Industrie 4.0 – oder was…?
Der Artikel ist die Langfassung einer Eröffnungsrede zur Konferenz des Europäischen Gewerkschaftsbundes ETUC „Shaping the new world of work – The impacts of digitalisation and robotisation“ vom 27. – 29. Juni 2016 in Brüssel.
Digitalisierung, Big Data, Industrie 4.0, Smart factories, Advanced manufacturing, Internet der Dinge, Sharing economy … – es wimmelt von neuen Begriffen und es scheint eine wirkliche babylonische Sprachverwirrung zu herrschen über das, was da auf uns zu kommt.
Man kann es auf einen einfachen Nenner bringen: wir stehen an der Schwelle zur 4. Industriellen Revolution – mit gewaltigen Umbrüchen in Wirtschaft, Beschäftigung und Gesellschaft.
Und es wird die erste industrielle Revolution sein, die nicht auf die Produktion begrenzt bleibt, sondern erstmals auch den Dienstleistungsbereich umfassen wird. Fahrerlose Autos und U-Bahnen sowie lustige Dienstleistungsroboter sind da nur die Spitze des Eisbergs. Sie erscheinen dem unkritischen Betrachter oftmals nur als nette – weil utopische – Entwicklungen oder werden schlicht als „Spielerei“ abgetan. Dass sie menschliche Arbeit ersetzen werden, realisieren viele allenfalls auf den zweiten Blick.
Standen die letzten Jahren im Zeichen von schlanker Produktion, Flexibilität und Fortschritten bei Produktivität und Lieferbereitschaft, schwärmen nun die Protagonisten der neuen Möglichkeiten von der umfassenden Automatisierung der Produktion, „smarten Fabriken“ und der Vernetzung von Mensch und Maschine.
Was ist dieses Industrie 4.0?
Es ist ein Begriff für schnelle Veränderungen von der Konstruktion über die Herstellung, den Betrieb und die Wartung von Fertigungssystemen und Produkten.
„4.0“ meint dabei die vierte industrielle Revolution als Nachfolger von drei früheren industriellen Revolutionen, die ebenfalls Quantensprünge in der Produktivität verursacht und das Leben der Menschen auf der ganzen Welt gravierend verändert haben.
Alles in und um einen Produktionsbetrieb (Lieferanten, Produktionsanlagen, Händler, Produkt, Kunden) wird digital zu einer hochintegrierte Wertschöpfungskette. Der Begriff Industrie 4.0 ist auch schon längst bei Angela Merkel angekommen. Industrie 4.0 sei „die umfassende Transformation des gesamten Bereichs der industriellen Produktion durch die Verschmelzung von digitaler Technologie und das Internet mit konventionellen Industrie.“ (Rede bei der OECD Konferenz 19. Februar 2014)
Industrie 4.0 kombiniert und vernetzt eine ganze Reihe von teils bekannten, aber auch neuen und technologische Entwicklungen:
- Die Anwendung von Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT): Informationen und Systeme in allen Phasen der Produktentstehung und -verwendung (einschließlich Logistik und Versorgung), sowohl innerhalb von Unternehmen und über Unternehmensgrenzen hinweg zu integrieren und zu digitalisieren;
- Cyber-physikalische Systeme, die Informations- und Kommunikationstechnologien nutzen, um Prozesse und Systeme zu überwachen und zu steuern. Eingebettete Sensoren konfigurieren intelligente Roboter so, dass sie sich sofort dem gewünschten Endprodukt anpassen und additive Fertigung mittels 3D-Druck einschließen.
- Netzwerkkommunikation einschließlich Wireless und Internet-Technologien, die Maschinen, Produkte, Systeme und Personen sowohl innerhalb der Produktionsanlage, als auch mit Lieferanten und Händlern vernetzen;
- Simulation, Modellierung und Virtualisierung bei der Gestaltung von Produkten und die Einrichtung von Fertigungsprozessen;
- Sammlung von großen Mengen von Daten und deren Analyse und Auswertung entweder sofort in der Fabrikhalle oder über große Datenanalyse und Cloud-Computing;
- Große ICT-basierte Unterstützung der Beschäftigten und deren Unterstützung durch Roboter,
- Augmented Reality (erweiterte Realität) zum Beispiel in der (virtuellen) Weiterentwicklung oder Konstruktion neuer Produkte und intelligenter Werkzeuge.
