Verringerung der Ungleichheiten mit besonderem Augenmerk auf der Erwerbstätigenarmut

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die EU, ein Ort des Wohlstandes, heißt es immer. Ja, die EU zählt zu den reichsten Regionen dieser Welt. Ein unglaublicher Reichtum häuft sich hier. Gleichzeitig ist aber jeder fünfte Europäer, also 95 Millionen Menschen, von Armut bedroht. Altersarmut, Kinderarmut und arm trotz Arbeit gehören zur bitteren Realität für Millionen Menschen. Knapp 6 % der EU-Bevölkerung sind von extremer materieller Armut betroffen.

Dabei gab es das Versprechen, bis 2020 die Zahl der von Armut betroffenen Menschen um 20 Millionen zu reduzieren. Dieses Ziel der EU wurde verfehlt. Ungleichheiten in der EU – in und zwischen den Mitgliedstaaten – haben sich ausgeweitet. Dabei sind die sozialen Folgen der Corona-Pandemie noch nicht vollständig erfasst. Bereits jetzt ist klar: Die Schere zwischen Arm und Reich wird weiter auseinanderdriften.

Allein deshalb besteht dringender Handlungsbedarf, und zwar nicht erst morgen, sondern eigentlich schon gestern. Wir brauchen europaweite Mindeststandards, starke soziale Sicherungssysteme in den Mitgliedstaaten. Wir brauchen Löhne und Renten, die ein Leben in Würde garantieren. Während noch vor wenigen Jahren der Generaldirektor der Internationalen Arbeitsorganisation sagte: „Arbeit ist das beste Mittel gegen Armut“, trifft dies längst nicht für alle zu. Man stelle sich vor: Jeder zehnte Erwerbstätige in der EU lebt trotz Arbeit in einem von Armut betroffenen Haushalt. Laut offizieller Definition ist man von relativer Armut bedroht, wenn man gerade einmal 60 % des Medianlohns verdient. In kaum einem Mitgliedstaat aber, in dem es gesetzliche Mindestlöhne gibt, liegen diese oberhalb dieser Armutsschwelle. Aber wer arbeitet, darf nicht von Armut bedroht sein. Wer arbeitet, muss ein Leben in Würde führen können. Letztlich sind es doch die arbeitenden Menschen, die überhaupt die Reichtümer schaffen. Auch deshalb braucht es eine klare und ambitionierte Mindestlohninitiative. Was hat man davon, wenn es gesetzliche Mindestlöhne gibt, aber diese nicht einmal vor Armut schützen?

Wohnungslosigkeit steigt, prekäre Beschäftigung steigt, Befristung und unfreiwillige Teilzeit steigen. Mit Gig- und Plattformarbeit, Ausgliederungen, Schein- und Soloselbstständigkeit, Subunternehmerketten, Privatisierungen und Liberalisierungen wurde ein Lohnunterbietungswettbewerb befeuert – und das europaweit. So schwächt man auch Gewerkschaften und erodiert Tarifvertragssysteme. Die schrumpfende Tarifabdeckung wiederum führt zu einer Absenkung des gesamten Lohnniveaus für alle Arbeiterinnen und Arbeiter.

In 14 Mitgliedstaaten der EU arbeitet jeder zweite Erwerbstätige ohne einen Tarifvertrag. Das bedeutet in der Regel schlechte Löhne, schlechtere Arbeitsbedingungen und weniger Arbeitsplatzsicherheit. Wir haben es doch gerade jetzt in der Krise gesehen: Leiharbeiter, Minijobber, befristete Beschäftigte, Arbeitnehmer mit einem Werkvertrag oder Honorarvertrag waren die ersten, die über die Klippe springen mussten. Sie haben schon ihre Arbeitsplätze verloren.

Doch müsste nicht klar sein, dass es soziale Konditionalitäten in der Europäischen Union gibt? Große Unternehmen, Konzerne werden in der Krise mit Milliarden Euros gerettet und entlassen trotzdem Beschäftigte. Das kann doch nicht angehen! Mitarbeiter werden entlassen und gleichzeitig werden Dividenden an Aktionäre ausgeschüttet. Das kann doch nicht angehen! Es liegt auf der Hand: Die Krise der einen ist der Profit der anderen. Während 75 % der Europäerinnen und Europäer angeben, dass sie sich in einer schlechteren ökonomischen Lage befinden als vor der Corona-Krise, zeigt die brandneue Oxfam-Studie, dass die reichsten zehn Menschen auf dieser Welt allein während der Pandemie 500 Milliarden EUR Vermögen angehäuft haben, ihr Vermögen vergrößert haben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit meinem Bericht liegen Ihnen nun zu diesem Thema und weiteren Themen 73 recitals und 112 Ziffern zur Abstimmung vor. Auch weitere konkrete Maßnahmen sind hier eingeflossen. So fordern wir eine Europäische Sozialversicherungsnummer, den Zugang zu Betrieben für Gewerkschaften, den besonderen Schutz vor Diskriminierung und Benachteiligung am Arbeitsplatz oder die schrittweise Abschaffung von Zero-hour-Verträgen. Wir fordern Initiativen für ein Mindesteinkommen, eine Kinder-Garantie und eine ambitionierte Mindestlohninitiative. Soziale Belange dürfen nicht mehr den Grundfreiheiten des Marktes, die in den EU-Verträgen verankert sind, untergeordnet werden.

Herr Kommissar Schmit, liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist höchste Zeit zum Handeln – für ein Leben frei von Armut und in Würde für alle Menschen, gegen prekäre Beschäftigung, für gute Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit in den Mitgliedstaaten und in Europa.

Ich danke für die engagierte Zusammenarbeit mit den Schattenberichterstatterinnen und Schattenberichterstattern in den Fraktionen und freue mich auf die Beratungen mit Ihnen heute.