Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 108, 07. Juli 2023

Sperrklausel für die Europawahlen 2024, Rechtsstaatlichkeit in Polen, „Passerelle“-Klauseln, Renaturierungsgesetz, European Chips Act

Liebe Leser*innen,

ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf einen Vorgang eingehen, der schon ein paar Tage zurückliegt: Nach der Wahlniederlage der linken Partei Syriza bei den griechischen Parlamentswahlen vor zwei Wochen hat Parteichef Alexis Tsipras seinen Rückzug vom Parteivorsitz angekündigt.

Sein Rücktritt nötigt Respekt ab – auch wenn er zu erwarten war. Und sicherlich wird die griechische Linkspartei gründlich die Ursachen analysieren müssen. Aber zweifellos bedrücken diese Konsequenz und noch mehr die aktuelle Entwicklung in Griechenland. Denn es waren Syriza und ihr von 2015 bis 2019 amtierender Ministerpräsident Alexis Tsipras, die das Land durch die damalige verheerende Finanzkrise führten, die durch das unverantwortliche Handeln der Vorgängerregierungen entstanden war. Es war Tsipras, der den neoliberalen Spardiktaten der sogenannten Troika – also Europäischer Zentralbank, Internationaler Währungsfonds und EU-Kommission – die Stirn bot. Die den Mut besaßen, in dieser Situation ein Referendum über die europäische Perspektive Griechenlands abzuhalten und der dann eine Politik entwickelte, um die griechische Bevölkerung soweit wie möglich vor den Konsequenzen der Spardiktate zu schützen, wenngleich die Schritte, zu denen die Syriza-Regierung gezwungen war, schmerzhaft waren. Und in diesem Überlebenskampf hatten viele Menschen soziale Opfer zu zahlen, was hierzulande oft vergessen oder ausgeblendet wird, wenn es um die Entscheidung und Ausarbeitung einer wirklich gemeinschaftlich zu treffenden und umzusetzenden Politik der EU geht. Unvergessen ist das „Oxi“, das Nein der Griech*innen zur Politik der Er- und Auspressung Griechenlands. Dass nun die konservative Nea Dimokratia von der Politik Syrizas profitiert, ist bitter. Bitter ist auch, dass die verschiedenen Linksparteien sich nicht nur nicht zusammenfinden konnten, sondern unversöhnlich gegeneinander antraten. Und noch eines ist bedenkenswert:  keine der im Wahlkampf agierenden Parteien hatte die große Zukunftsfrage auch für Griechenland wirklich tiefschürfend thematisiert: die Klimakatastrophe. Auch wir sind gefordert, uns gemeinsam in der Partei der Europäischen Linken zu den Wahlen und den daraus zu ziehenden Lehren zu verständigen. Denn wie ich unseren griechischen Genoss*innen mitgeteilt habe: Wir werden weiterhin für ein soziales und demokratisches Europa kämpfen!

Dazu gehört aktuell sicherlich, sich gemeinsam vorzubereiten, um mit einer starken Linksfraktion bei den Europawahlen im Juni 2024 ins EU-Parlament einzuziehen. Und es sei ganz klar ausgesprochen: vom 6.-9. Juni 2024, dem Wahltermin für die Wahlen zum Europäischen Parlament in 337 Tagen, wird von seinem Ausgang abhängen, wer künftig die Gesetze in der EU machen wird. In diesem Wettbewerb muss es uns als linken Parteien in der EU gelingen, mit überzeugenden und klaren Perspektiven solche konkreten Antwortvorschläge vorzulegen, die mehr Menschen als bislang davon überzeugen, dass diese zu konstruktiven Veränderungen ihres Lebensalltags entscheidend beitragen würden. Und die deshalb ihr Votum einer demokratischen, progressiven, kohärenten und inklusiven Politik geben. Welche Anstrengungen dazu von den europäischen Linksparteien und von der deutschen LINKEN unternommen werden, habe ich an dieser Stelle bereits mehrfach berichtet. Der Zeitplan ist dabei für uns ganz klar: Der Europa-Parteitag der Partei DIE LINKE im November 2023 in Augsburg wird das Europawahlprogramm beschließen. Bis dahin gilt es ohne Wenn und Aber eine breite aktive Debatte um unsere Vorschläge zu organisieren: für eine zukunftsoffene wie -feste, sowie für eine solidarische, friedliche, faire und gerechte Entwicklung der Welt, die Menschen- und Umweltrechte in den Mittelpunkt stellt. Sicherlich innerhalb der Partei, aber nicht weniger wichtig im aktiven Dialog mit allen daran interessierten Menschen in unserem Land, mit Gewerkschaften und vielen aktiven Bürger*inneninitiativen, die wissen, wo vor Ort der Schuh drückt.

Auch der Bundesrat hat am Freitag einen wichtigen Beschluss gefasst: Die vom Bundestag bereits Mitte Juni beschlossene Einführung einer Zwei-Prozent-Sperrklausel für die Europawahlen wurde gebilligt. Im Gegensatz zu Bundestagswahlen gibt es in Deutschland derzeit keine Sperrklausel für die Europawahlen. Allerdings verlangt das von Rat und Parlament der EU beschlossene Europawahlgesetz von 2018 die Einführung von solchen Klauseln von mindestens zwei und maximal fünf Prozent. Damals gerade von der CDU/CSU in der EVP, aber auch anderen Fraktionen im Parlament vorangetrieben, mit Blick auf den Schiedsspruch des Bundesverfassungsgerichts nach einer EU-weit geltenden Verordnung gleiche Bedingungen in der EU zu schaffen, die ausgerichtet sind auf die (Wieder)Einführung einer Sperrklausel auch für Deutschland.

