Martinas Woche 47_2017
Brüssel – Berlin: Kultur- und Regionalpolitik – Türkische Frauenbewegung – Medienfreiheit – Jamaika-Aus in Deutschland
Während die Vorbereitung für unsere Fachgespräche zur Medienfreiheit in Berlin, Leipzig und Brüssel auf vollen Touren laufen, tagten diverse Ausschüsse. Die Frauenbewegung in der Türkei überrascht am 25. November. Die Abgeordneten schauen natürlich auch auf die Debatten der Regierungsbildung in Deutschland nach dem Ausstieg der FDP aus den Jamaika-Sondierungsgesprächen. Während in Deutschland eine ungekannte Optionsvielfalt diskutiert wird, tritt in Europa eine gebremste, geschäftsführende Kanzlerin auf. Dabei stehen im Dezember wichtige Entscheidungen im Rat auf der Tagesordnung.
Regionalfonds als Sanktionsinstrument? Nicht mit uns.
Wir hören das in letzter Zeit öfter. Immer, wenn ein Politikfeld nicht vorankommt, kommt irgend jemand in der EU auf die Idee, Regional- und Strukturfonds für Sanktionen einzusetzen, um mehr europäische Harmonisierung durchzusetzen. Das klingt immer auf den ersten Blick charmant, trifft aber die Falschen, denn ungarische Medienprojekte können nichts für Orbán und französische Energiegenossenschaften, die weniger auf erneuerbare Energien, sondern lieber auf die französische Atompolitik setzen. Und auch bei den Dublin IV-Vorschlägen ist uns das aufgestoßen, die der Innenausschuss (LIBE-Ausschuss) gegen die üblen Kommissionsvorschläge erarbeitet hat und bei denen auch echte Verbesserungen auf der Habenseite des Verhandlungsangebots für den Trilog mit der Kommission und dem Rat stehen.
Andererseits droht mit dem Brexit eine erneute Kürzungsdebatte bei den Regional- und Strukturfonds. Sie wird überdies davon genährt, dass viele Mitgliedstaaten Probleme bei den Mittelabforderungen haben. Das spielt denen in die Hände, denen die Kohäsionspolitik, die soziale Angleichung der Regionen ohnehin ein Dorn in ihren egoistischen nationalstaatlichen Augen ist. Ihnen ist daher auch egal, Förderstrukturen endlich transparenter und simpler zu gestalten. Jedes Misslingen hingegen wird in einen Dolchstoß gegen die Kohäsion als Ganze verwandelt. Doch nun droht der falsche Sanktionsgedanke auch von anderer Seite, von erklärten liberalen Pro-europäern, wie Macron. Doch damit sind soziale und demokratische Defizite der EU nicht zu beheben, finden Martina Michels und Nora Schüttpelz.
Im Regionalaussschuss (REGI) war am Donnerstag dann der Haushaltskommissar Günther Oettinger zu Gast und erläuterte, warum auch er Haushaltskürzungen in der EU-Förderpolitik für wahrscheinlich hält. Martina hatte in der darauffolgenden Kritik ordentlich Verstärkung, denn diesmal waren der Minister Benjamin Hoff aus Thüringen und der Minister Stefan Ludwig aus Thüringen zu Gast im Ausschuss.
Kulturausschuss im Debattenrausch
Expertenhearing zu Fake News, eine Aussprache mit dem Kommissar für Kultur, Bildung, Jugend und Sport, Tibor Navracsics, die Vorstellung der Preisträger*innen des Jugendkarlspreises und eine Aussprache zur Umsetzung der Jugendstrategie, deren derzeitiger Rahmen nächstes Jahr ausläuft, standen u.a. auf der Tagesordnung des Kulturausschusses (CULT). Auf letzteres war Martina, als Schattenberichterstatterin, mit kritischem Blick vorbereitet. Doch – auch das kann vorkommen – die Debatte wurde plötzlich auf den 4. Dezember verschoben, weil die Berichterstatterin erkrankt war. Deshalb werden wir erst in zwei Wochen darüber berichten. Leichte Enttäuschung überkam Martina bei der Vorstellung der Preisträger des Jugendkarlspreises. Da präsentierte sich eine artige Jugend mit einem schönen Blog, es wurde von den Erasmus-Austauscherfahrungen berichtet, aber große Probleme wurden da nicht gewälzt. Es mag das Privileg der Jugend sein, naiv und fröhlich in die Welt zu blicken, doch ob dies nun gleich das Prädikat: „politisch wertvoll“ erhalten muss, steht auf einem anderen Blatt. Trotzdem wollen wir derartige Verleihungen nicht klein reden, denn sie zeigen schon in den nationalen Vorauswahlen, bei denen Martina in der Jury mitarbeitet, dass Jugendliche sehr wohl politisch aktiv sind und auch kreativ unterwegs sein können.
