Revolutionsbedingte Generalüberholung
Zur Neuausrichtung der Nachbarschaftspolitik.
Die revolutionären Umbrüche im arabischen Raum wurden anfangs vorrangig als Bedrohung wahrgenommen, schnell wurde jedoch überlegt, wie aus der veränderten Situation – wortwörtlich – Kapital geschlagen werden könnte: Lag das unmittelbare Interesse der EU in der Region in einer aggressiven Abschottungspolitik und der Sicherstellung von Rohstoffquellen, so will man nun verstärkt die Handels- und Investitionsbeziehungen vorantreiben.
Aus Sicht der EU-Eliten stellt die kontinuierliche Erweiterung der eigenen Einflusssphäre eine notwendige Bedingung dar, um im Ringen der Großmächte bestehen zu können. Nach den zwei großen Erweiterungsrunden (2004, 2007) beschloss man eine »Expansion ohne Erweiterung« – die Europäische Nachbarschaftspolitik (kurz: ENP). Vorrangiges Ziel der ENP ist die Schaffung einer »Großeuropäischen Wirtschaftszone«, indem die angrenzenden Länder zum Abbau von Handelshemmnissen und zur Übernahme des EU-Rechtsbestands »ermutigt« werden. Besonders zu kritisieren ist, dass zum Teil menschenverachtende Rückführungsabkommen von Flüchtlingen festgeschrieben werden. Die Mitspracherechte der Anrainerstaaten sind, vorsichtig formuliert, begrenzt. Der imperiale Charakter der ENP ist nicht zu übersehen.
Nur wenige Wochen (!) nach Ausbruch der Proteste kam es zur revolutionsbedingten Generalüberholung der ENP. Sicherheitspolitischen Fragen, insbesondere der Migrationsabwehr, komme zwar weiter eine hohe Bedeutung zu, die wirtschaftliche Zusammenarbeit müsse aber nun gezielter vorangetrieben werden, so der Tenor. Auch wenn der Fokus auf wirtschaftlicher »Zusammenarbeit« liegt, die Abschottung Europas mit Rückführungsabkommen von Migranten wird weiter vorangetrieben. Anstatt aber einseitig den südlichen Anrainern Zugang zum Binnenmarkt zu gewähren und so ihre wirtschaftlichen Perspektiven zu verbessern, versucht die EU mit einer Art Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik die aus ihrer Sicht wünschenswerten Ergebnisse zu erzielen. So wurde der »leistungsbezogene Ansatz« eingeführt: Gelder sollen künftig deutlich stärker nach dem Prinzip von Belohnung (mehr Geld) und Bestrafung (u. a. Sanktionen) vergeben werden. Ich möchte mich ausdrücklich gegen diese Form der ENP aussprechen: von Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und Mobilität reden, in imperialer Art und Weise Neoliberalismus diktieren und eine menschenunwürdige Abschottungspolitik betreiben – das ist beschämend.