Martinas Woche 14_2020: Pandemie kommt nicht von Panik!
Europäische Coronahilfen analysiert – Aktionsplan GUENGL – Manolis Glezos – Mission Lifeline unterstützen – Regionalpolitik – Debatte: Politik nach Corona
Anfang der Woche erreichte uns die Nachricht vom Tode Manolis Glezos‘, dem griechischen Antifaschisten, der schon 1941 den Widerstand gegen die Nazis beflügelte. Wir erinnern an ihn.
Inzwischen leuchtet die Sonne frech und wärmend in schwierigen Tage, Wochen, Monaten. Die Regierenden aller Ebenen überbieten sich bei der Lösung der gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise. Die EU-Institutionen sind zugleich schwerfällig wie immer, vor allem weil die Regierungen einmal mehr, statt ein gemeinsames Konzert zu geben, jede nach selbst geschriebenen Noten aufspielen wollen. Wir versuchen, die laufenden europäischen Hilfspakete zu analysieren. Zugleich schlägt die linke Fraktion im Europaparlament einen weitergehenden Aktionsplan vor, den wir hier vorstellen.
Der Regionalausschuss ist derzeit ebenso aktiv und schärft die politischen Maßnahmen, damit sie tatsächlich nachhaltig einen Kurs auf den sozialen Zusammenhalt der europäischen Regionen nehmen.
Abschließend unternehmen wir den Versuch, politische Perspektiven auf die Zeit während und nach der Corona-Krise vorzustellen, das derzeitige Geschehen einzuordnen und einen linken Politikwechsel dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Einen Versuch, der schon vor der Corona-Krise zur Debatte stand, um einer Welt, in der sich alles rechnen soll, endlich Paroli zu bieten.
Wir trauern und erinnern an Manolis Glezos
1941 riss Manolis Glezos die Hakenkreuzfahne von der Akropolis. Er war schon ein Held, bevor die meisten von uns ihn kennenlernten. Von den Faschist*innen wurde er mehrfach zum Tode verurteilt, lebte viele Jahre auf der Flucht. Bis zum Ende der Obristen-Diktatur 1974 war er mehrfach in Haft. Manolis Glezos wurde am 9. September 1922 geboren und starb am 30. März 2020. Für die Mitarbeiter*innen und Abgeordneten unserer Fraktion, in der Manolis Glezos sein letztes Mandat als Europaabgeordneter bis zum Sommer 2015 ausübte, ist sein Auftreten, seine Gradlinigkeit, seine Kenntnis europäischer Geschichte eine bleibende Erinnerung. Die Verehrung vor dem Antifaschisten und Internationalisten Manolis teilen wir mit vielen Genossinnen, Genossen und Freunden weltweit. Hier ist unser Nachruf zu lesen, den wir schweren Herzens in einer Zeit schreiben mussten, in der wir nicht einmal zum letzten Abschied fahren können. Dies werden wir nachholen.
Sozialer und wirtschaftspolitischer Aktionsplan der linken GUENGL-Fraktion
Genau genommen kommt der hier vorgelegte Aktionsplan von unseren Ausschussmitgliedern des Wirtschaftsausschusses (ECON) und er erhebt u. a. ganz klar die schon in der vergangenen Woche diskutierten Forderungen nach der Aussetzung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (ESM) und der Herausgabe von Eurobonds, einer Möglichkeit, gemeinsam und damit solidarisch die nun notwendige, europaweite Verschuldung zu stemmen. Doch dies sind längst nicht alle Forderungen, die nicht nur Linke derzeit in die Debatte einbringen. Im Aktionsplan geht es um soziale Absicherungen, die von Wohnraum- bis zur Einkommenssicherung letztlich sehr viele Facetten hat, die Probleme aufgreift, die schon vor der Corona-Krise existent waren, z. B. Energiearmut oder kaputtgesparte Gesundheitssysteme.
Die Vorschläge verdienen auch deshalb Beachtung, weil viele der vorgeschlagenen Maßnahmen geeignet sind, auch langfristig Weichen für ein soziales Europa zu stellen. Der gesamte Aktionsplan ist hier nachlesbar.
