Martinas Woche 4_2020: Zukunft & Geschichte Europas
Vor 75 Jahren wurde des KZ Auschwitz-Birkenau von der Roten Armee befreit – Brüssel – Berlin: Regionalpolitik – Zukunftsdialoge – Merkel in Ankara
Das 75jährige Auschwitz-Gedenken ist alles andere als eine einzige große Mahnung. Es verläuft turbulent wie nie, gab es doch erstmalig zur Veranstaltung in Polen eine große Parallelveranstaltung in Jerusalem. Die Absage des polnisches Staatschefs Duda führt direkt ins Herz der Debatten, die seit dem Herbst auch im Europaparlament geführt werden. Polen verschweigt den eigenen Antisemitismus und lässt ausschließlich eine regierungsoffizielle Geschichtsschreibung gelten, nämlich die, die das Land als Opfer Hitlers und Stalins skizziert. Darin versteckt sich nicht nur die Relativierung Hitlerdeutschlands, wie Gabriele Esser in der TAZ aufwirft.
Die ansonsten vollgepackte Ausschusswoche begann mit einem Paukenschlag im Regionalausschuss, denn alle weiteren Verhandlungen zu den Regional- und Strukturfonds 2021 – 2027 wurden erst einmal bis Februar eingefroren. Helmut Scholz zeigte sich enttäuscht über den Auftakt zur Konferenz zur Zukunft Europas und Merkel erschüttert mit einer Fortsetzung des EU-Türkei-Deals und Unterstützungsangeboten für Erdogans Vertreibung von Kundinnen und Kurden in Nordsyrien.
Gleich in der kommenden Woche sind wir bei einer Veranstaltung zum Just Transition Fonds verabredet.
Holocaust-Gedenktag am 27. Januar
„Vier Divisionen der Roten Armee rücken am 27. Januar 1945 in Oberschlesien Richtung Westen vor. Die Deutschen leisten wenig Widerstand, trotzdem fallen Männer. Das Ziel der Operation ist ein großer Industriekomplex am Zusammenfluss von Soła und Weichsel. Gegen 9 Uhr in der Frühe erreichen die ersten Rotarmisten die Anlage. Sie erwarten, Werksanlagen einzunehmen. Stattdessen befreien sie Menschen aus der Hölle. Denn dort befindet sich auch ein Konzentrationslager. Als „Auschwitz III“ führen es die Deutschen. ‚Menschliche Skelette kamen uns entgegen‘ erinnerte sich später der Offizier Anatoly Shapiro an den Anblick der überlebenden Häftlinge. ‚Sie trugen Streifenanzüge, keine Schuhe. Es war eisig kalt. Sie konnten nicht sprechen, nicht einmal die Köpfe wenden.‘ (aus „Menschliche Skelette kamen uns entgegen“ von Marc von Lüpke)
Und wieder ist der Ungeist des Rechtsextremismus europäisch vernetzt und aktiv. „Gerade wir sind zur politischen Auseinandersetzung mit den Wurzeln des Faschismus verpflichtet. Gerade von uns wird erwartet, dass wir der sozialen Demagogie der Rechten den ernsthaften Kampf um soziale Rechte entgegensetzen. Mit uns gibt es weder Geschichtsrevisionismus noch eine Schlussstrichmentalität.“, sagte Kurt Julius Goldstein, Überlebender des KZs Auschwitz-Birkenau. Er war lange Ehrenvorsitzender des Internationalen Auschwitz-Komitees und Vorsitzender des heute in seiner gemeinnützigen Arbeit bedrohten Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten (VVN-BdA). Kurz nach Gründung der LINKEN starb Kurt Golstein im Alter von 93 Jahren, Spanienkämpfer, Sozialdemokrat, später Kommunist. Bis zuletzt sprach er auf Parteitagen DER LINKEN, mit Schülerinnen und Schülern, schrieb Artikel und erinnerte daran, dass die Überlebenden nicht mehr lange für uns da sein werden.
Die Verantwortung wächst für uns alle, sich für ein umfassendes Gedenken einzusetzen. Es ist verbunden mit dem Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus und gegen Geschichtsrevisionismus, die andere Seite der Medaille. Geschichtsrevisionismus dient neben der Relativierung des deutschen Faschismus zumeist auch einer aktuellen Entdemokratisierung, zum Beispiel dem Verbot linker Organisationen oder der politischen Pflege von Feindbildern, wie der aktuelle Streit zwischen Polnischen und Russischen Staatsoberhäuptern angesichts des Gedenkens in Yad Vashem, bei dem auch der Bundespräsident Steinmeier in Israel sprechen durfte, zeigt. Lutz Herden hat im Freitag die harten politischen Auseinandersetzungen um das Holocaust-Gedenken in seinem 75. Jahr kommentiert.
