Dies sagen nicht nur Politikerinnen und Politiker quer durch alle Parteien, sondern legt inzwischen auch ein Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes (WD) des Deutschen Bundestages nahe, das eine völkerrechtliche Bewertung der türkischen Operation Olivenzweig vornahm. Die Veröffentlichung des Gutachtens (in Auftrag gegeben durch den LINKEN Alexander Neu, MdB) kommentiert Martina Michels, Mitglied in der parlamentarischen Delegation EU-Türkei:

„Allerspätestens mit den Angriffsplänen auf die Stadt Afrin, die ab Ende Februar von der türkischen Regierung verkündet wurden, veränderte sich die Sicht auf die Verhältnismäßigkeit des türkischen Einmarschs in Syrien. Anstatt jedoch den NATO-Partner Türkei zu Beweisen in einer Konsultation nach Art.4 des NATO-Vertrags aufzufordern, gibt es bisher nur Stoltenbergs zögerlichen Verweis auf die Verhältnismäßigkeit. Erdoğan hingegen kocht auf dem ohnehin nicht enden wollenden Elend des Krieges in Syrien sein barbarisches Süppchen und nutzt, wie auch andere Konfliktparteien in Syrien, die Lage für seine eigenen geostrategischen Ziele.“

„Doch hinter der Türkei stehen – im Unterschied zu vielen anderen Konfliktparteien – die NATO-Partner und massive Rüstungsimporte aus EU-Staaten. Es ist nicht mehr übersehbar, dass die Türkei einmal mehr zu einem Rachefeldzug gegen Kurdinnen und Kurden ausholt. Schon in der Vergangenheit wurde die kurdische Bevölkerung für terroristische Anschläge in der Türkei – auch ohne juristische Püfung – in Mithaftung genommen. Im Südosten der Türkei sind Vertreibungen und Enteignungen seit zweieinhalb Jahren an der Tagesordnung. Politische Gegner wie die HDP, werden kriminalisiert und inzwischen werden die PYD und ihr militärischer Arm, die YPG/YPJ-Truppen, auch in Nordsyrien bekämpft.“

Abschließend hält Martina Michels fest: „Wegschauen, um einerseits keine politischen Schritte zu unternehmen, den völkerrechtswidrigen Angriff auf Afrin schleunigst zu beenden und andererseits aber weiter munter Waffen in Kriegsregionen zu verkaufen, wird auf Jahre die Potenzen für friedliche Lösungen der ‚kurdischen Frage‘ und für die Lösung der Konflikte in Syrien minimieren. Letztlich ist es außenpolitische Verantwortungslosigkeit pur – von der EU, den NATO-Bündnispartnern und einer sogenannten Weltgemeinschaft – die der Ausweitung wachsender Konflikte offenbar nur noch zusieht. Nicht Aufrüstung innerhalb der EU, sondern Abrüstung und ein neues politisch-diplomatisches Zeitalter wären Zeichen der Zeit. Zum Gebot der Stunde würde eine schlussendliche Prüfung des offensichtlich völkerrechtswidrigen Angriffs der Türkei vor dem Internationalen Strafgerichtshof (ISG) gehören. Es wird Zeit, dass dieser Antrag gestellt wird.“

 

Hintergrund:

Die Türkei beruft sich bei ihrer Operation Olivenzweig – einem militärischen Angriff auf die nordsyrische Region rund um Afrin – auf das Recht zur Selbstverteidigung, nach Art. 51 der UN-Charta. In einer Einschätzung des Wissenschaftliche Dienstes des Deutschen Bundestages in einer Ausarbeitung für den Abgeordneten der Linkspartei, Alexander Neu, wird einerseits festgehalten: „Das Vorliegen eines konkreten ‚bewaffneten Angriffs‘ auf die Türkei im Vorfeld der Militäroperation ‚Olivenzweig‘ lässt sich … nicht ohne weiteres belegen“. Die unklare Nachrichtenlage tut dazu ihr Übriges und sie wird wesentlich von der Berichterstattung der Türkei mitbestimmt.

Die Türkei selbst verwendet in ihrer förmlichen völkerrechtlichen Erläuterung ihres Einmarschs Richtung Afrin nicht den Grund des ‚bewaffneten Angriffs‘ auf ihr Territorium, sondern geht von einer „terroristisch motivierten Bedrohungslage“ aus, die aus dem syrischen Bürgerkrieg resultiert. „Als Zwischenergebnis“, so das Gutachten, „lässt sich festhalten, dass Selbstverteidigungshandlungen gegen einen nicht-staatlichen Akteur wie die kurdischen YPG-Milizen völkerrechtlich grundsätzlich möglich sind. Die Türkei beruft sich in ihrem Schreiben an den VN-Sicherheitsrat vom 20. Januar 2018 auf die fehlende Kontrolle des syrischen Staates über die – vermeintlich – von Terroristen beherrschte Region in Nordsyrien. Damit untermauert die Türkei zwar argumentativ die dogmatische Begründung eines Selbstverteidigungsrechts gegen nicht-staatliche Akteure, bleibt jedoch den konkreten Beweis für das Vorliegen eines das Selbstverteidigungsrecht auslösenden ‚bewaffneten Angriffs‘ schuldig.“

Doch ohne Beweislast geht es nicht und die bleibt nicht nur die Türkei schuldig. „NATO-Generalsekretär Stoltenberg kam einen Monat nach Beginn der ‚Operation Olivenzweig‘ zu einer Lagebewertung, die eine Selbstverteidigungslage zugunsten des NATO-Partners Türkei impliziert, ohne diese Bewertung allerdings näher zu begründen“, so das Gutachten. In diesem Falle müsste die bisher fehlende Beweislast für den Angriff der Türkei nicht nur für diese, sondern gleich für das NATO-Bündnis mit, in Den Haag vor dem Internationalen Strafgerichtshof geklärt werden. Außerdem urteilt das Gutachten nach Auswertung diverser Quellen und der Lageentwicklung bis zum 7. März 2018: „Angesichts der bestehenden Zweifel am Vorliegen einer Selbstverteidigungslage nach Art. 51 VN-Charta sowie am verhältnismäßigen Vorgehen der türkischen Streitkräfte in Nordsyrien steht die Berufung der Türkei auf das Selbstverteidigungsrecht auf ausgesprochen ‚tönernen‘ Füßen.“

Konkretere Zweifel an der Verhältnismäßigkeit des militärischen Vorgehens der Türkei ergeben sich jedoch im Hinblick auf Umfang, Ziele und Dauer des militärischen Vorgehens der Türkei in Nordsyrien. Insbesondere das militärische Verfolgen der erklärten geostrategischen Ziele der Türkei – nämlich das kurdische Einflussgebiet südlich der türkischen Grenze einzudämmen, die Entstehung eines kurdischen de facto-Regimes zu verhindern und den eigenen Einflussbereich auszuweiten – gehen über ein strikt am Gedanken der Selbstverteidigung ausgerichtetes militärisches Handeln hinaus, da sie zu einer dauerhaften Veränderung von Strukturen und Einflusszonen auf fremdem Staatsterritorium führen können. Darauf deutet das taktische Vorgehen der türkischen Streitkräfte im Hinblick auf die beabsichtigte (bzw. bevorstehende) Einnahme bzw. Belagerung der nordsyrischen Stadt Afrîn hin.“