Kommentar: Europa und die UNO
Ein Kommentar von Helmut Scholz (MdEP/DIE LINKE.) zum 70. Jahrestag der Weltorganisation, zu notwendigen Reformen und zum Verhältnis der EU zu den Vereinten Nationen
Das Europäische Parlament hat heute seinen Initiativbericht zur Rolle der EU in den Vereinten Nationen (UNO) abgestimmt – gedacht als eigenständiger Beitrag zur notwendigen Diskussion über die Rolle und Aufgaben der UNO, vielmehr aber noch zur Sicht des Europäischen Parlaments auf Herausforderungen der internationalen Sicherheit, des Kampfes um Frieden und Entwicklung, für eine aktive Verteidigung, Stärkung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, die notwendigen Reformen und die Rolle der EU hierzu.
Offiziell trägt der Initiativbericht – also ein „unaufgeforderter“ Entscheidungsvorschlag des Abgeordneten selbst – den Titel „Die Rolle der EU innerhalb der Vereinten Nationen: Wie können die außenpolitischen Ziele der EU besser verwirklicht werden?“ Abgesehen davon, dass ich es für äußerst problematisch halte, diese einzige universale internationale Organisation zur Durchsetzung der Interessen einer Staatengruppe zu instrumentalisieren, bleibt die Entschließungsvorlage des früheren finnischen Außenministers Väyrynen einen innovativen, zukunftsoffenen und verantwortungsvollen Beitrag zur notwendigen Reform der Organisation der Vereinten Nationen und des UNO-Systems insgesamt weitgehend schuldig.
Dabei wurde und wird vor dem Hintergrund des 70. Jahrestags der Weltorganisation am 24. Oktober über eine solche Reform breit diskutiert. Angesichts der anstehenden Weltklimakonferenz in Paris (COP 21), der sich verschärfenden internationalen und innerstaatlichen Konflikte und Kriege und den auch daraus folgenden Flüchtlingsbewegungen – wer will nicht in Frieden und mit Ausblick auf Arbeit und Bildung und damit Zukunftschancen leben -und nach der Milleniumsziele-Folgekonferenz im September in New York ist festzustellen: Tatsächlich werden die UN in vielen Bereichen der internationalen Beziehungen der ihr zugedachten Rolle nicht mehr gerecht. Die jüngsten Konflikte in Syrien und der Ukraine, die andauernden Auseinandersetzungen zwischen Israel und den Palästinensern, nicht zuletzt der Stillstand bei der Rüstungsbegrenzung und -reduzierung, insbesondere der nuklearen Abrüstung, sind nur einige Stichworte.
Dies ist allerdings nur eine Seite derselben Medaille: Die Ursachen für Konflikte sind heute vielfältiger denn je. Es geht um Wasser und Energieressourcen, um Klimaveränderungen, das Recht auf Nahrung, Wohnraum und bezahlbaren Zugang zu Energie und freie Information, es geht auch um religiöse wie soziale Spannungen, um das tiefe Nord-Süd-Gefälle und den Wettlauf um neue Einflusssphären, Absatzmärkte und Rohstoffquellen. Diesen Herausforderungen stellt sich die UNO als internationale, zwischenstaatliche und jeweiligen nationalen Interessen geleitete Organisation nicht im erforderlichen Maße oder mit nur teilweise effizienten Maßnahmen oder beschränken sich die Mitgliedstaaten auf die UNO-Spezialorganisationen ohne das Herstellen zwingender und politisch verpflichtender Kohärenz zur UN-Vollversammlung und dem Sicherheitsrat.
Um die Frage jedoch, wie die EU und die 28 Mitgliedstaaten konkret und innovativ zur Reform der Weltorganisation beitragen können, kommt auch das Europäische Parlament nicht herum. Allerdings sind die Ansätze im Väyrynen-Bericht, der nicht nur im Auswärtigen, sondern auch in anderen Parlamentsausschüssen debattiert wurde, eher dürftig, ja teilweise kontraproduktiv. Und zugleich bleiben auch zentrale, zugegebenermaßen komplizierte und widersprüchliche Interessenlage, die es zu meistern gilt, unausgesprochen: Inwieweit sind die Nationalstaaten und alle ihre politischen und sozialen und wirtschaftlichen Akteure real bereit, zur globalen governance beizutragen, sich Herausforderungen so zu stellen, dass sie gegebene Verhältnisse und politische Macht hinterfragen und demokratische Teilhabe an wichtigen außenpolitischen Entscheidungen ermöglichen.
