Pandemie und Mannicken Pis in Brüssel
Pandemie und Mannicken Pis in Brüssel

Regierungsgipfel in Brüssel – Sondersitzung des Europaparlaments – Kulturpolitik – Literatur-Tipps

Irgendwann musste der Regierungsgipfel enden. Dass er 5 Tage dauern würde und durch den Nachschlaf der Brüsselerinnen und Brüssler das ganze vergangenen Wochenende lang Hubschrauber kreisten, verstärkte nicht nur die Spannung auf das Gipfelergebnis. Seit Mai 2020 konnten sich die Regierungschefs auf keinen Modus der Corona-Hilfen einigen, die sie zugleich an Grundpfeiler des mehrjährigen Haushaltsrahmens für die kommenden 7 Jahre knüpfen wollten. Dieser sogenannte Mehrjährige Finanzrahmen 2021-2027 (MFR, engl. MFF) wurde schon 2018 von der Kommission im Entwurf vorgestellt und viele Einzelprogramme wurden während der finnischen Ratspräsidentschaft (bis Ende 2019) mit riesigen Elan zwischen dem Rat, der Kommission und dem Parlament ausgehandelt, oft noch ohne finale Ergebnisse.

Dann kam die Corona-Pandemie. Sie hat nicht nur das Aufgabenspektrum der deutschen Ratspräsdentschaft (Juli 2020 – Dezember 2020) gründlich erweitert, als ob es mit Einigungen zu diesem Mehrjährigen Finanzplan, dem Brexit u. v. a. nicht schon genug Baustellen gab. Alle EU-Institutionen standen vor gänzlich anderen Herausforderungen, in denen sie zugleich mit jeder Faser beweisen müssten, dass europäische Politik in solch einem erschütterndem Krisenmodus sich selbst auf den Prüfstand stellt und am Ende dazu beitragen kann, die unsolidarischen Sparpolitiken zu beenden, die kaputtgesparte Gesundheitssysteme der Mitgliedstaaten, mangelnde Zusammenarbeit und dauerhafte Investitionsbremsen auf dem Gewissen haben und den Kampf gegen den Klimawandel und ein soziales Europa bis heute nicht in den Griff bekommen. Mit dieser Politik, die bisher schon Gräben zwischen Krisengewinnern – wie Deutschland – und -verlierern, wie viele Südeuropäische Staaten –  nach der Finanzkrise 2008ff. vertiefte, wurde das Vertrauen in Europäische Politik nachhaltig beschädigt. Der Brexit war auf seine Weise ein Ausdruck dieser schief laufenden Europäschen Integration. Und auch wenn jetzt von der neuen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine klimaneutrale EU bis 2050 ausgerufen wurde, so wird man das Gefühl nicht los, dass der eigentliche Handlungsdruck bisher nicht bei den herrschenden Politikerinnen und Institutionen angekommen ist, die sich weiter treu einer absurden Wettbewerbsideologie, dem Markt und den Interessen vieler großer Unternehmen ergeben. Die Corona-Pandemie hat zwar über Nacht die Europäische Union zu einer gemeinsamen Schuldenaufnahme befähigt, jedoch nur auf der Basis des EU-Haushaltes. Das hat jedoch gegenüber einer Schuldenaufnahme durch die EZB auch einen kleinen Vorteil: das Parlament hat ein Mitspracherecht. Andererseits wurden nun alle Haushaltsansätze von 2018 für die kommenden 7 Jahre gründlich gestutzt. Es bleibt unklar, wie angesichts der Aufgabenfülle, die EU zu weiteren Eigenmitteln kommen will und es ist absolut unverständlich, dass unter den kreisenden Hubschraubern wieder etliche Länderrabatte gegen Zustimmung eingetauscht wurden, ein System, das auch Großbritannien nicht in der EU hielt.

 