Petition für den Europäischen Kultur- und Kreativsektor
Sicher denkt nicht jede und jeder zuerst an die Kultur- und Kreativbranche, wenn er Corona-Hilfen von der Politik einfordert. Zugleich ist es unübersehbar, was uns fehlt, wenn die Kinos geschlossen sind, die Freizeiteinrichtungen, Museen, Musikclubs nicht mehr besucht werden können. Das bedeutet zugleich für ca. 12,5 Millionen Beschäftigte europaweit nicht nur enorme Einkommensverluste. Die kleinen Studios, Klubs, Bühnen, die sich oft ohnehin nur querfinanziert durch die Gastronomie halten, werden sich kaum über die kommende Zeit retten können, wenn sie nicht Unterstützung bei Miet- und Betriebskosten erhalten. Martina Michels und Cornelia Ernst zeichneten deshalb in der vergangenen Woche eine Petition mit, die dem Erhalt der kulturellen Vielfalt in Europa Aufmerksamkeit sichern soll.
Regionalausschuss treibt die Kommission an und fordert ein EU-Investitionspaket plus
Der Aussschuss für Regionale Entwicklung fordert die EU-Kommission auf, verstärkte Maßnahmen gegen die Coronavirus-Krise vorzuschlagen. In einer Videokonferenz mit der EU-Kommissarin für Kohäsion und Reformen, Elisa Ferreira, berieten der Ausschussvorstand und die Obleute über rasche zusätzlichen Maßnahmen für eine bessere Nutzung der Coronavirus Response Investment Initiative (CRII). Für die Linksfraktion GUENGL sprach Martina Michels, hier im Detail nachlesbar.
Doch damit nicht genug: Der Regionalausschuss fordert ein EU-Investitionspaket plus, das u. a. eine wesentlich höhere Flexibilität zwischen den Fonds sichern soll. Doch die Möglichkeiten der schnelleren Anpassungen sollen zugleich die langfristigen Ziele nicht über Bord werfen, sondern z. B. die geforderte Klimaneutralität bis 2050 oder den sozialen Ausgleich nicht aus den Augen verlieren. Nora Schüttpelz und Martina Michels haben hier die Debatten und Forderungen des Regionalausschusses zusammengefasst.
Holt die Menschen aus den Flüchtlingslagern auf Lesbos!
Das fordern und unterstützen auch wir nicht zum ersten Mal, nicht nur im Rahmen des Wochenrückblicks. Wir haben auch für Mission Lifeline und andere Projekte gespendet und waren vor Ort – lange vor Corona. Wir kämpften gegen die Zuspitzungen, die durch die türkische Politik entstanden sind und gegen den unsäglichen Deal mit Erdogan. Unser Frakionsvorsitzender, Martin Schirdewan, erneuerte diese Woche die Forderung, mit der wir die Arbeit vieler NGOs, Aktivist*innen und die Menschen auf der Flucht weiter im öffentlichen Bewusstsein halten wollen, damit sich herrschende Politik endlich bewegt: „Die Aktion von Mission Lifeline e.V. ist ein starkes Signal für gelebte Solidarität, die derzeit den Regierungschef*innen Europas vollkommen abhandengekommen zu sein scheint.“ … „Mission Lifeline ist dank zahlloser Spender- und Unterstützer*innen in der Lage, sogar mehr als nur einen Flug zu finanzieren und durchzuführen. Auch Angebote zur Unterbringung und Betreuung in Deutschland liegen vor, sogar über die mehr als 140 aufnahmebereiten Städte und Gemeinden hinaus“, erinnerte diese Woche Martin Schirdewan. Özlem Demirel machte, wie andere auch, auf die unerträgliche Handlungsbereitschaft aufmerksam, wenn es um die deutsche Spargelernte geht, während die Versprechen, wenigstens erst einmal unbegleitete Kinder und Jugendliche von den griechischen Inseln zu holen, bis heute nicht eingelöst wurden.
