, die nicht einmal vor Kindern Halt machen. Von vor Ort hört man Stimmen, die sagen „Es ist die Hölle auf Erden, es ist Krieg“.

Um sich selbst ein Bild machen zu können, hat eine Delegation der GUE/NGL Linksfraktion kurzfristig entschieden, nach Lesbos zu reisen. Abgeordnete aus Griechenland, Spanien, dem Baskenland, Schweden, Portugal und wir als DIE LINKE im Europaparlament nahmen daran teil. Ziel der Mission war es, einen Überblick über die aktuellen Verhältnisse vor Ort zu bekommen, aber vor allem auch, mit Menschen vor Ort zu reden. So stand am ersten Tag zunächst der Besuch des abgebrannten Camps in Moria auf dem Plan. Die verbrannten Container, die liegengebliebene Kleidung und der Geruch von Rauch ließen nur noch erahnen, welche Szenen sich dort abgespielt haben und was die Menschen, die schon so viel Leid ertragen mussten, nun auch noch zusätzlich durchmachen mussten.

Nie wieder Moria, hieß es immer wieder auf zahlreichen Demonstrationen in den letzten Tagen – und das zu Recht. Nach dem Brand waren viele Geflüchtete zuerst in die Berge geflüchtet oder campierten auf der zentralen Straße. Sie wollten nicht wieder zurück, in gar kein Camp. Doch was jetzt auf Lesbos entstanden ist, ist – auch wenn kaum vorstellbar – noch einmal schlimmer als das, was die Menschen in Moria erlebt haben. Moria 2.0. Das Camp, das aktuell noch als Übergangscamp bezeichnet wird, wurde direkt an der Küste errichtet. Ungefähr 1.000 Zelte werden dort aufgebaut, ein ganzes Riesenlager für 9 – 10.000 Menschen. Das Lager befindet sich unmittelbar an der Küste, an der im Herbst und Winter starke Nordwinde aufs Land treffen und Wellen und Kälte ins Camp bringen. Noch stehen die Zelte nahezu ungeschützt vor Wind und Wellen fast direkt am Wasser. Es ist ebenfalls bekannt geworden, dass das Lager auf einem verseuchten Truppenübungsplatz errichtet wurde, auf dem Soldaten immer noch Minen suchen. Geflüchtete haben bereits selbst Munition entdeckt und niemand weiß, was dort noch alles im Boden vergraben ist. Der Platz wurde provisorisch mit einem Gemisch aus Sand und Steinen abgedeckt. Eine Mischung, die sich bei Hitze so sehr aufheizt, dass man kaum darauf laufen kann und die beim ersten Regen zu einer einzigen Schlammgrube werden wird. Und wenn es wirklich dazu kommt, sind die Menschen nicht einmal in ihren Zelten geschützt, denn diese haben keinen Boden.

Weil es ansonsten keinerlei Möglichkeiten gibt, gingen die meisten Geflüchteten in dieses neue Lager. Was sich uns dort zeigte, machte alle fassungslos. Wir sahen ein überfülltes Lager, in dem Menschen unter schrecklichen Bedingungen leben mussten. Kaum ärztliche Versorgung, schlechte hygienische Bedingungen, verschmutzt und heillos überlaufen – ein menschenunwürdiges Leben. Es fehlte an fließendem Wasser, nur drei große Tanks standen zur Verfügung. Die Menschen konnten sich seit einer Woche weder duschen noch groß waschen. Hinzu kommt, dass COVID-19 hier eine viel größere Rolle spielt, denn es sind weit mehr als die bislang angegeben Fälle zu verzeichnen, dies bestätige uns Ärzte ohne Grenzen vor Ort.

Am Eingang des neuen Camps warteten hunderte Menschen, um sich zu registrieren. An Abstandsregelungen war hier gar nicht erst zu denken. Gleich vorne im Camp befindet sich einer der Quarantänebereiche. Oder anders: Zelte umzäunt mit Stacheldraht. Dahinter Menschen eingesperrt wie im Zoo. Die Dixi-Toiletten verdreckt, da es viel zu wenige sind. Daneben die Wasserstation, an der die Menschen versuchen, ihre Flaschen zu füllen, während das Wasser nur tröpfchenweise aus dem Tank läuft. Die Geflüchteten hinter dem Stacheldraht verstanden nicht, warum sie eingesperrt sind. Sie wurden positiv auf COVID-19 getestet, sind aber meist asymptomatisch. Die Kommunikation scheint in keiner Weise zu funktionieren. „No Corona“ sagten sie uns. Andere Geflüchtete standen ihnen am Zaun gegenüber, nur ab und an forderten die Polizist*innen sie auf, Abstand vom Zaun zu halten. Die Menschen hinter dem Zaun berichten uns von fehlendem Wasser und Essen, davon, dass sie sich nicht waschen können und nicht genügend Toiletten für alle da sind.