Regionalpolitik I – Verhandlungen eingefroren
Im Dezember hatten wir berichtet, dass die Verhandlungen zu Creative Europe von den Vertreter*innen des Parlaments erst einmal ausgesetzt wurden. Das ist ein, relativ kleines Programm. Nun aber friert der Regionalausschuss (REGI) alle politischen Triloge zu den Kohäsionsfonds bis Ende Februar ein. Im Februar steht eine erneuet Beratung des Vorschlags für den Mehrjährigen Finanzrahmens auf der Tagesordnung des Europäischen Rates. Was das Parlament im einzelnen fordert, ist hier nachlesbar.
Regionalpolitik II – Anhörung zum Just Transition Fonds: Mi, 29. Januar 2020, ab 16:30 Uhr
Am 14. Januar 2020 stellte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen einen „Investitionsplan für den europäischen Grünen Deal vor. Darin enthalten ist auch der Gesetzesvorschlag zur Einrichtung des „Fonds für einen gerechten Übergang“. Als Linksfraktion GUE/NGL diskutieren wir mit Vertreter*innen der Kommission, aus von Strukturwandel betroffenen Regionen und Kommunen und NROn, wie diese Vorschläge realisiert werden sollen, damit der sozial-ökologische Strukturwandel zum Wohle von Menschen und Umwelt gelingen kann.
Es gibt auch einen Livestream in mehreren Sprachen, darunter auch deutsch. Das Programm, den Link zum Livestream oder auch die unmittelbare Anmeldung zur Veranstaltung findet ihr hier.
Zukunft Europas: Fehlstart beim Bürger*innen-Dialog
Noch in der vergangenen Woche äußerte sich Helmut Scholz hoffnungsvoll zum Vorhaben der Kommission, eine zweijährige Zukunftskonferenz mit Bürgerinnen und Bürgern einzuberufen. In dieser Woche dann Ernüchterung: Die Europäische Kommission hat ihre Mitteilung zur ‚Konferenz über die Zukunft Europas‘ vorgestellt. Helmut Scholz, als Mitglied der Arbeitsgruppe zur Zukunftskonferenz des EU-Parlaments kommentierte: „Erst versprechen und dann gleich brechen! Ich bin über die heutige Veröffentlichung enttäuscht. Ursula von der Leyen hatte in ihrer Antrittsrede gesagt, dass Gesetze gemacht und selbst die EU-Verträge geändert werden könnten, sollten die Bürgerinnen und Bürger dies in der Konferenz fordern.“ Die ganze Meldung ist hier zu finden.
Türkei: Merkel will Flüchtlingsdeal ausweiten und Besiedlung in Nordsyrien unterstützen
Am Freitag war Kanzlerin Merkel in Ankara. Neben kleinen Missverständnissen auf offener Bühne hinterließ sie jedoch auch Äußerungen, die uns fassungslos machen. De facto hat sie in Aussicht gestellt, Erdogans Besiedlung seiner fragwürdigen Sicherheitszone in Nordsyrien zu unterstützen. Noch angesichts des Einmarsches in Afrin 2018 hatte der wissenschaftliche Dienst des Bundestages festgehalten, dass dieser Einmarsch völkerrechtswidrig ist. Doch auch die Besetzung der Türkei östlich von Afrin in Nordsyrien seit dem 9. Oktober 2019 steht unter einem ähnlichen Stern und zeitigte nicht nur die weitere Verdrängung von Kundinnen und Kurden, sondern auch üble Morde von Erdogans Söldnern an Politikerinnen, wie Havrin Khalaf, und an YPJ-Kämpferinnen, nachdem die USA den gemeinsamen Kampf gegen den IS mit den Nordsyrischen Kräften, insbesondere der YPG/YPJ, aufgekündigt hatte. Marcel Fürstenau kommentierte treffend bei der Deutschen Welle:
„Erdogan kann sich darauf verlassen, mit dem Elend verfolgter Menschen weiterhin gute Geschäfte zu machen – finanziell und politisch. Kurz vor ihrer Abreise aus Istanbul kündigte die Kanzlerin eine wohlwollende Prüfung zusätzlicher Gelder für den Bau von Unterkünften für Flüchtlinge in Nordsyrien an. Dort hat die Türkei eine umstrittene Sicherheitszone eingerichtet. Allerdings nicht nur für Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Nachbarland, sondern auch, um Kurden zu verfolgen und zu verdrängen.“