Martinas Woche 49_2023: Rückschau 2023 beginnt mit Blick auf die Europawahl 2024
Regional- und Nachbarschaftspolitik – Europawahl – Plenum – Pisa, Bildung und Migration
Die Abgeordneten und Mitarbeiter*innen sind unterwegs nach Straßburg, schauen bereits auf das letzte Jahr zurück und sind mitten in den Planungen für das erste Halbjahr 2024, das mit der Europawahl im Juni ein ganz besonderes wird. Da platzt die erste Pisa-Studie nach der Pandemie ins Haus. Eurotopics fast kurz zusammen: „Getestet wurden rund 690.000 Lernende im Alter von 15 oder 16 Jahren aus 81 Staaten. Gegenüber früheren Erhebungen haben die Leistungen in den meisten Ländern abgenommen. Die obersten Plätze belegen fast durchweg ostasiatische Staaten. Europas Presse fordert Nachsitzen für die Verantwortlichen in Sachen Bildungspolitik.“ Und dabei tut sich die Europäische Politik unendlich schwer, den selbstverordneten Europäischen Bildungsraum, der bis 2025 geschaffen werden soll, mit handfesten und nachweisbaren Fortschritten zu messen. Die Kompetenz für die Bildung liegt ohnehin bei den Mitgliedsstaaten, doch Bildung als Lernrefugium für demokratischen Dialog, für europäische und globale Geschichte, für das Erwerben von Kompetenzen im Umgang mit weltweit wachsenden digitalen Technologien und auch als Ort gelebter Inklusion ist noch immer so etwas wie ein unerreichbar scheinendes Ideal.
Pisa Studie 2023: Bildung und Migration
Deutschland hat nicht nur allgemein keine berauschenden Noten in der Qualität der allgemeinen Bildung, der Inklusion und Bildungerechtigkeit. In dieser Woche der Pisa-Auswertungen macht das Handelsblatt darauf aufmerksam, wo Deutschland ganz besondere Schwächen aufweist: „Länder wie Italien, die Türkei und Portugal haben es geschafft, sich bei Pisa kontinuierlich zu verbessern, obwohl die Migration aus politischen und ökonomischen Gründen weltweit explodiert ist. Wir nicht. Die Ursachen sind fehlende Sprachförderung, fehlende gezielte Betreuung von Migranten, aber auch von schwachen deutschen Schülern, und fehlende Kita-Plätze. … Unser System hat bereits 20 Prozent Schulversager ‚produziert‘, die nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können, als der Migrantenanteil noch bei einem Zehntel lag.“ Auch wenn die EU hier wenig „Vorgaben“ machen kann, so zeigen derartige Befunde umso mehr, dass es mit dem durchaus auch sozial orientierten Flaggschiff Erasmus+, den Programmen zur Digitalen Bildung und anderen EU-Programm-Angeboten längst nicht getan ist, eklatante Fehlsteuerungen in der Bildungspolitik der Mitgliedsstaaten aufzuhalten. Dass Bildungspolitik auch Migrationspolitik und – wie im Falle Deutschland besonders sichtbar – Politik für ein modernes Familienleben mit guten vorschulischen Angeboten und bester Kinderbetreuung ist, sollte in Bildungsgipfeln den Mitgliedstaaten schon auferlegt werden. Am Mittwoch wird die spanische Ratspräsidentschaft abgerechnet und wir sind gespannt, wieviel Aufmerksamkeit der Bildung dann eingeräumt wird, denn diese ist am Ende auch ein Schlüssel, um die Krisenbewältigung in unseren Gesellschaften wirklich nachhaltig zu stemmen.