Moria 2.0 – Schlimmer als Moria. Und jetzt schon an seinen Kapazitätsgrenzen. Der Bau eines neuen Camps dauert nach Angaben der Campleitung sechs bis acht Monate. Mindestens so lange müssen die Geflüchteten dort weiter unter katastrophalen Bedingungen leben. Dann ist aber Winter! Ob jedoch wirklich ein neues Camp gebaut wird, bleibt unklar. Diese Unsicherheit und die Angst, wieder eingesperrt zu werden sowie die völlige Perspektivlosigkeit, all das traumatisiert viele Geflüchtete.

Unser Ziel kann also nicht sein, neue Camps zu bauen, auf diese Art der „Unterbringung“ zu setzen, sondern die Menschen so schnell wie möglich aus den Hotspots rauszuholen. Anders gesagt: Die Menschen müssen evakuiert und von der Insel geholt werden.

Fast direkt neben dem neuen Camp befindet sich ein weiteres Lager. Die Unterkunft in Kara Tepe ist speziell für Familien und Menschen mit Beeinträchtigungen. Nach dem Anblick des neu errichteten Camps, wirkte die Unterkunft in Kara Tepe schon fast gut. Aber davon dürfen wir uns nicht täuschen lassen. Auch hier leben Menschen in Containern. Wir haben zwar fließendes Wasser gesehen, aber die Freude darüber, das hier zu sehen, verdeutlicht doch nur die wahnsinnigen Zustände wenige hundert Meter entfernt. In Kara Tepe gibt es einen Spielplatz und auch etwas Unterricht, unter anderem in Englisch und Griechisch. Trotzdem müssen die Menschen auch hier teilweise mehrere Jahre leben und auf ihre Anhörungen warten. Wir trafen dort eine Frau, 93 Jahre alt, sitzend im Rollstuhl, als Flüchtling anerkannt. Dennoch bleibt sie auf unbestimmte Zeit dort, weil sie niemand haben will und es keine Lösung für sie gibt.

Nach dem Brand in Moria, das nur weniger Kilometer von Kara Tepe entfernt ist, haben viele Menschen versucht, in diesem Camp Schutz zu finden. Auf Bildern und Videos war zu sehen, wie auf dem Weg tausende Menschen stehen und versuchen, ins Camp zu gelangen. Hier ist die Polizei mit aller Härte und Gewalt gegen die Geflüchteten vorgegangen. Auf der Straße nach Kara Tepe standen noch vereinzelt Menschen am Straßenrand, aber vor allem sahen wir die Reste von kurzfristig aufgebauten Unterständen. Ein Anblick, der wieder nur erahnen lässt, in welcher Situation sich die Menschen hier befunden haben. Auch die Polizei war noch präsent und stand inmitten des zurückgelassenen Hab und Guts.

Am Freitagnachmittag fand ein Austausch mit verschiedenen NGOs statt. Darunter HIAS Griechenland, PIKPA, das Legal Center Lesbos und die Initiative „Solidarity for all“ die vor Ort aktiv sind.
Was uns von den NGOs berichtet wurde, macht das Gesehene keinesfalls besser. Es schärft den Blick für die dramatische Lage auf den griechischen Inseln, speziell auf Lesbos. Wir erfuhren noch einmal, wie schwer es ist, Informationen über das neue Camp zu bekommen und dass die NGOs kaum Möglichkeiten haben, um mit den Menschen vor Ort zu reden. Ein großes Problem ist, dass juristische Hilfe, also Rechtsmittel für Geflüchtete, so gut wie gar nicht vorhanden ist. Wir erfuhren, dass aufgrund von COVID-19 Interviews mit Geflüchteten per Telefon gehalten wurden und bereits zwei Tage später die Ablehnung des Asylantrages ankam. Die Aktiven vor Ort kritisieren zu Recht die europäische Flüchtlingspolitik und fühlen sich allein gelassen. Die Menschen, die auf der Insel leben, waren lange bereit, zu helfen, aber sie fühlen sich alleingelassen, von Regierung und EU. Diese Not wird von der gegenwärtigen griechischen Regierung schamlos ausgenutzt. NGOs werden unter Druck gesetzt, die Voraussetzungen für ihre Registrierung verschärft und rechte Propaganda hat dadurch Zulauf. Gleichzeitig ist klar: Griechenland und die griechischen Inseln können die Asylpolitik nicht alleine schultern. Es ist eine Schande, dass die restlichen Länder die Augen verschließen und sich dem Problem nicht annehmen. Uns wurde von Push-Backs berichtet, von gewalttätigen Polizist*innen, von erschwerten Asylverfahren, vom schweren Zugang zu Anwält*innen, von der fehlenden Aufklärung der Geflüchteten über ihre Rechte und Pflichten. Es sind erschreckende Zustände.

Am Samstag trafen wir zunächst EASO (Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen). Die Antworten auf unsere Fragen, die die Mängel bei Asylverfahren betrafen, blieben so gut wie unbeantwortet. Trotz der unübersichtlichen Lage und des fehlenden Zugangs zu Anwält*innen sieht EASO aktuell keine Probleme darin, die Asylverfahren fortzusetzen in der derzeitigen Situation. „Je schneller wir die Fälle bearbeiten, desto schneller können die Menschen von der Insel“ heißt es auf die Frage, gemeint ist wohl zuerst Abschiebung. Die Berichte der NGOs vom Tag zuvor und auch die angespannte Situation, die aufgeladene Stimmung der EASO Mitarbeitenden erwecken den Anschein, dass die Asylverfahren eben nicht problemlos geführt werden. Von einem fairen und gerechten Verfahren kann hier kaum die Rede sein.