Immerhin hat Ursula von der Leyen am heutigen Sonntag versprochen, dass die Evakuierung von Kindern in der kommenden Woche beginnen soll. Doch auch angesichts Corona müssen wir schon deutlich fragen, warum nicht alle Menschen, die auf diesen Inseln festhängen und nicht das Nötigste an Hygiene oder gesundheitlicher Betreuung haben, sofort evakuiert werden. Auf keinen Fall werden wir hier locker lassen.
Politische Blicke auf die Corona-Krise und danach – vier Artikel zur Debatte
Wir wollen uns hier nicht mit Schlussfolgerungen von Virologen und Epidemiologen, die für die Politikberatung derzeit sehr gefragt sind, auseinandersetzen. Auch interessiert uns weniger das Urteil von Sozialpsychologen oder Pädagogen, wie sie die derzeitigen Maßnahmen des Ausnahmezustandes in unterschiedlichen Ländern bewerten. Wir haben hier einmal mutige politische Sichtweisen auf die Corona-Krise versammelt, die uns anregen können, eine linke Politik mit und nach Corona zu schärfen.
Zuerst haben wir hier einen Beitrag des Politikwissenschaftlers Alban Werner, „Die Welt nach Corona“, der gerade bei OXI erschienen ist (2.4.2020). Alban Werner verblüfft oft und tritt gern mit mutigen Thesen Debatten los. Hier taucht er dazu einleitend in eine kleine Geschichte der jüngsten Risse des Neoliberalismus ein, Risse, die wir schon zur Finanzkrise 2008 hätten wahrnehmen können. Doch viele Linke übersehen derartige Veränderung bei ihren politischen Gegnern allzu gern und berauben sich damit zielgenauer Strategien, um Kräfteverhältnisse zu ändern. Sein Beitrag selbst war von der Lektüre des Artikels von Moritz Kirchner. Psychologe und Politikwissenschaftler, beeinflusst, der seinen Beitrag mit starken Hypothesen einleitet: „Die Coronakrise hat schon jetzt die Politik nachhaltig verändert, und sie wird es weiterhin tun. Sie wird das Staatsverständnis, die Parteienlandschaft, die Demokratie sowie den Parlamentarismus umfassend und teilweise irreversibel verändern…“ (erschienen am 18.3.2020).
Eine schwungvolle Sicht einer italienischen Aktivistin, deren Erfahrungswelt überdies aus dem Gesundheitswesen stammt, empfehlen wir gleichfalls sehr gern, denn hier geht es nicht zuerst um die politischen Folgen des Agierens von organisierten politischen Akteuren, wie Parteien, Regierungen, Machtblöcken, sondern um die politische Haltung jeder und jedes einzelnen und damit zugleich um die klare Mitteilung: Pandemie kommt nicht von Panik! Barbara Plagg ist Dozentin für Hygiene, Prävention und Sozialmedizin an der Uni Bozen und man sollte bei diesem Beitrag zugleich das frühe Erscheinungsdatum vom 2. März 2020 einrechnen.
Schon länger wird das Verhältnis von Freiheitsrechten und den angeordneten Maßnahmen diskutiert. Julie Zeh, die Bestsellerautorin, die schon einmal einen Roman über eine Art Gesundheitsdiktatur vorlegte – Corpus Delicti – ist zugleich in Brandenburg Verfassungsrichterin. Gerade flimmerte die verfilmte Version ihres Romas „Unter Leuten“ in unsere Wohnstuben. Julie Zeh hat sich in den letzten Tagen mehrfach zu Wort gemeldet und die ausbleibende demokratische Debatte um die erlassenen Maßnahmen scharf kritisiert: „Ein ernsthafter Diskurs – etwa darüber, welche Grundrechtseinschränkungen verhältnismäßig sind und welche nicht – könne ‚auch unter Zeitdruck‘ stattfinden … ‚In einer Demokratie darf man sich die Möglichkeit dazu nicht nehmen lassen.’“, wird Julie Zeh zum Beispiel in diesem Artikel zitiert.