Mein Büro hat zahlreiche Änderungsvorschläge zum Väyrynen-Bericht eingebracht. Dazu nur einige wenige Beispiele. Wenn der Liberale Paavo Väyrynen fordert, die Vereinten Nationen “langfristig durch die Einsetzung eines Weltparlaments, das die Völker vertritt”, zu stärken, ist dies nicht nur unrealistisch, sondern unterhöhlt die Kompetenz der UNO und ihrer Vollversammlung. Meine Position, dargelegt in einem solchen Änderungsantrag, besteht darin, eine UN-Reformagenda zu unterstützen, “welche neben den bisherigen Bestrebungen zur Verbesserung der UN-Arbeitsmethoden zukünftig verstärkt darauf zielen sollte, die bestehenden Strukturen durch umfassendere Kontroll- und Entscheidungskompetenzen der Generalversammlung gegenüber dem Sicherheitsrat grundlegend zu demokratisieren.“ Dazu gehört auch, “den bestehenden Multilateralismus durch eine erhöhte Repräsentativität vor allem afrikanischer und lateinamerikanischer Staaten im Sicherheitsrat zu stärken sowie die Rolle der bestehenden Regionalorganisationen, der Nebenorgane sowie der Organe mit Sonderstatus bei der Erbringung eigenständiger spezifischer Beiträge zur Verwirklichung der Ziele der Charta der VN politisch und finanziell deutlich zu stärken.“
Auch bei der Vertretung der EU im Sicherheitsrat bleibt der Väyrynen-Bericht hinter Notwendigkeiten zurück. So fordert der Vorschlag zwar von den beiden Ständigen (Frankreich und Großbritannien) und den rotierenden europäischen Mitgliedern des Sicherheitsrats, die auf einer abgestimmten Gemeinsamen Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik basierenden Interessen wiederzugeben, zu vertreten und zu verteidigen. Für mich ist dies zu kurz gesprungen. Ich halte vielmehr die Reform des Sicherheitsrats in eine Richtung für wichtig und richtig, durch die die EU “im Austausch gegen die beiden bisherigen ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates Frankreich und Großbritannien einen ständigen Sitz erhalten würde.” Ebenso bin ich der Meinung, dass das Kernelement der Reform des Sicherheitsrates die Stärkung des Konsensprinzips sein sollte, was nicht mit einer Abschaffung des Veto-Rechts vereinbar wäre, sondern vielmehr auf dessen Ausweitung auf alle Mitglieder des Sicherheitsrates sowie die Übertragung finaler Entscheidungskompetenzen bei bestimmten Veto-Fällen – wie den Einsatz von Blauhelmen – auf die Generalversammlung orientieren sollte.
Und noch ein letztes Beispiel: Väyrynen spricht sich in seinem Bericht – zu Recht – für die Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Dimension des UN-Systems aus. Die von ihm angeregte Einsetzung eines Rates für nachhaltige Entwicklung als wichtigstes für die Entscheidungen zuständiges Organ für alle Angelegenheiten in Verbindung mit nachhaltiger Entwicklung, würde praktisch jedoch den Wirtschafts- und Sozialrat der UNO (ECOSOC) die Verantwortung entziehen. Aber: Ein reformierter ECOSOC sollte das zuständige Hauptorgan dafür bleiben und u.a. die Arbeit so wichtiger UN-Sonderorganisationen wie das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP), den Weltbevölkerungsfonds (UNFPA), den Hochkommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR), das Weltkinderhilfswerk (UNICEF) sowie weiterer funktionaler und regionaler Komitees koordinieren.
Dies sind nur einige Ansätze (Änderungsanträge unter www.helmutscholz.eu).
Klar ist: Ein Idealrezept für die Reformierung der UNO gibt es nicht. Daher sind Ideen und Diskussionen wichtig. Auch die Linke – in Europa und in Deutschland – kann sich den laufenden Debatten nicht entziehen. Im Gegenteil: Wer könnte sich aktiver und konstruktiver in diesen Prozess einbringen als politische Kräfte, die die Gründungsziele der Vereinten Nationen nachdrücklich unterstützen?