S.O.S. – Europapolitische Debatten zwischen Thüringen, Brüssel und Schwetzingen

Es sollte um Europäische Kultur- , Medien- und Bildungspolitik gehen. Es war ein sonniger Montag Abend und Linke aus Schwetzingen, voran Landtagskandidat Florian Reck, hatte erneut zu einem Solidarischen Online Stammtisch eingeladen, bei dem auch schon Cornelia Ernst und ihr Mitarbeiter Lorenz Krämer im Juni mit diskutierten. Diesmal meldete sich Martina, die ein paar Tage nach Thüringen gefahren war, gemeinsam mit Konstanze Kriese zu Wort. Es ging querbeet durch das, was man unter Europäische Kulturpolitik fassen kann, alles was zum Beispiel mit dem Förderprogramm Kreatives Europa angesprochen ist. Doch vor allem ging es um Leerstellen, das unterfinanzierte Programm selbst und um andere Möglichkeiten Europäischen Kulturaustausch und auch Geschichtsdebatten zu realisieren. Aus dem Gespräch heraus wurde natürlich auch über den noch fortdauernden Regierungsgipfel diskutiert. Vor allem die Rechtsstaatsdebatte, die im Zusammenhang mit der Konditionierung von Fördergeldern auch in der medialen Öffentlichkeit heiß diskutiert wird, reizte zu Nachfragen und Positionierungen. Ziemlich deutlich war, dass wir zu selten und selten konkret genug über Europapolitik diskutieren, weshalb wir solche Online-Formate, die während der Corona-Pandemie verstärkt initiiert wurden, auch darüber hinaus pflegen sollten.

Wer die Debatte nachhören will oder eine ausführliche Debattenzusammenfassung lesen will, findet beides hier. Wir bedanken uns bei Florian Reck für die Moderation, die Organisation und die schöne Nachlese.

 

Fraktionssitzung: Was hat das Parlament bisher verhandelt?

Wir berichten relativ selten aus Fraktionssitzungen, eigentlich eher, weil es eine Zeitfrage ist und unklar bleibt, wer diese Informationsfülle eigentlich haben will. Eigentlich sollten die Sitzungen sogar einmal gestreamt werden. Doch dieses hehre Anliegen hat sich – nach ersten Testläufen im vergangenen Jahr – nicht über die Corona-Zeiten gehalten, in denen alle verfügbaren technischen Zugänge für Sitzungen im Remote-Modus sowieso ausgenutzt wurden. Und in Brüssel ist das alles nicht so einfach, hängen doch immerhin eine Menge Übersetzungen dran, damit alle, an den Sitzungen Beteiligten, nicht über diese Barriere stolpern. Am Mittwoch dieser Woche, ein Tag vor einem außerordentlichen Plenum des Europaparlaments, wardann auch eine außerordentliche Fraktionssitzung, in der Dimitri Papadimoulis, unser Vizepräsident, und José Gusmao aus den Verhandlungen zur Parlamentsresolution berichteten, die erst am Mittwoch früh um 2 Uhr geendet hatten. Die Konservativen, die Sozialdemokraten, die Grünen, die Liberalen und die Linken handelten eine gemeinsame Position aus, die das Ergebnis des Gipfels des Europäischen Rates hart kritisierte und klar enthielt, dass das letzte Wort zum Haushalt 2021-2027 noch nicht gesprochen wurde. Sie erläuterten, dass in der Resolution Kritik an Kürzung der Zuschüsse im gesonderten 750 Mrd. Euro schweren Corona-Hilfe-Programm Next Generation geübt und die Einstellung der Rabatte gefordert wird. Die Kürzung des langfristigen Haushaltes wird nicht hingenommen. Rechtsstaatlichkeit bräuchte mehr Vorbedingungen. Gleichstellung wurde stark gemacht, von den Grünen und den Linken. Besonders wurde die Haltung der Regierungen in den Niederlanden und Österreich kritisiert. Klar ist eine gemeinsame Resolution nicht so radikal, wie wenn wir als Linke eine allein gemacht hätten. Etwas verwundert äußerte sich Papadimoulis, dass die Sozialisten nicht sehr kämpferisch bei den Resolutionsverhandlung waren, wären ansonsten heftige Kritik an den Gipfelentscheidungen, so hatte es Martin Schirdewan später nochmal ergänzt, auch von den anderen Fraktionen kam. Beim Grenzmanagement und der Militarisierung teilen wir die Auffassungen der Resolution nicht, aber mit dem derzeitigen Gesamtpaket, so betonte es auch José Gusmao können wir auch Druck auf die anderen Fraktionen in den kommenden Monaten ausüben. Er betonte: „Die Medien tuen ja so, als sei dass Ratsabkommen historisch und es würde in unseren Ländern Geld regnen.“ Dagegen können wir die Position des Parlaments setzen. Unsere Fraktions-Co-Vorsitzende Manon Aubry verstärkte diese Sicht, indem sie betonte: „Ja wir müssen den Nebel über dem Abkommen lichten und es ist strategisch richtig, jetzt eine starke kritische Position des EP zu unterstützen.“

 