Ich halte solche Sperrklauseln für undemokratisch. Nicht, weil ich unkritisch gegenüber Positionen bin, die mitunter auch von Klein- und Kleinstparteien vertreten werden. Aber derartige Ausschlusskriterien verzerren den Willen der Wähler*innen und die demokratische Meinungsbildung auf europäischer Ebene. Ich sehe sie eher als Instrument der großen Parteien, sich „unliebsame Konkurrenz“ vom Leibe zu halten.

Von Berlin nach Strasbourg: In der Plenarsitzung des Europaparlaments kommende Woche stehen gleich eine ganze Reihe wichtiger Punkte auf der Tagesordnung. So wird es eine Debatte zur Rechtsstaatlichkeit in Polen geben. Vor der dortigen Wahl im Herbst hat die EU-Kommission dem Land gravierende Mängel im Kampf gegen die Korruption bescheinigt. Die Regierung in Warschau habe „keine Initiativen“ ergriffen, um gegen „Korruption auf höchster Ebene“ vorzugehen, heißt es in dem am Mittwoch in Brüssel veröffentlichten Rechtsstaats-Bericht der Kommission. Insbesondere kritisiert die Kommission die „weitreichende Immunität von Spitzenbeamten“ und neue „Straffreiheits-Klauseln in der Gesetzgebung“. Zudem gebe es seit 2020 kein Anti-Korruptions-Programm mehr in dem Land. Ich bin überzeugt, dass wir als Parlamentarier*innen dazu klar Stellung beziehen und nicht zulassen werden, dass durch die Regierung in Warschau abermals europäische Werte und Verträge verletzt werden.

Auch das Thema „Befristete Maßnahmen zur Liberalisierung des Handels in Ergänzung der Handelszugeständnisse für moldauische Waren“ wird das Parlament ein weiteres Mal beschäftigen. Hinter dem sperrigen Titel verbergen sich Unterstützungsmaßnahmen für das osteuropäische Land, das angesichts einer komplizierten innenpolitischen Lage und der russischen Aggression in der benachbarten Ukraine vor großen Problemen, insbesondere auch in sozialer Hinsicht, steht. Darüber konnte ich mir bei einem Besuch im Frühjahr persönlich ein Bild machen. Die wirtschaftliche und soziale Situation ist für viele Menschen mehr als prekär in einem der ärmsten Länder, das zudem zu fast 100 Prozent von Stromimporten und Gasversorgung aus dem Ausland abhängig ist. Gegenwärtig findet ein Umbau der traditionell auf die Russische Föderation ausgerichteten Wirtschaft statt. Dazu braucht es die Hilfe aus der EU – ebenso wie Überwindung der oligarchischen Strukturen, die Moldau so lange gesellschaftlich gespalten und destabilisiert haben. Der von der EU gewährte Beitrittskandidaten-Status verlangt zudem eine Reform des Justizwesens, eine Verbesserung der sozialen Situation der Menschen gerade in den ländlichen Regionen sowie die Herstellung demokratischer Verhältnisse, einschließlich der Pressefreiheit. Es gibt noch viel zu tun, für Moldau und die EU.

Nicht zuletzt wird es natürlich auch eine Aussprache zu den Ergebnissen des Europäischen Rats in der vergangenen Woche geben. Sicher wird sich die Kommission für ihr Handeln und die Beschlüsse des EU-Spitzengremiums loben. Da haben wir als Linke allerdings eine ganz andere Meinung: So wurden bei der Asyl- und Migrationspolitik die Weichen in Richtung eines noch stärkeren Ausbaus der „Festung Europa“ gestellt, was die Lage von Menschen auf der Flucht vor Armut, Hunger und Krieg weiter verschärfen wird. Und gerade auch zu der beschlossenen „Strategie“ gegenüber Peking habe ich als Mitglied in der China-Delegation des Europäischen Parlaments heftige Kritik. Denn der offensichtliche Rückzug ins transatlantische Schneckenhaus ist die falsche Antwort auf den Ukraine-Krieg und für das künftige Verhältnis zu China. Das Land ist derzeit die einzige Kraft, die die russische Führung zur Vernunft bringen könnte. Ich halte es deshalb für fatal, die Taue zur Volksrepublik zu kappen und so die Fehler des kalten Krieges zu wiederholen. Nicht zuletzt auch angesichts solcher Herausforderungen wie der Klimakatastrophe und der Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele. Die gemeinsamen Probleme können wir auch nur gemeinsam lösen.

Zu diskutieren wird auch sein, wie die beschlossene Fortsetzung der solidarischen Unterstützung der Ukraine, wiederum leider vornehmlich auf die militärische Dimension ausgerichtet, nun mit der Lieferung von Streubomben durch die USA, die international auch von den EU-Mitgliedstaaten, geächtet sind, jetzt gestaltet werden wird. Es bleibt die Frage: was kann und wird die EU unternehmen, um alle politisch-diplomatischen Kanäle zu nutzen, um der weiteren Eskalation der Aggression und des Krieges ein Ende zu setzen.

Was nächste Woche noch an wichtigen Themen auf der Tagesordnung des Parlaments steht, können Sie wie stets unten lesen.

 

Ihr

Helmut Scholz

 

Lesen Sie die gesamte Ausgabe des Newsletters vom 07. Juli 2023 auf der Website von Helmut Scholz. 

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