25. November – Internationaler Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen
„Susmuyoruz, korkmuyoruz, itaat etmiyoruz“ – „Wir schweigen nicht, fürchten uns nicht, gehorchen nicht“, so wehrte sich die Frauenbewegung in Istanbul gegen das drohende Verbot ihrer Nachtdemonstration am vergangenen Samstag. Weltweit wird inzwischen am 25. November der Kampf gegen Repression, Gewalt, ja auch gegen Morde an Frauen, weil sie Frauen sind, sichtbar gemacht. Von der Politik werden mehr Schutzstrukturen gefordert, die allen Frauen zugänglich sind. Es geht um die Anerkennung von Fluchtgründen, die spezifisch Frauen betreffen, wie Genitalverstümmelung und um eine gesellschaftliche Öffentlichkeit, die zugleich Frauen nicht als Opfer behandelt, sondern Widerstand gegen Repressionen und Gewalt fördert. Beeindruckend waren die Proteste in Istanbul letzte Nacht, die an die Bilder vom 8. März diesen Jahres erinnerten. Die türkische Frauenbewegung ist hellwach und verdient Unterstützung gegen Erdoğans patriachales Sultanat. Martina war im April diesen Jahres beim Prozess gegen Figen Yüksekdağ in Ankara, der HDP-Vorsitzenden und Frauenrechtlerin. Ihr Berliner Kollege Hakan Taş wird am 8. Dezember nach Ankara zum dritten Prozess fahren, während Martina türkische Journalistinnen in Berlin begrüßen kann.
TIPP: Veranstaltungen zur Medienfreiheit am 8. Dezember 2017 in Berlin
10 – 15 Uhr Fachgespräche im Europäischen Haus
17 – 19 Uhr Podiumsdebatte im Europäischen Salon beim ND und
ab 19:30 Uhr Abendveranstaltung im Café Sibylle
Detaillierte Infos zum Programm und zur Anmeldung sind hier zu finden.
Deutschland zwischen GROKO, KENIA und Macron
Nach dem Jamaika-Aus, das Lindner mit der Glückskeksparole „Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren“ einleitete, herrscht eine erfrischende politische Debatte der Optionenvielfalt. Das bräsige Deutschland, indem Demokratie tendenziell zur Wohlstandveranstaltung verkommen ist, redet über Minderheitsregierungen und Neuwahlen. Soweit kann man Lindner fast dankbar sein, wenn auch sein Kurs, Seehofer rechts zu überholen und die nationalkonservative Seite der AfD-Gründer zurückzugewinnen, eher zum Würgen ist. Der Bundespräsident probt nun den Hamlet und deklamiert gar jedem Parteioberhaupt irgendwas mit staatsbürgerlicher Verantwortung. Die SPD trifft es am härtesten, denn ihr Kanzlerkandidat Martin Schulz hatte am Wahlabend eine erneute Große Koalition nach der ersten Hochrechnung ausgeschlossen. Ihrer Mitgliedschaft ist die Umklammerung durch Merkel zuwider. Ihre Wählerinnen und Wähler haben sie SPD allerdings gewählt, damit sie regiert. Eine nominelle Oppositonsführerin namens AfD kann sich niemand ernsthaft wünschen. Gesprächskorridore für KENIA oder R2G (Rot-Rot-Grün) sind jetzt zu kurz. Minderheitsregierungen gab es bisher nur ein einziges Mal mit einem gewissen Erfolgsfaktor, aber nicht im Bund, sondern in Sachsen-Anhalt. Währenddessen drücken Menschen mit europäischen Visionen aufs Tempo, wie der französische Präsident Macron, die nicht die unseren sind, die aber auch nicht alle nur ein neoliberales Einerlei darstellen, sondern eine heftige Auseinandersetzung verdient hätten. „The Show must go on“, möchte man sagen, doch statt Popcorn, wäre eine ernsthafte und hörbare politische Stimme von links ein Gebot der Stunde.