Die außerordentliche Plenartagung des Europaparlaments am 23. Juli 2020

Donnerstag kurz nach 9 begann dann die Sondersitzung des Europäischen Parlaments. Martin Schirdewan, unser Co-Fraktionsvorsitzender, sprach für unsere Fraktion in der 3-stündigen Aussprache (Videoausschnitt aus der Plenartagung). Die Abgeordneten waren ein letztes Mal vor der Sommerpause aufgefordert, online – sofern sie nicht nach Brüssel gereist waren – abzustimmen. Martina lauschte der Aussprache und fasste zugleich nochmals ihre Position zur Sitzung zusammen, die naturgemäß ganz besonders aus ihrer Regionalpolitischen Perspektive geprägt war:

„Heute beschloss das Europäische Parlament in einer Resolution, dass die Einigungen des Europäischen Rates vom vergangenen Wochenende nicht die geeigneten Antworten auf den Wiederaufbau der EU in der Covid19-Krise sind.“

„Wer als historisch feiert, dass der Europäische Rat sich am Wochenende endlich auf ein Wiederaufbau-Paket in der Covid19-Krise geeinigt hat, hat sich offenbar mit einer EU abgefunden, die politische Herausforderungen gar nicht mehr europäisch anpacken will. Dass Klimawandel, Digitalisierung, Migration keine nationalen Phänomene sind, war schon vor der Corona-Krise klar. Dass unsere Gesundheitssysteme jedoch auch von internationalen Lieferketten, gut ausgebildetem Pflegepersonal und öffentlicher Forschung abhängig sind, hat die Covid19-Pandemie der Europäischen Politik deutlich vor Augen geführt…“ 

Wer einmal die geplanten Corona-Wiederaufbau-Pakete und die Planungen zum Haushalt aus Sicht des Rates und der Kommission auf einen Blick sehen will, kann dies hier auf den Seiten des Europäischen Rates tun.

 

Lesetipp: Wir gehen in die Sommerpause – nicht ohne Bücher

Passt auf euch und eure Mitmenschen in diesen Corona-Zeiten auf, erholt euch, unterstützt euch gegenseitig, tankt Kraft für Ideen und gute Taten und bleibt gesund! Unsere drei Lesetipp für die Sommerpause heißen: 

Philippe Lançon: Der Fetzen. (Klett-Cotta, 2019) Der Journalist schreibt für Libération und das Satiremagazin Charlie Hebdo und überlebt schwer verletzt den Anschlag am 7. Januar 2015. Manisch und tiefgründig berichtet er, was es für ihn bedeutet, einen derartigen Gewaltakt zu überleben. Kunst ist eines seiner Lebensmittel. Mit Musik – bevorzugt diverse Varianten von Bachs Goldberg-Variationen – „fährt“ er in die unzähligen OPs, mit Texten und sogar mit Schreiben rettet er sich in eine Zwischenwelt, in der jede Verbindung zur Zeit vor dem Attentat wie aus einer anderen Welt stammt, als ob sie eine andere Person beträfe. 

Alper Canigüz: Die Verwandlung des Hector Berlioz. (binooki, Berlin, 2014) – Verrückter und amüsanter kann ein Roman kaum sein, der in seinem Untertitel sich als psycho-absurd-romantische Komödie einordnet. Ein Plot wie zu drastischen Filmbildern: Ein junger Mann verkauft einen Teil seines Lebens… Man denkt unwillkürlich an Tim Taler und ähnliche faustische Pakte, doch die Verwicklung von Wirklichkeit und Traum setzen der ganzen aparten Konstruktion die verwirrende Krone auf. Eine echte Urlaubslektüre.

und noch ein Buch, dass uns auf eine besondere Weise an Europas Grenzen trägt: 

Francesca Melandri: Alle, außer mir. (Wagenbach, 2018) – Eine unglaubliche Familiengeschichte zeigt uns, das Europa nichts anderes ist, als ein Kulturraum, ein Gemisch aus afrikanischen, arabischen und asiaten Einflüssen und Wurzeln, ganz so, wie es das Braudel-Institut am Beispiel der Geschichte des Mittelmeeres immer wieder herausgearbeitet hat. Migration, als die Mutter aller Entdeckungen, geht hier in die Tiefe.

Wir melden uns in einem Monat zurück, aus Brüssel, eventuell aus Strasbourg, aus Berlin oder von unterwegs…

Online-Debatte zu Euroäischer Kultur- und Medienpolitik in Schwetzingen
Share-pic: Floran Reck

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Brüssel, Innenstadt, nahe dem Belgischen Kulturzentrum Bozar
Konstanze Kriese