Auch Frontex blieb in den Aussagen mehr als zurückhaltend. Hier ging es in den Gesprächen vor allem um die illegalen Push und Pull-Backs vor der Küste der Insel, von denen es mehrere Aufzeichnungen und Beweise gibt. Frontex bemerkte, dass sie einige Zeit gar nicht an den Grenzen waren und somit auch nichts unternehmen konnten. Bei der Nachfrage nach Beschwerdemöglichkeiten und der Bearbeitung dieser Beschwerden blieb es still. Sie beharren darauf, dass die griechischen Behörden und Polizei hier in der Verantwortung seien. Aber wir bestehen darauf: Entweder wissen sie, was passiert und sie unternehmen nichts oder sie wissen nicht, was an den Grenzen passiert. In beiden Fällen sind sie verantwortlich, da sie entweder wegschauen oder nicht zur Aufklärung beitragen. Die Behauptung von Frontex, man wisse nicht, was an den Grenzen vor sich gehe und das, obwohl es genügend eindeutige Berichte und Aufnahmen von NGOs gibt, macht einmal mehr deutlich, dass diese Agentur abgeschafft werden muss. Selbst ehemalige Stadtvertreter*innen aus Mytilini berichteten von Push und Pull-Backs und baten darum, dafür zu sorgen, dass diese endlich aufhörten. Push-Backs und Pull-Backs sind illegal. Sie müssen verhindert werden, hier steht Frontex in der Verantwortung!

Beim Besuch des ehemaligen Tagesscenters für alleinerziehende Mütter und unbegleitete Minderjährige sahen wir, dass es auch etwas anders gehen kann. Aufgrund der akuten Platznot, die es eigentlich auch schon vor dem Brand gab, sind nun auch hier Kinder und Mütter mit ihren Kindern dauerhaft untergebracht. Im Gespräch mit den Menschen vor Ort wurde schnell klar: Es geht ihnen wesentlich besser als in Moria. Es gibt weder Zelte noch Container, sondern ein richtiges Haus. Mit Fenstern, Türen und Treppen. Schlimm genug, dass das schon als Glücksfall angesehen werden muss. Dennoch sind auch hier die Menschen vorerst nur provisorisch untergebracht, schlafen ohne jegliche Privatsphäre und auf dem Boden mit dünnen Matratzen. Wann es Betten geben wird, war zum Zeitpunkt des Besuchs nicht klar.

Am Ende der Mission nach Lesbos bleibt Fassungslosigkeit. Moria war und ist ein Elendslager und zeigt das Versagen der Europäischen Union. Was jetzt auf der Insel entstanden ist und was dort passiert, ist nichts anderes. Die Menschen, die da ankommen, werden ihrer Rechte beraubt und leben weiter unter menschenunwürdigen Bedingungen. Es muss endlich Schluss sein mit der Hotspot-Politik an den europäischen Außengrenzen. Wir müssen sofort evakuieren. Deutschland hat Platz, Platz für die Menschen aus Lesbos. Fast 180 Safe Harbours gibt es bei uns, Städte, Regionen und Bundesländer, die Menschen aus diesen Lagern aufnehmen wollen. Deutschland kann und muss in dieser Frage vorangehen, damit das Elend an den europäischen Außengrenzen endlich ein Ende hat.

Mit der Vorlage des neuen „Pact on Migration“ muss die Beendigung der Hotspot Politik geregelt werden. Die Geflüchteten müssen auf alle Mitgliedstaaten verteilt werden.

Es muss ein europäisches Rettungssystem zur Rettung Geflüchteter eingerichtet werden. Jegliche Gewalt gegen Geflüchtete muss sofort aufhören. Das Dublin-System gehört abgeschafft. Alle Staaten sind zu verpflichten, sich an der Aufnahme und Integration Geflüchteter zu beteiligen. Neben des BIPs als Kriterium des Verteilungsschlüssels, müssen aber mindestens genauso sehr die Belange der Geflüchteten berücksichtigt werden. Es braucht ein Resettlement-Programm zur finanziellen und logistischen Unterstützung der Ansiedlung Geflüchteter innerhalb der EU, genauso wie eine Task Force, die die soziale Situation und die Unterbringung der Geflüchteten in den Mitgliedstaaten unterstützt und kontrolliert

 

Das alles heißt nicht, dass wir auf eine europäische Lösung warten können. Es gilt anzufangen!
Die Menschen an den EU-Außengrenzen, auf den griechischen Inseln, in Bosnien oder an der spanisch-marokkanischen Grenze müssen sofort aufgenommen werden. Wir können weder nur die Mitgliedstaaten an den Außengrenzen noch die Menschen, die dort unter elendigen Bedingungen leben müssen, alleine lassen.

 

Evacuate now!

 

Das abgebrannte Camp Moria auf Lesbos

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Neues Lager für Geflüchete auf der Insel Lesbos

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