Dies und der flächendeckende Einzug von Informations- und Kommunikationstechnik, sowie vor allem deren Vernetzung zu einem Internet der Dinge, Dienste und Daten ermöglicht eine Echtzeitfähigkeit der Produktion. Autonome Objekte, mobile Kommunikation und Echtzeitsensorik erlauben neue Paradigmen der dezentralen Steuerung und Gestaltung von Prozessen.
Die Fähigkeit, schnell und flexibel auf Kundenanforderungen zu reagieren und hohe Variantenzahlen bei niedrigen Losgrößen wirtschaftlich zu produzieren, wird zunehmen und so die Wettbewerbsfähigkeit derer, die in der Lage sind, sich die neuen technologischen Möglichkeiten zu erschließen noch einmal erhöhen. Neue Formen kundenintegrierter Geschäftsprozesse werden möglich.
Reine Utopie? Mitnichten! Ein Beispiel: In den Niederlanden betreibt Philips eine Rasierapparate-Fabrik. Statt ihre Produktlinie nach China zu verlagern, kaufte sie 128 Roboter, die in zwei- Sekunden-Intervallen rund 15 Millionen Rasierapparate pro Jahr aus einem Sortiment von Kleinteilen vollautomatisch produzieren. Ganz am Ende der Produktion testen 8 Frauen die fertigen Rasierer auf ihre Funktionsfähigkeit. Eine „dark factory“ – auf Licht und Heizung kann die Fabrik fast völlig verzichten; es arbeiten ja kaum Menschen dort.
Ein Siemens-Elektronikwerk in Deutschland produziert kundenspezifische speicherprogrammierbaren Steuerungen (SPS) in einer „intelligenten Fabrik“. Produktmanagement, Fertigung und Automatisierungssysteme sind integriert. Intelligente Maschinen koordinieren die Produktion und den Vertrieb von 950 Produkten mit mehr als 50.000 verschiedenen Varianten, für die rund 10.000 Materialien von 250 Lieferanten bezogen werden. Durch die Verknüpfung von intelligenten Maschinen mit datenintensiven Komponenten und Beschäftigten können Innovationszyklen verkürzt werden, die Produktivität erhöht und die Qualität verbessert werden: Das Werk verzeichnet nur noch 12 Fehler pro einer Million Datensätzen (im Vergleich zu 500 im Jahr 1989) und hat eine 99% Zuverlässigkeitsrate. („The Dawn of the Smart Factory“, IndustryWeek, Februar 2013)
Mit der Digitalisierung verbinden sich aber auch (gewerkschaftliche) Hoffnungen auf Effizienzsteigerungen, auf neue und höherwertige Tätigkeiten, eine Entlastung von körperlich schweren Tätigkeiten oder zu hoher Arbeitsintensität sowie eine größere Souveränität der Beschäftigten hinsichtlich des Ortes und des Zeitpunktes der Erbringung von Arbeitsleistungen und eine Verbesserung der ergonomischen Bedingungen.
Noch viel zu wenig werden aber die Risiken der Ausgestaltung im kapitalistischen Verwertungsprozess diskutiert: Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, die Einschränkung der Mitbestimmung, De-Qualifizierung und höhere, insbesondere psychische Beanspruchungen, forcierte Überwachung und unverhältnismäßige Leistungs- bzw. Verhaltenskontrollen von Beschäftigten und vor allem massive Arbeitsplatzverluste.
Wirschaftsvertreter und OECD-Experten zeigen sich da optimistisch. Die Digitalisierung werde zu einem Zuwachs von Arbeitsplätzen führen. Jährliche Effizienzgewinne in der Herstellung von zwischen 6% und 8% werden geschätzt. Die Boston Consulting Group prognostiziert, dass allein in Deutschland, Industrie 4.0 1% pro Jahr zum BIP in einem Jahrzehnt beitragen wird und bis zu 390.000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Weltweit schätzt ein Experte, dass die Investitionen in das industrielle Internet von 20 Mrd. US $ im Jahr 2012 auf mehr als 500 Mrd. US $ im Jahr 2020 wachsen werden. Andere Wirtschaftsvertreter erwarten einen Produktivitätssteigerung von bis zu 40 % in den nächsten 10 Jahren.
Zum Vergleich: von 1991 bis 2014 stieg die Produktivität in Deutschland pro Beschäftigten um rund 22 Prozent. Mögen die Prognosen zu hoch sein – selbst wenn das nur zum Teil eintritt, werden nach den historischen Erfahrungen die Auswirkungen für die Beschäftigung gravierend sein. Auch nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aus 2015 dürften in Deutschland mit dem digitalen Wandel in der Produktion in den kommenden Jahren deutlich mehr Arbeitsplätze vernichtet als Neue geschaffen werden.