Das letzte Plenum 2023 in Straßburg: Plenarfokus unserer Delegation
Was erwartete uns noch in der kommenden Woche in Straßburg? Der letzte große Regierungsgipfel, bei dem auch die Migrationspolitik erneut auf der Tagesordnung steht, tagt beinahe gleichzeitig zum letzten Plenum des Parlaments und wird entsprechend debattiert. Zugleich, wie wir schon angesichts der Problemlagen in der Europäische Bildungspolitik vermerkt haben, wird am Mittwoch der Rückblick auf die spanische Ratspräsidentschaft die Vormittagsdebatte mitbestimmen. Martin Schirdewan schreibt dazu vorab in unserem Plenarfokus:
„Alle, bis auf den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz und seinen Finanzminister Christian Lindner, wissen, dass es zu wenig Investitionen in der EU gibt. Dennoch wollen sie weiter sparen und legen sich damit selber Handschellen an, wenn sie soziale Ungleichheit, Wirtschaftsflaute oder den Klimawandel angehen wollen. Die EU benötigt Investitionen. Wer das mit Sparen bekämpfen will, ist entweder dumm oder will die Probleme gar nicht angehen.“
Auch deshalb wird diese Debatte ganz sicher von der europäischen Finanz- und Haushaltspolitik geprägt sein, um einerseits zu klären, ob die Krisenmechanismen angesichts der Pandemie und der Energiekrise greifen, und um andererseits zu prüfen, ob die europäischen Volkswirtschaften und die sozialen Spannungen in den Gesellschaften so angepackt werden, dass sie die großen globalen Herausforderungen wie Klimawandel, Migration und Digitalisierung tatsächlich bewältigen. Das Auseinanderdriften in der Reichtumsverteilung in unseren Gesellschaften, Demokratieabbau und die vielen Baustellen beim Klimawandel und der Migration nützen derzeit vor allem extrem rechten Parteien, die mit untauglichen Lösungsangeboten, basierend auf Abschottung und Rassismus, der Leugnung des Klimawandels und mit Frauenbildern aus den 50ern Sicherheitsbedürfnisse bedienen. Offensichtlich sind die Angebote der gesellschaftlichen Linken nicht laut und verständlich genug, obwohl sie an viele gute Ideen der Bürgerinnen und Bürger anknüpfen können, wie die Ergebnisse der Europäischen Zukunftskonferenz gezeigt haben.
Das Plenum des Europaparlaments könnt ihr wie immer live verfolgen und ihr findet hier auch alle Plenardebatten auf einen Blick.
Fraktionssitzung und Bericht des Parlaments: Europawahl 2024
Am Dienstag der kommenden Woche wird auch ein Bericht „Europawahl 2024“ abgestimmt, in dem das Parlament noch einmal den Versuch unternimmt, dem Rat eine Reform des Wahlrechts abzuringen. Helmut Scholz, der seit Jahren intensiv an diesen verfassungsrechtlichen Fragen arbeitet, hält in unserem Plenarfokus fest:
„Dieser Bericht ist der neueste Ansatz des Europäischen Parlaments, den Rat noch in dieser EU-Wahlperiode zu einer Überarbeitung des Wahlrechts zu bewegen. Der letzte Vorschlag des EP zur Reform des EU-Wahlrechts sah u. a. die Schaffung eines EU-weiten Wahlkreises (transnationale Listen), eine Reform des Spitzenkandidatenverfahrens für die Wahl des Kommissionspräsidenten, der Kommissionspräsidentin sowie einen einheitlichen europäischen Wahltag vor. Dieser wird nach wie vor vom Rat blockiert – nicht zuletzt wegen dieser innovativen Forderungen. Im Wesentlichen greift der jetzige Bericht die bekannten Forderungen auf. Aber er vertieft den Vorschlag nach Durchsetzung des Spitzenkandidatensystems und verpflichtet das EP selbst, hier eine belastbare und kompetente Rolle zu spielen. Auch weiterhin wäre eine Reform und echte Europäisierung des Wahlrechts zu begrüßen – das Parlament bleibt daher bei seiner grundsätzlichen Richtung: Der Rat muss endlich liefern!“
