Martinas Woche 11_2016
Brüssel zwischen parlamentarischem Alltag und Gipfel-Schlussakkord für Menschenrechte
Der EU-Regierungsgipfel: Schlussakkord für Menschenrechte
Eigentlich sollte sich der Regierungsgipfel regulär mit wirtschaftspolitischen Fragen beschäftigen. Doch die unerledigten Hausaufgaben der EU-Mitgliedstaaten, die sich seit Monaten weigern, eine gemeinsame und solidarische Lösungen für Flüchtlinge zu finden, bestimmten auch den Märzgipfel. Nun scheint die Einigung der 28 EU-Mitgliedstaaten mit der Türkei geglückt, ein Deal eingefädelt zu sein, hinter dem vor allem Angela Merkel stand.
Doch was ist der Preis? Offenbar hat Europa gestern Menschenrechte, zuvörderst das Menschenrecht auf Asyl, im Mittelmeer begraben. Der Gipfel hat sich mit keiner Silbe den Fluchtursachen zugewandt und langfristige Strategien für deren Eindämmung erörtert.
Die gesamte Orientierung auf kurzatmige Lösungen, die bewirken sollen, dass nicht mehr so viele Flüchtlinge wie zuvor nach Europa kommen können, ist nicht nur angesichts internationaler Verträge, die jede/m ein faires Verfahren zusichern müssen, der/die einen Asylantrag stellt, mehr als fragwürdig. Gleichermaßen driftet der Vertragspartner für diesen abenteuerlichen Lösungsansatz, die Türkei, insbesondere seit Sommer 2015 in eine gesellschaftliche Entwicklung, die den Rechtsstaat mit Füßen tritt. „Mit Blick auf Forderungen nach Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit‘ in der Türkei sagte Erdoğan am Mittwoch in Ankara: ,Ich sage es offen: Für uns haben diese Begriffe absolut keinen Wert mehr. Der, der im Kampf gegen den Terror auf unserer Seite steht, ist unser Freund. Der, der auf der anderen Seite steht, ist unser Feind.'“ berichtet das österreichische Fernsehen.
Andere Nachrichten, die gar nicht unmittelbar mit dem Gipfelgeschehen in Zusammenhang stehen, berichten von weiteren massiven Waffenexporten in den Nahen Osten und drum herum, allein die Türkei hat gerade für 5,9 Milliarden Waffensysteme in Auftrag gegeben. Angesichts derartiger Entwicklungen, angesichts einer ungerechten Weltwirtschaft und Wohlstandsverteilung, wird sich auch Europa real nicht auf weniger sondern auf mehr Flüchtlinge einstellen müssen. Derartige Lösungen, die nun mühsam als Durchbruch zelebriert werden, werden sich über kurz oder lang als untauglich erweisen. Wenn dann die Mitgliedstaaten keine ernsthaften Lösungen entwickelt haben, hat die EU ihr politisches Projekt, dass jetzt schon massiv beschädigt ist, womöglich beerdigt, die nationalstaatlichen Egoismen weiter wachsen lassen und eine historische Verantwortung für globale Gerechtigkeit verspielt. Setzen wir alles daran, dass eine derartige Entwicklung nicht die weitere Politik dominiert und dass Rechtspopulisten europaweit darauf ihre rassische braune Brühe kochen.
Türkei II – auf dem Weg zu Beitrittsverhandlungen: Vorm EU-Türkeigipfel nahm der Außenpolitische Ausschuss (AFET) kein Blatt vor den Mund
Der größte Ausschuss des Europäischen Parlaments hat sich am Dienstag, zwei Tage vor dem Regierungsgipfel in Brüssel, zum verspätet veröffentlichten Fortschrittsbericht zur Türkei 2015, den die Kommission erst nach den Wahlen im November veröffentlichte, positioniert. Der Entwurf einer Entschließung der niederländischen Sozialdemokratin, Kati Piri, wurde im Auswärtigen Ausschuss (AFET) abgestimmt und spricht – im Unterschied zu den Verhandlungen der Mitgliedstaaten mit der Türkei – ein deutliche Sprache.
Eine Pressemeldung, gemeinsam mit meiner Kollegin Sabine Lösing, zur Abstimmungen und eine detaillierte Übersicht zur Positionierung der Außenpolitikerinnen und Außenpolitiker sind hier zu finden.
Was sonst noch passierte:
Licht und Schatten im Instrumentenkasten der Regionalpolitik: ein Workshop
Der Regionalausschuss des Europäischen Parlaments (REGI) veranstaltete diese Woche einen Workshop zu Vereinfachungen von Instrumenten innerhalb der Kohäsionspolitik. Sowohl der digitale Wandel ist offenbar von Nutzen als auch vereinfachende Finanzinstrumentarien. „Einig waren sich viele Teilnehmer allerdings auch, dass eine Reihe anderer Faktoren sowohl die Antragstellung für als auch die Verwaltung von Strukturfondsmitteln verkompliziert.“ Details der intensiven Beschäftigung mit dieser beständigen Thematik sind hier zu finden.
Kulturausschuss, u. a. mit Anhörung zur Integration junger Flüchtlinge
Stärker als die soziale Herkunft und das Geschlecht, so ergab eine längere Debatte im Kulturausschuss, bestimmen Sprachkompetenzen über die Chancen der Integration junger Flüchtlinge. In sehr unterschiedlichen Beiträgen erzählten Lehrerinnen und Lehrer, SozialarbeiterInnen und Vertreterinnen integrativer Kunstprojekte im Kulturausschuss des Europäischen Parlaments von Licht und Schatten der Integrationsbemühungen zwischen Schule, Freizeit und Ankunftsbürokratie. Das A und O ist und bleibt der schnelle und intensive Spracherwerb, da erst dadurch auch schwierige Problemlagen bis hin zu unerkannten Traumata, gesundheitlichen und familiären Problemen schneller erkannt werden. Zum anderen fördert eine hohe Sprachkompetenz den Selbstausdruck und kann in positiver Weise dazu beitragen, kulturellen Austausch zu unterschiedlichen Lebenserfahrungen in Gang zu bringen. Manche Berichte der Praktikerinnen und Praktiker zeigten allerdings deutlich, dass sich viele gar keine Vorstellungen machen, was Menschen auf dem Wege nach Europa hinter sich haben, was ausbleibende politische Lösungen für legale Fluchtwege bisher schon für erschütternde Irritationen, Verunsicherung und instabile gesundheitliche Folgen gezeitigt haben. LehrerInnen, ErzieherInnen fühlen sich hier zum Teil von Behörden allein gelassen. Es fehlen regelrecht neue Berufsgruppen, die Jugendliche in umfassenden Sozial- und Lebensberatungen wirklich auffangen können.