Wissenschaftliche Studien auch aus den USA und Großbritannien gehen davon aus, dass nahezu jeder Arbeitsplatz von der Digitalisierung betroffen sein wird. (vergl. Ingo Matuschek „Industrie 4.0, Arbeit 4.0 – Gesellschaft 4.0?; eine Literaturstudie, Rosa-Luxemburg-Stiftung)
Zuviel Skeptizismus? Professor Vardi von der Amerikanischen Vereinigung für die Entwicklung der Wissenschaften warnt, es sei schwierig einen Beruf zu finden, der nicht durch Robotik und künstliche Intelligenz gefährdet sei.(Financial Times, 15. Februar 2016; vergl. „Lebenslänglich Freizeit dank Industrie 4.0?“, Thomas-Haendel.eu).
Wenn auf dem World-Economic-Forum in Davos 2016 von zu befürchtenden Arbeitsplatzverlusten in Millionenhöhe die Rede war, gehört das sicher nicht in die Sphäre von Übertreibungen – wohl eher zum Gegenteil.
Für viele klingt immer noch apokalyptisch was Jeremy Rifkin bereits 1995 schrieb: „Wir treten in ein neues Zeitalter ein, in dem die menschliche Arbeitskraft mehr und mehr durch Maschinen ersetzt wird. Die automatisierte Zukunft steht vor der Tür. Auch wenn genauere Voraussagen nur schwer zu treffen sind, so deutet doch alles darauf hin, dass zumindest in der Industrie in den ersten Jahrzehnten des kommenden Jahrhunderts kaum noch Arbeitskräfte gebraucht werden “ (Jeremy Rifkin „Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft“, 1995)
Zur Klarstellung: es kann nicht um Verhinderung oder Kleinreden gehen. Ein moderner Weberaufstand im 21. Jahrhundert wäre absurd. Schließlich hat sich historisch jede Technik – insbesondere diejenige, die ökonomisch von Nutzen und vor allem profitabel war – quasi wie eine Naturgewalt ihre Bahn gebrochen. Überlässt man das allerdings dem sprichwörtlichen „freien Spiel der Kräfte“, riskiert man einen gesellschaftlichen Tsunami.
Die Chancen für Unternehmen und Beschäftigte zu fördern und Risiken zu minimieren ist eine gewaltige gesellschaftliche und damit politische Aufgabe.
Die Diskussion über die weitere Digitalisierung im Europa Parlament befasst sich aktuell -anfänglich – mit Themen wie Big Data, Bürgerrechten, Schutz der persönlichen Daten und Urheberrechte.
Das ist gut so – aber nicht hinreichend. Noch kaum im Blick sind die Auswirkungen auf die Arbeit, die Zahl der Arbeitsplätze, auf Arbeitsbedingungen und die Arbeitsrechte
Die Gewerkschaften richten ihren Focus auf die Arbeitsgestaltung – das ist wichtig und unverzichtbar – aber nicht genug.
Die gesellschaftlichen Folgen reichen weit darüber hinaus: Sie müssen Gegenstand der politischen Gestaltung sein.
Beschäftigungs- und sozialpolitisch stehen 5 Punkte auf der Agenda ganz oben
1. Wer die Potenziale der Digitalisierung für nachhaltige wirtschaftliche und soziale Innovationen erschließen will, muss die Beschäftigten beteiligen und dafür sorgen, dass sie ihre Arbeitsbedingungen mitgestalten können. Die Mitbestimmungsrechte der Beschäftigten müssen gestärkt und ausgebaut werden, zum Beispiel bei der Einführung von neuen Technologien und Arbeitsprozessen oder bei Out- und Crowdsourcing und bei Produktions- und Unternehmensverlagerungen. Im Europaparlament verfasse ich aktuell einen Initiativbericht zur Stärkung der Mitbestimmung in Europa. Es geht um die Schaffung eines Mindeststandards von Arbeitnehmermitbestimmung auf Unternehmensebenen und die Verhinderung von Flucht aus der Arbeitnehmer-Mitbestimmung per derzeitigem europäischen Unternehmensrecht.