In der vergangenen Woche hatte unsere Fraktion The Left am Mittwoch die Co-Präsidentin von Transform! europe, Cornelia Hildebrandt, zu einem soziologischen Ausblick auf die Europawahlen eingeladen. Sie erläuterte, warum in der linken Politikentwicklung ein Blick auf die Eurobarometer durchaus hilfreich sein können. Extrem interessant waren ihre Ausführungen darüber, was Bürgerinnen und Bürger über Europapolitik denken. Da gibt es für Linke durchaus einige Überraschungen. Die derzeitige EU-Sicherheitspolitik und den internationalen Handel finden zum Beispiel 70-80 Prozent aller EU-Bürgerinnen gut. Wollen wir also Menschen von anderen Entwicklungsrichtungen, insbesondere Richtung Abrüstung und mehr global gerechtem Handel überzeugen, dann müssen unsere Angebote realistisch, konkret und durchsetzbar sein. Die Arbeiterklasse, Rentner*innen und Angehörige der unteren Mittelschicht sind die skeptischsten gegenüber europäischer Politik. Erschreckend für uns: Über 80 Prozent aller Menschen finden z. B. Frontex gut. Nur junge Menschen zeigen hier widerständigere Einstellungen und lehnen immerhin zu 28 Prozent die Grenzschutzagentur und deren Agieren ab. Klar ist schon jetzt: Migration wird eines der bestimmenden Themen im kommenden Wahlkampf sein. Und Lebenshaltungskosten sind – auch wenn sie nicht in jedem Eurobarometer gleichgewichtet sind – längerfristig weiter das brennende Thema (nach der Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und der Energiekrise). Interessant ist ebenso, dass der Klimawandel von vielen Bürgerinnen und Bürgern durchaus als entscheidende Herausforderung verstanden wird. Letztlich kann man daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass eine sozial-ökologische Transformation, ganz konkret mit Lösungsansätzen für humane Asyl- und Migrationspolitik, ein gutes Profil für linke Europapolitik ist. Genau darüber wollen wir mit Bürgerinnen und Bürgern ins Gespräch kommen.
EU und östliche Nachbarschaftspolitik aus regionalpolitischer Sicht
„184 Regionen, 33 Länder und 260 Millionen Einwohner liegen im Einzugsgebiet der EU-Kooperationsprogramme mit unseren Nachbarregionen. In den Beziehungen zu den Nachbarländern sollen die Werte der Union vermittelt und enge und friedliche Beziehungen und sowie Umweltschutz vorangebracht werden.“
So fassen Martina Michels, MEP, und Nora Schüttpelz in ihren REGI-News unter anderem den großen Rahmen eines Berichts zusammen, der in der vergangenen Woche im Ausschuss abgestimmt wurde und im Plenum in dieser Woche auf der Tagesordnung stehen wird. Ein erheblicher Teil widmet sich, neben der weiterhin ausstehenden Mittelmeerstrategie, insbesondere dem Ausbau der östlichen Nachbarschaft, bei der sich die Kooperation nach dem nicht enden wollenden Krieg Russlands in der Ukraine, erheblich verändert der hat.
„Als Reaktion auf den russischen Krieg gegen die Ukraine wurde seitens der EU die grenzüberschreitende Zusammenarbeit mit Russland und Weißrussland ausgesetzt und Gelder daraus wurden in die Kooperation mit der Ukraine und Moldawien umgeleitet. Der vorliegende Bericht fordert, im Rahmen der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit nun auch an der kollektiven Verteidigung zu arbeite sowie die Verkehrsinfrastruktur, insbesondere Eisenbahnverbindungen und Lagereinrichtungen in der Nähe der Grenzen zur Ukraine und Moldawien auszubauen, um den Waren- und Getreidefluss zu rationalisieren. Zudem sei es wichtig, den Einsatz erneuerbarer Energien zu unterstützen und die Energieeffizienz zu stärken, um die Abhängigkeit von Russland zu verringern. Gefordert wird auch eine verstärkte Zusammenarbeit im Bildungs- und Kulturbereich. Für die Schwarzmeerregion will der Ausschuss ebenfalls eine verstärkte Sicherheitskooperation mit Schwerpunkt auf Schwarzmeerhäfen und der damit verbundenen Infrastruktur, einschließlich Modernisierung, Erweiterung und Anschluss an bestehende Verkehrsknotenpunkte, insbesondere TEN-T-Korridore. Zudem wird das ungenutzte Potenzial dieser Region für nachhaltige Energien betont.“
Cornelia Hildebrandt in der Fraktonssitzung von The Left, 6.12.2023Datei