Martinas Woche 38/2019: Straßburg zwischen Großwetterlage und Klimastreik
EZB – Brexit – EGMR-Anhörung: Demirtas vs. Türkei – Israel wählt – Klimaschutz – Recht auf Abtreibung
Ein sonniger Spätsommer begrüßte die Europaabgeordneten zur ersten Plenarwoche nach der Sommerpause in Straßburg. Sonderlich gewürdigt hat die designierte EZB-Chefin Lagarde jedoch das malerisch beleuchtete Parlament nicht. Sie erschien gar nicht erst bei der Abstimmung über ihre neues Amt. Trotzdem wurde sie mit klarer Mehrheit gewählt und wird im November Draghi ablösen. Was wird aus der Nullzins-Politik, aus dem Investitionsstau in Europas Volkswirtschaften? In diversen Think Tanks – von neoliberal bis keynesianisch – z. B. im neuen Buch von Thomas Piketty „Capital et Idéologie“ werden mal wieder Formen des sogenannten Helikoptergeldes diskutiert, um die Schwäche der Binnennachfrage in den Mitgliedstaaten aufzulösen. Doch pures Wirtschaftswachstum, wollen wir und brauchen wir das eigentlich? Die Funktionsweise der EZB muss jedenfalls rundum auf den Prüfstand.
Die EU mit ihren Institutionen steuert überdies auch auf ganz hauseigene Budgetprobleme zu, die politisch gesehen vielleicht das geringste Übel eines No-Deal-Brexits ausmachen. Einmal mehr diskutierte das Parlament die Lage und die Folgen des Brexit in der vergangen Woche.
Israel hat am vergangenen Dienstag gewählt und beinahe zwei Tage dauerte das Rätselraten über die Wahlergebnisse, obwohl das Land ja nicht größer und bevölkerungsreicher ist als Hessen ist, beispielsweise.
Am Mittwoch fand im Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eine über drei Stunden währende Anhörung – Selahattin Demirtaş gegen die Türkei – statt. Wir waren vor Ort und berichten in dieser Ausgabe ausführlich. Am Donnerstag entschied sich das Plenum in einer Resolution, der Entdemokratisierung der Türkei eine harte Position gegenüberzustellen und die Amtsenthebungen gewählter Bürgermeisterinnen im Südosten der Türkei zu verurteilen.
Der Freitag stand ganz im Zeichen weltweiter Klimaproteste.
Am Samstag gingen, wie seit vielen Jahren Abtreibungsgegner*innen mit ihrem 1000-Kreuze-Marsch durch die Straßen vieler europäischer Städte. Zugleich protestierten viele Menschen, die für sexuelle Selbstbestimmung und die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruches europaweit kämpfen gegen diese patriarchale Bewegung auf Kosten von Frauen .
Israel hat gewählt
Durch das Kopf an Kopf-Rennen von Netanyahus Likud-Partei und Gantz säkularer Version derselben, gestaltet sich bis heute die Wahlauswertung schwieriger als erwartet. Martina sagte unmittelbar nach der Wahlnacht: „Eine weltlicher ausgerichtete Regierung könnte der Bevölkerung eine Atempause verschaffen. Der zerstörerische Wettlauf der Rechtsnationalist*innen wäre erst einmal gebremst. Solch eine Regierung würde die Demokratie nicht weiter aushöhlen, religiöse und nationalistische Tendenzen in Politik und Gesellschaft hoffentlich vorerst aufhalten.“ Die ganze Meldung ist hier zu finden.
Türkei steht vor Gericht
Am Mittwoch begann der nächste Prozess: Selahattin Demirtaş gegen die Türkei, in dem es nicht nur um die Rechtmäßigkeit seiner Verhaftung am 3. November 2016 ging, die in Straßburg schon einmal zurückgewiesen wurde, sondern um ein ganzes Bündel verletzter Grundrechte, welche dem Oppositionspolitiker und einstigen Co-Vorsitzenden der HDP auch mit der Verhaftung nicht mehr garantiert wurden. Einmal kann er sein Mandat in der Türkischen Nationalversammlung nicht mehr ausüben, weiterhin wird im die freie Rede auch außerhalb des Parlaments streitig gemacht und überdies ist die Prozessführung selbst fern von der Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit, die auch faire Prozesse bei einer Freiheitseinschränkung gewähren muss. Ein umfassende Einschätzung des Prozessverlaufes findet ihr hier. Eine Replik rund um diesen Prozess erschien auch in der taz.gazete von Oliver Kontny, in einem der rar gesäten Exilmedien, die dringender Unterstützung bedürfen und sich über eure Spenden für guten Journalismus freuen.
Friday for Future, die UNO, die EU und die Klimaziele
Gegen eine tatenlose Politik, die dem Klimawandel mit homöopathischen Maßnahmen beikommen will, hat sich weltweit Protest formiert. Aus einem Schulstreik vor einem Jahr sind Massenproteste geworden. Allerdings kann niemand behaupten, dass sich die herrschende Politik spürbar bewegt. Die Plenarwoche in Straßburg diskutierte die Herausforderungen der EU, angesichts des UNO-Sondergipfels und Cornelia Ernst hat kommentierte diese Baustelle.
Mit etwas mehr Elektromobilität plus einer CO2-Steuer werden wir die Zerstörung unserer Lebensgrundlagen kaum aufhalten. Wenn aus FridayForFuture so etwas wie EverydayforFuture wird, haben wir vielleicht noch eine Chance. Doch dafür brauchen wir komplexe politische Maßnahmen, die unsere ganze Lebensweise auf den Prüfstand stellen, von den Europäischen Agrarsubventionen bis zum städtischen Kraftwerk. Die reichen Länder hätten alle Ressourcen hier endlich voranzugehen, statt sich kurzfristigen Wirtschaftsinteressen zu beugen. Doch es mangelt vor allem am politischen Willen und der nötigen demokratischen Debatte.
Straffreie Abtreibung – weltweit: ProChoice gegen ProLife – Proteste gegen die 1000 Kreuze Märsche
Neben den großen Klimaprotesten geriet in diesem Jahr die mediale Widerspiegelung des Kampfes um sexuelle Selbstbestimmung, Frauengesundheit und das Recht auf straffreie Abtreibung ins Hintertreffen. Doch wir möchten an dieser Stelle daran erinnern, dass alljährlich am 3. Septemberwochenende in mehrere europäischen Ländern sich die weltweit gut vernetzten Abtreibungsgegner*innen organisieren, die ihre Positionen mit rigiden Herrschaftsvorstellungen über Frauen verbinden. Egal ob Staat oder Kirche, nach den Vorstellungen der zumeist männlichen Kreuze-Träger, auch wenn Frau von Storch dort seit Jahren in der ersten Reihe läuft, haben Frauen keine Rechte, wenn es um Konfliktentscheidungen bei einer ungewollten Schwangerschaft geht. Dies verursacht nicht nur massiven unfreiwilligen Grenztourismus in Europa, weil Polinnen verfolgt werden, Slowakinnen keinen Arzt mehr finden, sondern nachweislich eine Repressionssituation für Frauen, die nachweislich sogar zu mehr Abtreibungen führen als in Ländern, die Fristenlösungen, Straffreiheit und umfassende Beratungsangebote gesetzlich geregelt haben.