2. Digitalisierung braucht arbeitsrechtliche Gestaltung per Gesetz. Um die Risiken zu minimieren müssen die Beschäftigten besser abgesichert werden. Dazu sind unter anderem die Verhinderung des Missbrauchs von Leiharbeit und Werkverträgen ebenso wie der Entsendung von Arbeitnehmern nötig, aber auch Regelungen zum Mindesthonorar für Soloselbständige, zum arbeits- und sozialrechtlichen Mindestschutz bei der Gestaltung von Plattformarbeit. Angesichts immer neuer – meist prekärer – Formen von Arbeit wie z.B 0-Stunden-Verträgen, ist eine europäische Definition des Arbeitnehmerbegriffs unverzichtbar. Es geht schlicht darum, eine moderne Tagelöhnerei mit nahezu völliger Rechtlosigkeit zu verhindern.
3. Eine neue Arbeitszeit-Politik: „Flexibilisierung“ klingt noch immer nach Freiheit und Abenteuer, nach besserer Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Flexibilisierung hat aber bislang zu einer Ausweitung und Entgrenzung der Arbeitszeit geführt. Damit in Zukunft nicht nur die Unternehmen von mehr Flexibilität profitieren, muss sie mit mehr Mitsprache, sozialer Sicherung, wirksamem Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Selbstbestimmung für die Beschäftigten verbunden werden. Dafür muss der rechtliche Rahmen ausgebaut werden z.B. mit einem Rechtsanspruch bei Lage und Verteilung der Arbeitszeit, auf befristete Teilzeit und auf Nicht-Erreichbarkeit außerhalb der vereinbarten Arbeitszeiten. Work-life-time-Balance darf nicht zum Euphemismus von Arbeiten ohne Ende werden. Und – ich bin überzeugt: die prognostizierte Entwicklung der Produktivität macht auch eine neue Debatte über die Verkürzung der Arbeitszeit – besser: einer Verteilung der Arbeitszeit hin zu einer (kürzeren) Normalarbeitszeit unumgänglich.
4. Damit sich die Beschäftigten an veränderte Arbeitsbedingungen anpassen können, müssen rechtliche Rahmenbedingungen für eine langfristige, berufsbezogene Qualifizierung geschaffen werden. Dazu gehört unter anderem die Verpflichtung des Arbeitgebers, die Beschäftigten für Weiterbildungen freizustellen, mit Übernahme der Kosten und Fortzahlung des Entgelts.
Seit mehreren Jahren gibt es die Agenda der EU-Kommission „für neue Kompetenzen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten: Europas Beitrag zur Vollbeschäftigung“. Davon sind wir noch meilenweit entfernt. Die neuen Herausforderung der Digitalisierung erfordern mehr Anstrengungen. Dem versucht die Kommission mit ihrer Initiative vom April zu entsprechen. Wenn – unzweifelhaft – digitale Kompetenzen immer stärker zu den Kulturtechniken wie Schreiben und Lesen gehören werden, besteht in Europa dringender Handlungsbedarf. Das Niveau der, bei den Menschen vorhandenen, entsprechenden Kompetenzen differiert zwischen den europäischen Mitgliedstaaten erheblich.
5. Wenn aber die Zentren der vierten industriellen Revolution dort sein werden, wo heute die meisten digitalen Qualifikationen vorzufinden sind und die industrielle Infrastruktur schon jetzt hoch entwickelt ist, wird das dort sein wo heute schon die Leuchttürme der industriellen Wertschöpfung stehen. Derzeit verteilt sich die industrielle Wertschöpfung in der EU zu 30% auf Deutschland, zu 40% auf Frankreich, Italien, Spanien und Großbritannien und zu 30% auf alle 23 anderen Mitgliedstaaten. Das wird zu einem weiteren – nicht nur ökonomischen – Auseinanderdriften der europäischen Staaten führen – mit unabsehbaren politischen Folgen.
Frühere industrielle Revolutionen haben immer den Wegfall von Arbeitsplätzen in den „alten“ Produktionen durch neue Produkte, Branchen und Dienstleistungen kompensiert. Heute sind wir in der Lage mit immer weniger Menschen immer mehr zu schaffen. Es braucht also Investitionen in nachhaltige, in gesellschaftlich und vor allem gute Arbeit, von der die Menschen eigenständig leben können. Dazu sind die sogenannten „Märkte“ nicht fähig.
In diesem Prozess haben die europäischen Gewerkschaften eine außerordentlich wichtige Funktion. Hinsichtlich dieser politischen Gestaltung müssen sich die Gewerkschaften mehr denn je als Meinungsführer profilieren – und zwar über Brancheninteressen hinaus.
Von ihren Aktivitäten wird abhängen, ob die Politik in den Parlamenten und Regierungen dazu veranlasst wird, die 4. Industrielle Revolution im Sinne der Menschen zu gestalten.